Betriebsstörung oder Systemversagen?

Die Finanzkrise hat Europa erreicht. Nun geht es nicht nur um Schadensbegrenzung, sondern auch um die Frage nach Ursachen und Konsequenzen

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Kaum jemand hätte ernsthaft vermutet, dass die Pleitewelle auf den amerikanischen Finanzmärkten ohne Folgen für die Entwicklung in Europa bleiben würde. Doch seit Anfang der Woche verdichten sich die Anzeichen für eine Krise ungeahnten Ausmaßes.

Die britische Hypothekenbank Bradford & Bingley wurde an die spanische Bank Santander verkauft, die 200 Filialen und 2,7 Millionen Sparkonten mit Einlagen von über 21 Milliarden Pfund übernimmt. Die britische Regierung steht für die übrigen B&B-Anlagen im Wert von 50 Milliarden Pfund gerade, die vor allem in riskanten Immobilienkrediten geparkt sind.

Fast zeitgleich übernahmen die Regierungen von Belgien, Luxemburg und den Niederlanden für 11,2 Milliarden Euro den niederländisch-belgischen Finanzriesen Fortis, und die französisch-belgische Kommunalbank Dexia erhält eine Finanzspritze von 6,4 Milliarden Euro. In zahlreichen anderen europäischen Großbanken gehört der Begriff "Wertberichtigung" mittlerweile zum Alltag. So musste die französische Credit Agricole Wertberichtigungen von 8,7 Milliarden US-Dollar vornehmen, die Société Générale verlor bei Subprimemarktgeschäften 6,5 Milliarden, und die Schweizer UBS AG kam auf beachtliche 44 Milliarden US-Dollar.

Auch in Deutschland, wo diverse Landesbanken, die sich in der Hoffnung auf spektakuläre Renditen im großen Stil verspekuliert hatten, bereits mit Milliardensummen gestützt wurden, musste - in der Nacht nach der bayerischen Landtagswahl - ein gigantisches Hilfspaket geschnürt werden. Um den Immobilienfinanzier Hypo Real Estate vor dem Zusammenbruch zu retten, werden voraussichtlich 35 Milliarden Euro benötigt – sofern weitere Wertberichtigungen nicht noch eine weit größere Summe erforderlich machen.

Selbst Presseorgane, die nicht im Verdacht stehen, auf die baldige Weltrevolution hinzuarbeiten, sprechen jetzt von einem "Offenbarungseid für das Bankwesen" und mokieren sich darüber, dass mittlerweile sogar Kreditinstitute gerettet werden müssen, "die auf der Straße niemand kennt".

Und sind diejenigen, die sich plötzlich nach Unterstützung durch die öffentliche Hand umschauen, nicht überhaupt mit denjenigen identisch, die sich jahrelang über die angebliche Bevormundung durch einen regulierungswütigen Staat beschwerten?

Drei Säulen und "zukunftsgerichtete Stresstests" gegen „laissez-faire“

Sofern die kostenintensiven Aufräumarbeiten und der teure Versuch, weitere Katastrophen zu verhindern, den Beteiligten Zeit lassen, wird allerdings bereits versucht, die Hintergründe der Krise aufzudecken und mögliche Konsequenzen aus den offenkundigen Fehlentwicklungen zu ziehen. So stellte Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) in einer eiligen Regierungserklärung fest:

Wenn nach den Ursachen der Krise gefragt wird, dann lautet die Standard-Antwort: die US-Subprimemarktkrise. Vordergründig ist das richtig. Die eigentlichen Ursachen liegen jedoch tiefer – nämlich in einer aus meiner Sicht unverantwortlichen Überhöhung des „laissez-faire“-Prinzips, also dem von staatlicher Regulierung möglichst vollständig befreiten Spiel der Marktkräfte im anglo-amerikanischen Finanzmarktsystem

Peer Steinbrück

Steinbrück zeigte sich allerdings auch überzeugt davon, dass Deutschland von den Verwerfungen auf den internationalen Finanzmärkten nur bedingt in Mitleidenschaft gezogen wird.

In dieser größten Krise seit Jahrzehnten zeigt sich, dass das zu unserem Wirtschaftsmodell der sozialen Marktwirtschaft passende Universalbankensystem mit seinen drei Säulen der privaten Geschäftsbanken, der kommunalen Sparkassen und der regionalen Genossenschaftsinstitute wesentlich robuster ist, als es das anglo-amerikanische Trennbankensystem mit seiner überzogenen Renditefixierung war. Die vergleichsweise breite geschäftspolitische Aufstellung bewährt sich in der Krise.

Peer Steinbrück

Wie Peer Steinbrück auf den Gedanken kommt, mit Blick auf die Situation der deutschen Landesbanken, die überweisungsfreudige KfW, die ihr abstruses Finanzgebaren mittlerweile als "Lehman-Vorfall" deklariert oder die dramatische Lage der Hypo Real Estate von einer Bewährung in der Krise zu sprechen, wird wohl sein Geheimnis bleiben.

Allerdings liegt der Beschönigungsversuch der Finanzministers ganz auf der Linie der offiziellen Sprachregelung, mit der sich die Hypo Real Estate noch im Sommer um eine optimistische Sichtweise bemühte. Im "Zwischenbericht zum 30. Juni 2008" hieß es allen Ernstes und bis heute nachlesbar (vgl. dazu „Weissgarnix“ "Lesestoff für klagefreudige HRE-Aktionäre"):

Das Ziel des Liquiditätsmanagements ist es, sicherzustellen, dass die Gruppe (inklusive aller Tochterbanken) solvent und jederzeit in der Lage ist, ihren Zahlungsverpflichtungen in jedweder Marktsituation nachzukommen. Das Liquiditätsrisiko wird auf täglicher Basis überwacht, unterstützt durch zukunftsgerichtete Stresstests. Selbst unter einem worst case Szenario ist dadurch sichergestellt, dass die Hypo Real Estate Gruppe sowie ihre Tochterbanken jederzeit uneingeschränkt zahlungsfähig sind.

Hypo Real Estate

Handelte es sich hier nur um eine gigantische Fehleinschätzung, oder betrieben die Verantwortlichen eine gezielte Desinformationspolitik, um ihr eigenes Unvermögen und den nahen Zusammenbruch zu verschleiern?

Unorthodoxe Reformpolitiker der neuen Mitte

Die Diskussion über die Ursachen und Folgen hat derweil Betriebstemperatur erreicht. Werner A. Perger philosophierte bereits in der vergangenen Woche in der "ZEIT" darüber, inwieweit das Bonmot des Luxemburger Regierungschefs Jean-Claude Juncker - "Ideologien sterben, wenn die Wirklichkeit kommt" - nun von der Wirklichkeit eingeholt wurde.

Auch wenn Perger kein Mitleid mit den "ideologischen ´Pleitiers´ des Kasinokapitalismus" empfindet, befürchtet er, dass nun die Stunde der "linken Populisten" schlagen könnte. Perger sieht eine ganze Armee aufmarschieren, die sich aus "Ex-Maoisten in Holland, Altkommunisten in Schweden, Frankreich oder Spanien, Ex-Staatssozialisten und dem Ex-SPD-Vorsitzenden" rekrutiert, die aber "außer Sonntagsprüchen und Grundwahrheiten" nichts zur Lösung der Probleme beitragen kann.

Dabei betreffen diese längst nicht mehr nur anonyme Finanzmärkte und obskure Kreditinstitute. Von den Auswirkungen sind zunehmend auch Sparer, Kleinanleger und die viel zitierten Häuslebauer betroffen. So sackten in Großbritannien mit der Liquidität und Vertrauenswürdigkeit des Bankensektors auch die Immobilienpreise ab. Im August 2008 kosteten Häuser nach der Einschätzung von Branchenexperten rund zehn Prozent weniger als im August 2007. Das Eigenheim ist damit unter Umständen weniger wert als die Hypothek, die zu seiner Finanzierung aufgenommen wurde.

Der "ZEIT"-Reporter nimmt nun die "die postideologischen Sozialdemokraten und Christdemokraten Europas" in die Pflicht. Ihnen traut er zu, die Situation dauerhaft zu stabilisieren und wieder in sicheres Fahrwasser zu lenken. "Unorthodoxe Reformpolitiker vom Typ der neueren europäischen Mitteparteien", zu denen Perger ausdrücklich auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zählt, sollen dafür sorgen, dass die Errungenschaften des Sozialstaats nicht in den Strudel des Neoliberalismus hineingezogen werden.

Vergesellschaftung der Banken und eine 28-Stunden-Woche

Tatsächlich hat die seit Jahren schwelende Finanzkrise eine Linke jenseits der Linkspartei auf den Plan gerufen, welche die aktuelle Situation nicht als isoliertes Symptom, sondern als "Ausdruck der allgemeinen Krise des globalen Finanzkapitalismus" und Ergebnis seiner Funktionslogik interpretiert. Conrad Schuhler und Leo Mayer vom Institut für Sozial-Ökologische Wirtschaftsforschung führen die Schieflage der Weltwirtschaft darauf zurück, dass die Massenkaufkraft nicht mehr mit der Produktivität der Realwirtschaft mithalten kann und so "ein immer größerer Teil des gesellschaftlichen Mehrwerts in den Finanzsektor fließt".

Eine Verstaatlichung der Banken lehnen Schuhler und Mayer gleichwohl ab, da die Kreditinstitute weiterhin der Verwaltung durch die "politischen Eliten des Neoliberalismus" ausgeliefert wären, die ihre Aufsichtspflicht ja gerade vernachlässigt hätten. Stattdessen sollen die Banken vergesellschaft und einem breiten demokratischen Kontrollprozess unterworfen werden.

Zunächst einmal gibt es die Vertretungen der jeweiligen Belegschaft. Es existieren darüber hinaus gewerkschaftliche Organe, Arbeitsloseninitiativen, soziale Bewegungen aller Dimensionen, von Initiativen für die Dritte Welt bis zur Entwicklung regionaler Genossenschaften, örtliche und überregionale Sozialforen, kommunale Einrichtungen, Verbraucherorganisationen usw., die vom Interesse, von der Sachkenntnis und ihrem sozialen Gehalt her prädestiniert sind, bei den Entscheidungen der Banken eine wichtige Rolle zu spielen.

Conrad Schuhler / Leo Mayer

Mit Reformbemühungen haben diese Vorschläge nur noch am Rande zu tun. Schuhler und Mayer geht es darum, "einen sozialen und politischen Kampf gegen das Finanzkapital aufzunehmen", dem die "Verfügungsmacht über die gesellschaftlichen Ressourcen" so schnell wie möglich entrissen werden soll, um dann eine Neudefinition der gesellschaftlichen Arbeitsteilung vorzunehmen.

Die AG ("Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik") rechnet vor, dass wir es - bei derzeitigem Bruttoinlandsprodukt und derzeitiger Arbeitsproduktivität - mit einem Arbeitsvolumen von 56 Milliarden Arbeitsstunden zu tun haben. Würde man dieses Arbeitsvolumen auf die 44 Millionen Erwerbstätigen aufteilen, käme man (rein rechnerisch, die exakte konkrete Zahl wäre abhängig von der realen Neuorganisation des "gesellschaftlichen Gesamtarbeiters") bei 45 Arbeitswochen auf eine individuelle Wochenarbeitszeit von rund 28 Stunden. Wir könnten also, Stichwort: Kurze Vollzeit für alle, rein rechnerisch auf Vollbeschäftigung mit Voll-Arbeitszeit - 28 Wochenstunden - bei einem auskömmlichen Lohn kommen.

Conrad Schuhler / Leo Mayer

Netzwerke und Lobbyisten

Wer weder den selbsternannten Reformpolitikern der neuen Mitte traut, noch der vollständigen Entmachtung des Finanzkapitals zustimmen möchte, bleibt darauf angewiesen, mühsam nach kleinteiligen Lösungen zu suchen und die Verantwortlichen für fehlerhafte Weichenstellungen auf vielen unterschiedlichen Ebenen auszumachen.

Das Geschäft ist mühsam, wie zuletzt die Initiative LobbyControl feststellen musste. Denn Transparenz gehört zu seinen wichtigsten Vorraussetzungen, und eben die ist kaum noch gegeben und von den wenigsten politischen Mandatsträgern gewünscht.

Den jüngsten Beweis für diese These lieferte die Bundesregierung selbst, die ihren ersten "Bericht zum Einsatz externer Mitarbeiter in der Bundesverwaltung " zwar beauftragen und im Haushalts- und Innenausschuss des Bundestages diskutieren, aber vorerst nicht an die Öffentlichkeit geben wollte.

Diese Aufgabe übernahm ein bekanntes Nachrichtenmagazin, doch die Mühe erwies sich im wesentlichen als vergebliche Anstrengung. LobbyControl und andere Nicht-Regierungs-Organisationen haben nicht nur erhebliche Zweifel an der Vollständigkeit des Berichts. Sie kritisieren darüber hinaus, dass sich die Bundesregierung nur sehr bedingt an ihre eigene Verwaltungsvorschrift hält und trotz entsprechender Richtlinie weiterhin zulässt, dass Vertreter der Privatwirtschaft in Bereichen eingesetzt werden, welche "die Geschäftsinteressen ihrer entsendenden Stellen betrifft".

LobbyControl beschreibt drei Fälle, von denen der erste für das hier diskutierte Thema von besonderem Interesse ist.

Im Bundesfinanzministerium ist seit Juni 2007 ein Mitarbeiter des Bundesverbandes der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenkassen (DZ-Bank) mit “Grundsatzfragen des Finanzplatzes Deutschland und der europäischen Finanzmarktintegration” befasst. Ein Mitarbeiter von BASF ist auf Referentenebene “zum Zweck des Informations- und Erfahrungsaustausches” im Bereich Anlagensicherheit im Bundesumweltministerium eingesetzt.

Im Gesundheitsministerium beschäftigt sich die Projekt- und Teamleiterin Gesundheitspolitik der Bertelsmann-Stiftung mit “Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik [und] Gesamtwirtschaftlichen Aspekten des Gesundheitswesens”. Bertelsmann betreibt u.a. das Centrum für Krankenhausmanagement (CMK), das sich für Privatisierungen im Gesundheitssektor einsetzt.

LobbyControl

Die vielfältigen Möglichkeiten, die sich aus dieser Zusammenarbeit ergeben, wurden bereits im Oktober 2006 dokumentiert und veranlassten den Bundesrechnungshof im April 2008 zu der eindringlichen Mahnung, “Einsätze in Bereichen mit dem Risiko von Interessenskonflikten” künftig auszuschließen.

Gleichwohl ist es im Laufe der Jahre offenbar dem Bundesverband Deutscher Banken, dem Bundesverband Investment und Asset Management und dem Bundesverband Öffentlicher Banken Deutschlands, der Deutschen Börse, der Deutschen Bank und der Deutschen Zentral-Genossenschaftsbank AG, der Dresdner Bank, der HSH Bank, der Kreditanstalt für Wiederaufbau und dem Zentralen Kreditausschuss gelungen, verdiente Mitarbeiter im Bundesfinanzministerium unterzubringen.

Dass der Weg auch umgekehrt - von der politischen Bühne in die Vorstandsetagen der Großkonzerne - beschritten werden kann und immer wieder beschritten wird, versteht sich von selbst, auch wenn die Übernahme von Mehrfachfunktionen nicht immer so glatt funktioniert wie im Fall der Bayerischen Landesbank, die zur Hälfte dem Freistaat und zur Hälfte den Sparkassen gehört.

Sie hat gleich sechs Plätze im Aufsichtsrat für drei Staatsminister, einen Staatssekretär, einen Ministerialdirektor und den Oberbürgermeister von Regensburg freigehalten. Ob sich hier - oder in den ebenfalls vom "Lehman-Vorfall" betroffenen Landesbanken LBBW und HSH Nordbank - jemand persönlich verantwortlich fühlt, wenn die Kreditinstitute, wie vielfach vermutet wird, bis zum Jahresende mit weiteren astronomischen Beträgen gestützt werden muss, bleibt abzuwarten. Wahrscheinlich ist es nicht.