Wann kommt die Bankrott-Erklärung der Vierten Gewalt?

Wir haben der Freiheit kein Preisschild gegeben

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Ein Weltreich (die Sowjetunion) und ein Staat (die DDR) kollabierten im vergangenen Jahrtausend. Dieses beginnt mit der Bankrotterklärung der größten Banken. Wann gestehen Verlage und Sendeanstalten, dass sie nicht mehr als Informationsplattform für mündige Bürger in einer Demokratie dienen, als Kontrollinstanz der Mächtigen, als Vierte Gewalt?

Telepolis wies darauf hin, dass es gerade jene vermeintlich "kritischen" TV-Magazine waren, die „zur Vorratsdatenspeicherung gröbere Falschinformation lieferten als die Privatsender" ("Falsch, schlecht und übel!"). In der Lebensmittelbranche bezeichnet man mit dem beschönigenden Wort Surimi Fischabfälle, die mit Lebensmittelfarbe und Formpressung das Aussehen edlen Sushis bekommen. Die ganze Aufregung um Marcel Reich-Ranickis Programmkritik bleibt Debatten-Surimi, wenn nicht analysiert wird, was die betriebswirtschaftlichen Gründe dafür sind, dass investigative Journalisten eine vom Aussterben bedrohte Spezies sind. Journalisten, die hinterfragen, die in der tagesaktuellen Hektik inne halten und sagen: Moment mal! Diese Journalisten gibt es immer weniger. Und dies hat betriebswirtschaftliche Gründe.

Der ehemalige Stern-Chefredakteur Michael Jürgs kritisierte in der FAZ „das Regime der Flanellmännchen“, also der Controller. Doch dies greift zu kurz. Wir haben nämlich oftmals nicht penibel aufgeschrieben, wie viele Stunden es uns gekostet hat, Studien und Fachaufsätze zu lesen. Aber: nur, wer mehr weiß, als der Konzernvertreter/Politiker und sein PR-Mann, der kann auf Augenhöhe mit Experten sprechen und wirklich Missstände aufdecken oder Schönfärberei als solche entlarven. Die alten Doyens des „Spiegel“, die inzwischen leider in Rente sind, haben so gearbeitet. Das klingt nur nicht so sexy und so hat mancher Kollege deshalb mehr mit „Geheimpapieren“ angegeben als mit der eigentlichen Arbeit: stundenlangem Lesen. Kämen heute die Reporter, die den Watergate-Skandal aufdeckten, mit ihren Analysen aus der Library of Congress in die Redaktion eines deutschen TV-Magazins, sie bekämen zu hören: Wer soll denn das alles lesen?

Wir lächelten über diejenigen, die eine Stechuhr bedienten. Hätten wir Investigativen auf Stechuhren bestanden, wäre bekannt, wie viel Arbeit wir geleistet haben. Und geleistete Arbeit muss bezahlt werden. Auch wenn dies inzwischen von manchen als kuriose Äußerung belächelt wird.

Es ist schon erstaunlich, wie rasch die von Jürgs als Flanellmännchen Gescholtenen sich auf „Kunst“ berufen (denn die ist ja bekanntermaßen brotlos), wenn man als Journalist einfach mal deren Arbeit macht und buchhalterisch auflistet, wie viel Arbeit in einem Artikel oder einem Fernsehbeitrag steckt.

Wir sollten alle wie die Flanellmännchen sein und eine Rechnung aufmachen. Wir haben der Freiheit bislang kein Preisschild gegeben.

Große, namhafte Verlagshäuser zahlen € 50 für Artikel und schämen sich nicht. Hätten wir eine Stechuhr, könnten wir ausrechnen, dass die Reinigungskräfte in diesen Häusern mehr verdienen, als diejenigen, die Gesetze analysieren oder öffentlich machen, wie Unternehmen Politiker und Bürger belügen und immer neue Millionen vom Steuerzahler fordern.

Die Vierte Gewalt ist pleite. Niemand hat den Mumm, dies einzugestehen

Es lohnt sich betriebswirtschaftlich nicht mehr, für namhafte Magazine im Fernsehen zu arbeiten. Fernsehmann Friedrich Küppersbusch erläuterte die Gründe, die dazu führten. Er schrieb in seinem Artikel für die Zeit, wie sich Freie in das öffentlich-rechtliche Fernsehen einklagten. Daraufhin führten die Sender die sogenannte Prognose ein, also ein Cap, eine Beschränkung der Arbeitszeit. Wer sich daran gehalten hätte, dem wäre es so gegangen wie freien Journalisten heute – man wäre verhungert. Also beschlossen Festangestellte und Freie im gegenseitigen Einvernehmen, sich in die Tasche zu lügen oder, um Küppersbusch zu zitieren:

Praktisch erzeugte der langjährige Brauch eine alchimistische Geheimwissenschaft der atomisierten Arbeit. Da wurde angemeldet, an einem Tag recherchiert, gedreht, geschnitten und getextet zu haben, damit die Arbeit eines Monats in die Arbeitszeit einer Woche paßt. Würde man so arbeiten, wie man es abrechnet, würde man bald nichts zu arbeiten mehr bekommen.

Dies ging eine ganze Weile gut. Denn es wurde die faktisch geleistete Arbeit bezahlt, nicht die, die auf dem Papier stand. Dann aber ging es darum, Geld einzusparen: für Sport, Shows, Verwaltung, Festangestellte und um die Gebührendebatte zu überstehen. Nun schlossen Branchenfremde und Festangestellte einen Pakt – die einen wussten es nicht besser und die anderen erklärten nicht das Lügensystem, das Existenzen sicherte. Und so kam es, dass sich Branchen-Ahnungslose die Prognosemeldungen ansahen. Dort fanden sie dann das, was Küppersbusch in dem „Zeit“-Artikel beschrieben hatte: die Alchemie, die Angabe, TV-Beiträge seien in einem Tag entstanden oder in einer Woche, und dafür kassierten die Autoren zwischen DM 5.000 und DM 20.000.

Jedem Fernsehmacher ist natürlich klar, dass Stücke für ein investigatives TV-Magazin mitnichten in einer Woche, sondern in mindestens sechs Wochen, oder bei besonders heiklen Fragen - manchmal in einem Vierteljahr entstehen. Außerdem ist noch einmal dieselbe Zeit notwendig, um als freier Journalist in Konkurrenz zu Redaktionen überhaupt ein solches Thema auszugraben. Davon realisiert man im Jahr vielleicht mit Glück und Erfahrung vier Stück. Und dann bekommen DM 20.000 plötzlich eine ganz andere Dimension. Doch diese Erklärung gaben die Festangestellten nicht. Sei es, weil sie schon immer neidisch waren auf die Freien, die die spannenden Stücke mit der großen Außenwirkung machten, sei es, weil sie ihre Position in Gefahr sahen, sei es aus Ignoranz.

Die freien Journalisten wurden nicht gefragt, oder sie schwiegen, weil ihnen die betriebswirtschaftliche Konsequenz nicht klar war, oder sie fürchteten, sie würden nicht mehr beschäftigt werden. Doch dieses Schweigen führte genau dazu: Es kam zur massenhaften Enteignung einer ganzen Zunft. Von einem Tag auf den anderen wurde für dieselbe Arbeit nur noch ein Bruchteil gezahlt: € 2000 bis € 3000. Der Arbeitsaufwand blieb aber derselbe: sechs Wochen bis ein Vierteljahr. Und das bei Lebenshaltungskosten, die sich verdoppelt hatten, und einer Halbierung bis Einzehntelung des Einkommens. Und so kam es bei denjenigen, die betriebswirtschaftlich dachten, zur Verseichtung der Arbeit, es wurde eben nur noch so viel Zeit in ein Stück gesteckt, wie bezahlt wurde. Statt aufwändig recherchierter Stücke gibt es rasch realisierbare Beiträge, die optisch umsetzen, was tagesaktuell ist. Für diejenigen, die aber den alten Qualitätsmaßstäben huldigen, führt diese Arbeit in die Armut.

Es wird Zeit, dass dieses Prinzip debattiert wird. Es wird Zeit, dass sich jemand traut zu sagen: Der Kaiser trägt keine Kleider. Er ist nackt. Das System der Prognose basiert auf einer Lüge. Diese sollte einmal Journalisten ihr Einkommen sichern. Und hat sich in das Gegenteil verkehrt. Verwaltungs- und Rundfunkräte sowie Politiker müssen dies wissen. Um eine echte Entscheidung treffen zu können.

Hochgerüsteten PR-Abteilungen in Behörden und Konzernen stehen heute schlecht bezahlte freie Journalisten gegenüber. Unsere Gesellschaft wurde einmal gegründet auf der Annahme von "checks and balances", daraus wurden Schecks und Bilanzen. Bleibt die Aufgeregtheit um Reich-Ranicki bloße Show? Oder machen wir´s wie die Flanellmännchen? Machen wir einmal eine Rechnung auf.

Ein „Spiegel“-Artikel kam zu dem Schluss, dass Demokratie weltweit unattraktiver werde. Sollte dies auch in Deutschland bei Verlegern und Sendeanstalten inzwischen Konsens sein, dann allerdings machen die sogenannten Honorare für freie Journalisten Sinn. Wer die 4. Gewalt und ihre Rolle nicht wertschätzt, braucht nicht zu bezahlen. Wie viel ist uns die Freiheit wert?