"Das System ist am Tipping Point"

Für den Physiker Didier Sornette war die Finanzkrise prinzipiell vorhersehbar

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Prof. Didier Sornette provoziert die Finanzwissenschaft mit der Behauptung, Kursentwicklungen an der Börse seien in bestimmter Weise vorhersagbar Mit statistischen Verfahren, die ebenfalls in der Erdbebenforschung verwendet werden, hatte er 2004 den Höhepunkt der US-Immobilienblase korrekterweise auf Mitte 2006 gelegt. Zurzeit sei das Finanzsystem an seinem kritischen Punkt, dem Tipping Point, an dem kleine Ursachen große Wirkungen haben können. Im Interview spricht der Inhaber des Lehrstuhls für Unternehmerische Risiken an der ETH Zürich zu Ursachen und Mechanismen der Finanzkrise.

Wie schätzen Sie den Finanzmarkt zurzeit ein?

Didier Sornette: Ich habe meine Aktienanteile vor etwa einem Jahr verkauft. Es ist klar, dass man zurzeit nicht im Markt sein will, da wir eine Kaskade des Vertrauensverlustes erleben. Es ist wie zu der Zeit, wenn alle überoptimistisch sind und sich eine Finanzblase bildet. Nun ist jeder überpessimistisch. Das ist Herdenverhalten. Vor kurzem rief mich meine Mutter an, ob ihre Freunde all ihr Geld von der Bank holen sollten. Das wäre natürlich wahnsinnig, denn wenn das jeder macht, kollabiert das ganze Finanzsystem. Die Banken funktionieren ja gerade dadurch, dass sie das Geld, das wir bei ihnen deponieren, nicht behalten, sondern verschieden reinvestieren, um die ganze Wirtschaft flüssig zu halten.

Was sollte getan werden?

Didier Sornette: Es braucht ein sehr starkes Antibiotikum. Politiker müssen Maßnahmen wie sehr starke Regulationen verabschieden. Technisch sind diese viel weniger effektiv, als oft gedacht wird, aber ihre Hauptaufgabe ist es, Vertrauen wiederherzustellen.

In Ihrer Forschung haben Sie Skaleninvarianz in Börsendaten gemessen. Zunächst einmal, was ist Skaleninvarianz?

Didier Sornette: Skaleninvarianz bedeutet, dass ein System sich selbst ähnlich aussieht, wenn man es auf verschiedenen Größenskalen betrachtet. Wir nennen solche Systeme oft Fraktale. Zum Beispiel ist die Küste der Bretagne fraktal. Wenn man sich eine Landkarte in verschiedenen Auflösungen anschaut, sieht man immer die gleiche Art verworrener Rauheit. Kursentwicklungen in Finanzblasen sind diskret skaleninvariant. Das bedeutet, Eigenschaften bleiben nur für spezifische Vergrößerungsfaktoren gleich. Matrjoschkas sind ein Beispiel für diskrete Skaleninvarianz, denn die größeren Figuren unterscheiden sich von den kleineren nur durch einen spezifischen Vergrößerungsfaktor.

Soziale Hierarchien beeinflussen Börsenkurse

Ermöglicht Skaleninvarianz die Diagnose von Finanzblasen?

Didier Sornette: In der Wirtschaftswissenschaft gibt es einen großen Disput, was eine Blase eigentlich ist. Man sagt, es sei ein exponentiell wachsender Preis. Aber in der Wirtschaft wächst alles exponentiell. Wir sagen, eine Blase ist etwas, das schneller als exponentiell wächst. Das bedeutet, dass das Wachstum selbst wächst. Dieses superexponentielle Wachstum ist natürlich von einem Rauschen überlagert. Aber in diesem Rauschen finden wir eine Regelmäßigkeit, die einer sich beschleunigenden Schwingung entspricht. Und man kann zeigen, dass es tatsächlich eine fraktale Struktur gibt, beschrieben durch spezifische Vergrößerungsfaktoren. In den Börsendaten finden wir das diskrete Äquivalent der Skaleninvarianz der Küste der Bretagne im Zeitbereich, wenn man so will.

Was könnte die Ursache der Skaleninvarianz von Finanzblasen sein?

Didier Sornette: Eine Ursache könnte sein, dass die sozialen Netzwerke von Aktienhändlern und Investoren hierarchisch organisiert sind. Meine Kollegen haben dafür zunehmend Hinweise. Also man hat zwei oder drei sehr enge Personen um sich herum, dann typischerweise neun bis zehn Sympathieträger, auf einer höheren Ebene etwa 30 Personen, noch höher etwa 100 usw. Es scheint einen diskreten Vergrößerungsfaktor von drei zu geben. Tatsächlich ist das jetzt auch nicht nur für Menschen, sondern auch für Säugetiere gezeigt worden. Das ist ein anschauliches Beispiel für diskrete Skaleninvarianz in sozialen Netzwerken.

Wie würden solche sozialen Hierarchien den Finanzmarkt beeinflussen?

Didier Sornette: Wir treffen Entscheidungen ja nicht wie ein Computer, sondern werden von den Nachrichten, Gesprächen mit Mitarbeitern, Austausch im Web usw. beeinflusst. Wenn man sich vorstellt, dass es eine Art Imitation gibt, wirkt sich die hierarchische Organisation des Sozialen schon auf Kaskaden von Aktienkäufen aus. Diese Interaktionen sollten sich im Preismuster zeigen.

Wie könnten fraktale Preisentwicklungen noch entstehen?

Didier Sornette: Skaleninvarianz kann auch dynamisch in einem System entstehen, das a priori nicht skaleninvariant ist. Dazu gibt es drei Zutaten. Erstens Trägheit; die Tatsache, dass Investoren die Vergangenheit im Blick haben müssen, um heute Entscheidungen zu treffen, die morgen Auswirkungen auf den Markt haben werden.

Die anderen Zutaten sind zwei konkurrierende Marktstrategien. Die eine heißt Fundamentalanalyse. Dabei wird eingeschätzt, wie sehr eine Aktie gegenüber ihrem Fundamentalwert überbewertet ist. Das Problem aber ist, dass man den Fundamentalwert praktisch unmöglich einschätzen kann, weil Märkte stochastisch und komplex und damit sehr ungewiss sind. Bei der Chartanalyse wird auf Trends geschaut, die dann extrapoliert werden. Aber auch Trends sind nicht offensichtlich. Beide Marktstrategien führen dazu, dass man sich im Markt erst bewegt, wenn ein bestimmter Grenzwert erreicht ist, wenn eine Aktie klar überbewertet oder ein Trend klar identifiziert ist. Investmententscheidungsprozesse sind also nichtlinear.

Die Kombination dieser drei Zutaten führt zu diskreter Skaleninvarianz, da es zu Oszillationen kommt, deren Frequenz sich in dem Maß hierarchisch beschleunigt, wie die Preisentwicklung in Blasenregimen sich beschleunigt.

Instabile Systeme können schnell in die eine oder andere Richtung kippen

Können Finanzblasen mit der Fraktalmethode früherkannt werden?

Didier Sornette: Früh nicht, aber in ihrem Verlauf. Der Patient muss sozusagen klare Anzeichen einer Erkältung zeigen, um eine Erkältung diagnostizieren zu können. Wir haben den Höhepunkt der britischen Immobilienblase ein Jahr vorher klar diagnostiziert, ebenso zwei Jahre vorher bei der US-Immobilienblase, deren Höhepunkt wir korrekt auf Mitte 2006 gelegt hatten.

Kann man sagen, wie lange eine Blase halten wird, bevor sie implodiert?

Didier Sornette: In der Tat ist das die große Frage. Zum Beispiel hat Alan Greenspan im Herbst 2004 seine berühmte Warnung ausgesprochen, dass der Markt sich überhitzt. Die Blase hielt aber noch vier Jahre stand. Das ist das große Problem der Arbitragehändler und Fundamentalanalysten. Wenn sie einen Wertverlust erwarten und entsprechend handeln, können sie ihr Hemd verlieren, denn die Blase kann noch Jahre halten. Wir brauchen also eine Methode um abzuschätzen, wie nachhaltig eine Preisentwicklung ist. Das ist es, denke ich, was wir zu den bestehenden Methoden beisteuern können.

Wie üblich ist fraktale Analyse im Finanzsektor?

Didier Sornette: In der Finanzwissenschaft ist die Methode entweder nicht bekannt, oder es wird sich geweigert, sie ernst zu nehmen. Ein Grund dafür ist, dass sie sich stark vom Standardansatz unterscheidet. Ein Hauptgrund ist aber sicherlich, dass die Behauptung, erfolgreich diagnostizieren und vorhersagen zu können, politisch unkorrekt ist, würde ich fast sagen. Aber unter Fachleuten und in Banken ist unsere Arbeit gut bekannt, würde ich sagen.

Wie lange wird die Krise anhalten?

Didier Sornette: Das ist sehr schwer vorherzusagen, denn das System ist am Tipping Point. Wir lernen aus der Art mathematischer Modelle, wie wir sie entwickeln, dass solche instabilen Systeme auf den Flügelschlag eines Schmetterlings in die eine oder die andere Richtung kippen können. Es gibt eine sehr starke Empfindlichkeit und Empfänglichkeit für kleine Dinge. Mein Eindruck ist jedenfalls, dass wir einen großen Kater erleiden und dass es eine Weile dauern wird, das System zu reinigen. Ich denke, dass das System bis nach 2009 leiden wird.