"Das Unrecht für alle dokumentieren"

Die israelische Menschenrechtsinitiative "Machsom Watch"

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Rund fünfhundert Frauen beobachten zweimal täglich 34 israelische Kontrollposten in den besetzten palästinensischen Gebieten. Es sind israelische Frauen. Mit dem Ziel, Palästinenser zu beschützen – vor den israelischen Soldaten. Ein Gespräch mit Roni Hammermann von der Nichtregierungsorganisation "MachsomWatch", die vor kurzem mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurde.

Machsom ist Hebräisch und bedeutet Grenz- bzw. Kontrollposten. Täglich stellen Sie und Ihre Mitstreiterinnen sich an diese Posten, um eventuelle, von israelischen Soldaten begangene Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Warum stehen Sie genau dort?

Roni Hammermann: Weil die Checkpoints das sichtbarste Symbol einer Politik der Besatzung und Unterdrückung sind. Es gibt die physische Art, die Palästinenser zu kontrollieren. Indem man sie zwingt, stundenlang in der prallen Sonne auszuharren. Indem man Kindern die Hände auf dem Rücken fesselt. Indem man Schwerkranken den Durchlass zu den vielleicht nur wenigen Metern entfernten Krankenhäusern verweigert oder Schwangere nötigt, auf der Erde zu entbinden.

Zumindest Letzteres hat aufgehört, seit wir an den Checkpoints stehen. Aber es gibt auch die psychische Methode. Palästinenser verlieren ungeheuer viel Zeit ihres Lebens durch diese Politik. Sie müssen stets auf irgendetwas warten. Studenten und Schüler verpassen ihre Vorlesungen und Prüfungen, Geschäftsleute ihre Termine. Das ist mehr als Schikane, es ist perfide: Die Palästinenser werden so buchstäblich ihrer Lebenszeit beraubt.

Was versuchen Sie dagegen zu tun?

Roni Hammermann: Wir gehen zwei Mal täglich an die Checkpoints. Wenn es zu Gewalt kommt, stellen wir uns vor die Palästinenser und dokumentieren alles in Berichten auf unserer Website. Zusätzlich verfassen wir einen Jahresbericht. Mit dem, was wir beobachtet haben, wenden wir uns an die Armee, die Knesset, an Menschenrechtsorganisationen und natürlich an die Medien.

Weshalb besteht MachsomWatch nur aus Frauen?

Roni Hammermann: Weil wir weder von den Soldaten noch von den Palästinensern als Bedrohung angesehen werden. Mittlerweile sind wir zu einer Institution geworden. Die Soldaten versuchen nicht mehr, uns zu verjagen.

MachsomWatch wurde in 2001 gegründet – ein Jahr nach dem Ausbruch der zweiten Intifada.

Roni Hammermann: Nach dem Osloer Friedensabkommen 1993 herrschte unter israelischen Friedensaktivisten eine Zeit lang die Illusion, dass Friede möglich wird. Wir wollten nicht wahrhaben, dass die israelische Regierung diesen gar nicht wollte, sondern stur ihre Besatzungs-, Expansions- und Siedlungspolitik weiter verfolgte. Das Erwachen kam mit der zweiten Intifada, die viel gewalttätiger ausbrach als die erste Intifada Anfang der Achtziger.

Damals rebellierten die Palästinenser praktisch nur, indem sie Steine warfen. Nun aber begannen die Selbstmordattentate, die ein schwerer Schock für die israelische Gesellschaft waren. De facto verdrängt diese gerne die Leiden, ja die ganze Existenz der Palästinenser in ihrer Wahrnehmung. Bis zur ersten Intifada waren die Palästinenser für viele Israelis so eine Art Arbeiterkulisse. Schattenfiguren, die für sie auf dem Bau malochten. Erst nach dem Ausbruch des Aufstandes schienen sie sie wahrzunehmen, nach dem Motto: „Was ereifern die sich denn plötzlich?“ Ab den Selbstmordattentaten aber hieß es, „wir müssen sie zerstören“. Und das hat die israelische Regierung ja auch versucht – ich erinnere allein an die Bulldozer, die wie blindwütig durch die palästinensische Stadt Jenin gewalzt sind. Und es war nicht der einzige „Vorfall“ in ihrem unverhältnismäßigen Schreckensfeldzug.

Gerade Checkpoints aber gelten der israelischen Regierung zufolge als wirksames Mittel, um die Selbstmordattentate zu verhindern, zumindest zu reduzieren.

Roni Hammermann: Das Gegenteil ist der Fall. Diese Erniedrigungen und Ungerechtigkeiten erzeugen immer mehr Wut und Wunsch zur Gegengewalt. Zumal jedem, der sich die Landkarten anschaut, klar wird, was das eigentliche Ziel ist: die wenigsten liegen an den Grenzen, sondern tief in den Palästinensergebieten. Allein zwischen Oktober 2006 und April 2007 errichtete die Armee zusätzliche 121 „Flying Checkpoints“, die meisten davon in der nördlichen Westbank. Dadurch sollen deren Städte und Dörfer auseinandergerissen und die illegalen Kolonien der israelischen Siedler weiter zu Oasen ausgebaut werden. Die elf wichtigen Städte und Gemeinden der Westbank werden voneinander durch 149 israelische Siedlungen getrennt. Während die Siedler barriefrei und mit allem Komfort leben, wissen die Palästinenser kaum, wie sie von ihrem Haus zu ihrem Obsthain kommen, haben 200 ihrer Dörfer nicht einmal Wasser – und das nach 41 Jahren Besatzung.

Immer mehr Checkpoints werden an private Sicherheitsfirmen outgesourct

War die Unbarmherzigkeit der israelischen Besatzung, die letztlich zur zweiten Intifada führte, der Auslöser für Sie und drei weitere Israelinnen, sich erstmals an die Checkpoints zu stellen?

Roni Hammermann: Ich bin zweifache Mutter – meine Kinder sind inzwischen erwachsen. Als ich damals in der Zeitung las, dass Schwangere an den Checkpoints entbinden müssen, war ich entsetzt. Und weil viele dieser Soldaten im gleichen Alter wie mein Sohn sind – der übrigens sozial aktiv ist - und mir diese Verrohung der israelischen Jugend unerträglich erschien, wollte ich etwas dagegen tun. Mittlerweile sind wir fünfhundert Frauen, die meisten sind Mütter.

Den Anstoß, die Dinge zu dokumentieren und zu veröffentlichen – sodass niemand später sagen kann, er habe es nicht gewusst – haben Sie einem anderen Familienmitglied zu verdanken.

Roni Hammermann: Meinem Großvater. Er war ein orthodoxer ungarischer Jude, der zusammen mit seinem jüngsten Sohn in Auschwitz umkam. Vor seiner Ermordung soll er einen jungen Lagerinsassen angefleht haben, zu überleben, damit er der Außenwelt berichten kann, was in dem Konzentrationslager passiert. Der Betreffende hat es tatsächlich geschafft und ist nach Kriegsende zu meiner Mutter gereist, um ihr alles zu erzählen. Das habe ich als das Vermächtnis meines Großvaters an mich gesehen. Sei aufmerksam, sieh hin, was passiert und vor allem: schweige nie, wenn Unrecht passiert.

Die israelische Regierung ist dabei, die Checkpoints zu privatisieren. Mit welchen Auswirkungen rechnen Sie – auch für die Arbeit von MachsomWatch? Droht nun doch der Mantel des Schweigens sich auszubreiten?

Roni Hammermann: Dass immer mehr Checkpoints im Outsourcing-Verfahren an private Sicherheitsfirmen übergeben werden, ist tatsächlich Anlass zur Sorge, da es die Regierung für brutale Vorgehensweisen aus der Verantwortung nimmt. Natürlich befürchten wir nun ein israelisches „Blackwater“ und haben unter anderem bereits Fälle von Frauen dokumentiert, denen die Passiergenehmigung verweigert wurde, nachdem sie sich nicht nackt ausziehen wollten.

Besonders schlimm für uns ist, dass wir nicht wissen, wem wir unsere Beschwerden vortragen sollen, wenn die israelischen Behörden als Ansprechpartner wegfallen. Aber das ist nur und nur noch mehr ein Grund, aufzupassen. Die Besatzung lässt sich schließlich nicht privatisieren.