Die Qualität der Medien ist intermedial

Jenseits von Google, Teleprompter und Karaoke

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Marcel Reich-Ranicki, Jg. 1920, hat mit seiner Deutscher-Fernseh-Preis-Verweigerung eine Debatte über die Qualität der Medien angestoßen.

Aber wo und wie? Ausgerechnet im Fernsehen. Und an der Nahtstelle von privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern. Die Debatte muss aber breiter und komplexer geführt werden, nämlich intermedial. Wie steht es um die Medien Buch, TV, Internet? Was können sie, je für sich oder im Verbund leisten? Wo liegen die heutigen Potentiale der Qualität, im Inhalt, in der Form oder im Gebrauch, in der Kultur oder der Technik? Die Schlüsselworte heißen Intermedialität und Multimedialität. Und sie sind keineswegs auf die Computer- und Internetkultur begrenzt. Derzeit scheint sich eine Konvergenz zwischen der älteren Buch- und Lesekultur und der vielschichtigen, auf allen möglichen Plateaus abspielenden Internetkultur abzuzeichnen. Die Fernseh-Kultur, wenn es je eine war, gerät in deutlich in die Defensive.

Reich-Ranickis telegene Verweigerung

Das Internet ist in seiner ständig innovativen Technologie und rasch ausgeweiteten Kapazität so heiß gelaufen, dass es dem Fernsehen mit seinen ewig gestrigen, wenn auch aufpolierten Formaten trotz seiner High-Definition in den Augen der jüngeren Generation den Rang abgelaufen hat. Man mag diese Behauptung als plakativ zurückweisen, aber der derzeitige soziale Modus der TV-Rezeption hat mit Zuschauen als konzentriertem Verhalten kaum mehr etwas zu tun, er ist Zerstreuung im schlimmsten Sinne, ein Zappen und Zappeln, die sich selbst bei konstantem Kanal unausweichlich einstellen. Die am meisten Aufsehen erregenden Phänomene und besonders prägnanten Medienerlebnisse, die uns noch berühren, sind durch so weit gespannte Bezüge aufgeladen, denen eher Bücher, Bibliotheken und digitale Dateien beikommen, als kurzatmige News und Gags. Sie finden am Rand des Fernsehmediums, am Horizont der auf Aktualität eingestellten Kanäle statt.

Screenshot: ZDF Mediathek

Marcel Reich-Ranickis Weigerung im TV, den Fernsehpreis für sein Lebenswerk als Literaturkritiker und -vermittler anzunehmen ist ein solches Ereignis. Reich-Ranicki ist alt genug, um respektvoll gehört zu werden, und jung genug, um anderen den Respekt mit Grund zu verweigern. Sein Verhalten ist zugleich konsequent und inkonsequent. Es findet in dem Medium statt, dem er sich nun verweigert. Ein intra- und extramediales Paradoxon erster Güte. Das Nein! und die Blödsinns-Schelte des weisen Halbstarken werden als Höhepunkte wahrgenommen, und das mitten auf einer Ja-Sager-Veranstaltung der öffentlich-rechtlichen und der privaten Sender, in der jeder um seinen Sendeplatz auf der Quotenleiter kämpfen muss.

Reich-Ranicki war es, der die trockene Literaturkritik zur temperamentvollen Fernsehshow machte, und die Leser und vor allem Käufer mit seiner nicht immer amüsanten und oft plakativen Rechthaberei dressierte. Dieter Bohlen, Jg. 1954, ist die Trivialausgabe eines solchen leitmedialen Chef-Nörglers und Ausnahme-Lobers. TV- und Buch-Quote gehen bei beiden eine einträgliche Allianz zugunsten des Geschäfts und nicht unbedingt im Namen der Bildung ein. Kanon und Trash liegen ökonomisch so weit nicht auseinander.

Intermedialität als Schlüsselkategorie

Dabei gibt es noch ein Leben vor und nach dem Fernsehen, vor allem für eine Figur wie Reich-Ranicki. In Sachen Literatur ist er selbst eine Art Suchmaschine und ein Hellboy aus einer anderen, vielen verstellten Welt, der auch gerne verquer urteilt und verwirft, was Kollegen mögen. Aber das ganz normale Leben wird von den digitalen Medien zunehmend aufgesaugt. Und die Qualitätsdebatte hat noch gar nicht richtig angefangen. Sie muss Sender-, Medien- und Technik-übergreifend und im behutsamen Vergleich geführt werden. Das Zauberwort heißt: Intermedial.

Die Hauptthese. Die Qualität und Relevanz der Medien und ihrer Inhalte sind allein inter- und multimedial und im permanenten Wandel hinreichend zu erfassen. Dabei haben viele ältere Unterscheidungen ihre Trennschärfe verloren, wie: Öffentlich-rechtliche und kommerzielle Verfassung, Publizität und Privatheit, Information und Bildung versus Unterhaltung und Werbung/Public Relation, oder: Kultur versus Technik, Soft- versus Hardware , Inhalt versus Form. Zum Teil werden die angegebenen Paare und Pole neu zusammengesetzt und umdefiniert. Dabei werden die kleinen und großen Reviere der Medienplatzhirsche gefährdet. Und die Klischees haben oft eine differenzierte Rückseite.

GOOGLE – DOOF?

Eine andere Baustelle: Print gegen Internet. Der Spiegel parodierte auf seinem 33. Titel dieses Jahres das Google-Layout mit der Frage: "Macht das Internet Doof?". In der Titelgeschichte ging es um das mittlerweile oft diskutierte copy-and-paste-Phänomen. Insbesondere Schüler und Studenten, aber auch Erwachsene, Normalos und Freaks, Akademiker, Politiker und Experten scheinen im Rahmen der Internet-Info-Gesellschaft zu passiven Konsumenten vorgeschriebener Texte und Daten degradiert zu werden. Lebendige Menschen als ameisenförmige Opfer von immer weiter aufgeblähten Riesendateien. Zur Not ist dies auch eine nützliche Ausrede. Das beste und peinlichste Beispiel war Colin Powells (Jg. 1937) Rechtfertigung des Irakkrieges 2003 vor der UNO durch die Blaupause einer dilettantischen Magisterarbeit aus Großbritannien.

Allesamt plappern sie nur noch nach, was Google, Yahoo, Wikipedia, Amazon und andere Riesen ihnen liefern oder Redaktionen und Medienbearbeiter entsprechend vorkauen. Universitäre Promis wie Norbert Bolz (Jg. 1953) haben schon längst die Jagd auf gefälschte Hausarbeiten und getürkte Referate aufgegeben. Dabei kann umgekehrt durch Fälschungsjäger ein Tippfehler im Satz – bei Google eingegeben – bereits die Quelle entlarven, aus der mehr oder weniger gedankenlos abgeschrieben, nein, nur geistlos kopiert wurde. Suchmaschinen erhalten bald multithematische Text-Synthese-Komponenten und dann wäre mit einem Knopfdruck die aktuelle Magisterarbeit fertig. Dasselbe Medium, einmal zur exakten Recherche und dann zur Verdummung einer ganzen jungen Generation? Aber, warum gibt es Spiegel auch online?

Postman: Bildung durch Buch und Schule

Neil Postman, Jg. 1931, eine andere große Figur des deutschen Buchhandels, weigerte sich bis zu seinem Tode 2003 grundsätzlich, im Fernsehen als Macher einer Sendung aufzutreten. Im Kampf Buch gegen TV war er felsenfest davon überzeugt, im Fernsehen lerne man nichts, sondern werde nur bis zum Erbrechen unterhalten: „amused to death“. Die aktive Anteilnahme an der großen Geschichte der USA und Europas, die Perspektiven eines politischen, sozialen, kulturellen und technischen Fortschritts in allen seinen Risiken und Chancen seien an die klassische Bildung, verstanden als Schul-Buch-und-Lesekultur geknüpft. Eine öffentlich und privat betriebene Schulung und Unterweisung der Kinder und Jugendlichen in einer geschützten und verlängerten Kindheit und Jugend stand unter dem Gesetz des Buchstabens - zwischen literarischer Phantasie und rhetorischer Logik und Argumentation nach dem Vorbild großer politischer Ansprachen und buchförmiger Essays. Dies war für Neil Postman das große unverzichtbare Bildungsmodell auch für das 21. Jahrhundert. Der kurzatmige Minuten- und Sekundentakt von TV-Werbung, Nachrichtenbildern und Actionfilmen spätestens seit den 80er Jahren führte für ihn allein zur Verwirrung und zum Sinnverlust in einer übersättigten und letztlich doch desorientierten Gesellschaft. Dabei übersah er, dass Bilder wie Buchstaben eine eigene Logik haben und dass alle Zeichenarten in allen Medien passiv oder auch inter-aktiv aufgenommen werden können. Aber er hatte Recht, dass das Fernsehen tendenziell immer stärker so abläuft.

Triumph und Zerfall der Öffentlichkeit – Drift der Erlebnis-Milieus

Was bedeuten diese ersten Befunden für die Vorstellung der linksliberalen Nachkriegsintellektuellen von einer lebendigen sozialen und politischen Öffentlichkeit in Deutschland? Auf der aktuellen Frankfurter Buchmesse 2008 beeindruckte der Historiker Hans-Ulrich Wehler, Jg. 1931, mit seiner fünfbändigen „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“, die 1700 zwischen Feudalismus und Reform beginnt und mit dem Betritt der DDR-Länder in die vergrößerte Bundesrepublik 1990 (vorläufig) endet. Er lobt in diesem letzten Band die kritische Öffentlichkeit westdeutscher Intellektuellen, die in Anlehnung an Frankreich, England und USA die schon von Aufklärern wie Lessing und Kant geforderte Diskussionskultur zur politischen Selbstverständlichkeit erhoben hätten. Eine niveauvolle Diskurs- und Streitkultur, die sich auf Bücher, Artikel, aber auch Ausstellungen, Aufführungen, auf politische Debatten und Demonstrationen, auf den Journalismus, aber auch auf die elektronische Öffentlichkeit des Fernsehens und der Nachrichten stützt. Ingo Schulze, Jg. 1962, der aus der DDR stammende Literat, hat dagegen eingewendet: Die Unterdrückung durch die DDR-Oberen der SED und die Stasi sei in der erweiterten Deutschland-AG durch die Chefsätze der Bosse kleiner und großer Unternehmen ersetzt worden. Von der kritischen Macht der vierten Gewalt vermag er auf dem Basar der geschickt erzählten Wahrheiten kaum etwas zu spüren.

Nach dem alten Diskurs der Einheits-Partei und der Unternehmenskollektive sei die marktorientierte Schönrednerei im Firmenteam angesagt. Jürgen Habermas, Jg. 1929, hat in den letzten Jahren bereits die Erosion der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit der BRD in den Blick genommen. Er fordert die Bestandserhaltung des Printbereichs von Zeitungen und Zeitschriften im Rahmen der kritischen und sachhaltigen öffentlichen Kommunikation aus den Überschüssen z.B. des TV-Sektors. Angesichts solcher Überlegungen wird deutlich, dass der vor allem unterhaltsame Verbund von TV und Internet längst die regulierende Informations-Kraft der Printmedien infrage stellt. Die so genannte große Arena der Öffentlichkeit ist in zahllose Teilpublika und Communities mit diversen Meinungslagern zersplittert, die mehr oder weniger aneinander vorbeileben. Man muss diese Lager nicht gleich zu Parallelgesellschaften verteufeln oder ghettoisieren. Viele Überlappungen von Interessen sorgen für liebsame und unliebsame Begegnungen, Allianzen und Konfrontationen von Repräsentanten zunehmend inhomogener Lebens- und Medienkreise. Daraus ergibt sich ein modifizierter Befund zu Gerhard Schulzes (Jg. 1944) „Erlebnisgesellschaft“.

Durch die multimediale Transformation der TV- und Erlebnisgesellschaft zur Vielzahl von Internet-Communities werden die Erlebnismilieus einer immer stärkeren Drift, Aufspaltung und Umschichtung unterworfen: Die aussterbende ältere Niveau-Milieu der Hochkultur derer, die sich im Sinne der Nachkriegsgesellschaft zwischen 1945-1990 für die Elite von Bildung, Gesellschaft und Politik halten, es fusioniert zum Teil mit dem neureichen Milieu der Erben und der Aufsteiger in Medien und Wirtschaft seit 1980, die vom Unterhaltungs- und Technikmilieu zwischen TV und Internet affiziert sind, das politisch engagierte Integrations-Milieu der alten und der neuen Parteien und Bürgerbewegungen wandelt sich zum technokratischen Karriere-Modell, das Harmonie-Milieu der familienorientierten Durchschnittsbürger in der finanziell attackierten Mittelschicht wird zum Defensiv-Modell weiter ausgebaut, auch gegenüber den alternden, kreativ orientierten Singles der 80er Jahre, deren Milieu der Selbstverwirklichung immer stärker in Subkulturen zersplittert und von zunehmenden Altersrisiken der Distanz und Vereinsamung durchzogen wird, schließlich die stärker wachsende Zahl von sozialen Randexistenzen, die in einem passiv erfahrenen Unterhaltungsmilieu allein nicht überleben können.

Beerdingung der Buchkultur: E-Book und Bleibuch

Am Horizont der Frankfurter Buchmesse 2008 droht bereits die Einführung des E-Book 2009 durch Sony und Amazons Kindle auch für literarische Produktionen und damit die Unterwanderung und Neubündelung der bisherigen deutschen Buch-, Zeitungs- und Zeitschriften-Welt zu einer elektronisch flexibilisierten „E-Ink“-Präsentation. Junge und alte Leser freunden sich mit den Möglichkeiten an, jederzeit und überall, auch am hellen Tag nur ein buchförmiges Gerät mit verschiedenen Buch- und Artikel-Texten in beliebiger Großschrift und sogar mit virtuellen Eselsohren dabeihaben zu können, um ihre Literarizität zu demonstrieren. Es drohen einmal wieder die Lockerung der Buchpreisbindung und der sicherlich keineswegs hinreichende Schutz aktueller Inhalte per (Billig-) Distribution und Raubkopie.

Dagegen hat die Verleihung des Friedenspreises des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels an den bildenden Künstler Anselm Kiefer, Jg. 1945, geradezu depressiv-rückwärts gewendete Züge. Die Bibliothek wird als ein Urbild von Kiefer noch einmal in spätromantisches Blei gegossen, als unlesbare, nicht mehr aufklappbare Skulptur einer katastrophisch verzerrten Erinnerung an die alten deutschen Mythen und Märchen. Selbst aus der von Liberalität und demokratischem Aufbruch durchwehten Paulskirche macht Kiefer in seiner Dankesrede eine Tropfsteinhöhle reaktionären Gedenkens, in der sich die geschriebenen Worte der politischen und poetischen Kultur und der malerischen Moderne zu den Sedimenten einer düsteren, irgendwie braunen Natur auflösen. Was hier mit dem Friedenspreis bedacht wurde, war die Friedhofsruhe der deutschen Öffentlichkeit vor dem digitalen Ansturm, eine Art Selbstbeerdigung des guten alten, immer wieder quicklebendigen Buchhandels. Die bildende Kunst als Fetisch eines angeblich auslaufenden Mediums das Symbol seines Überwinterns? E-Book und Bleibuch, zwei seltsame Parallel- und Kontrastereignisse.

Qualität der Medien – zwischen kultureller und technischer Funktion

Es ist zunächst nur unterhaltsam, aber scheinbar wenig informativ, wenn ein Literaturkritiker während der Gala der Fernsehpreisverleihung die geballte Masse an mehr oder weniger trivialer Unterhaltung mit dem Killerargument „Blödsinn“ belegt. Ja, Recht hat er, aber irgendwie sprengt er die Schau, bei der er selbst mitmacht. Vielleicht sind aber die Kollegen nur sauer, dass er früher gehen konnte und sie sich den Mist der anderen noch länger anhören und anschauen müssen, um zu applaudieren.

Screenshot: ZDF Mediathek

Aber, was ist damit für das Niveau der Medien gesagt? Aus der intermedialen Perspektive trennen sich die Ebenen: Reich-Ranicki ist der ins TV-Milieu erfolgreich abgedriftete und doch seinem Ursprung nicht völlig untreu gewordene Verfechter und Propagandist der literarischen Hochkultur. Ein ganzes Bündel von multimedialen Argumenten fächert sich hier aus: das Buch-Privileg, der Stolz des langjährigen Partners ZDF zwischen Anspruch und Unterhaltung, die Aversion gegen die privaten Konkurrenten mit ihren harten Trivialmonopol. Auch bei seinem Gala-Coup hat Reich-Ranicki vor allem Unterhaltungswert als TV-Darsteller, und ein Postman würde ihm das rigoros ankreiden. Die Kritik am TV vor einem allseits mitspielenden Profi-Publikum ist immer noch ein Triumph des Fernsehens, weil der Skandal rasch mit der Quote multipliziert wird. Und die Verkaufsquote eines im TV gezeigten oder besprochenen Buches ist noch lange keine Lesequote und kein Bildungs- oder Aufklärungs-Indikator. Nachdem der erboste Gast fort war, gab sich Gottschalk erleichtert, man sei wieder unter sich. Auch dies spricht dafür: Die Qualitätsdiskussion sollte sich nicht nur an einzelne Medienkreise, Produkte und Produktionen heften, sondern auf die Möglichkeiten der Medien überhaupt richten. Sonst bleibt es bei Grabenkämpfen, wie sie sich derzeit abzeichnen, von Elke Heidenreich bis Monika Piel. Daher mag folgende Differenzierung weiter helfen:

  1. Die grundsätzlichen technischen Funktionen: Medien sind Systeme, in denen bestimmte Daten in bestimmter Form der Kommunikation, Aufzeichnung, Speicherung, Verarbeitung und Verbreitung verwendet werden.
  2. Die grundsätzliche soziale Verteilung und Beteiligung: Die Benutzung der Daten und Medien durch Sender und Empfänger ist entweder nur wenigen, oder vielen oder allen Menschen möglich/erlaubt. Medien sind in ihrer Nutzung einseitig oder wechselseitig, massenweise oder individuell, passiv oder interaktiv. Sie werden exklusiv oder demokratisch verwendet.
  3. Die historisch entwickelten Medien: Körper (mit Stimme, Mimik, Gestik), die natürliche Sprache, die Architektur, Papier und Tinte, Druck, Fotografie, Film, Morsezeichen/Funk, Radio, TV, PC/Internet. Sie ermöglichen unterschiedliche technische Möglichkeiten der Aufzeichnung, Speicherung, Verarbeitung und Verbreitung und Rezeption von Daten unter Aufstellung oder Beseitigung bestimmter sozialer Chancen und Privilegien.
  4. Die technische Nutzung entwickelt in jeder Medienepoche eine Eigendynamik auch für die kulturelle Nutzung.
  5. Mit der technischen Funktionsweise sind Optionen oder Risiken für kulturelle Funktionen verbunden. Medien sollen helfen, beim Kommunizieren, Informieren, Aufklären, Bilden, Erziehen, Unterhalten (KIABEU). Diese kulturellen Funktionen können entmischt oder verzahnt werden, sie implizieren immer weitere spezifische Möglichkeiten, echte und falsche Bedürfnisse, Ziele und Mittel, Werte und Normen, die sowohl die Aufmerksamkeit lenken als auch zur Beurteilung des Gesehenen, Gehörten, Vermittelten und dabei Erlebten oder Nichterlebten herangezogen werden. Die angedeuteten Funktionen werden heute durch ein permanent werbeförmiges Verhalten der beteiligten Akteure auch außerhalb von Werbeblöcken überlagert. Quizsendungen sind Neidsendungen und keine Bildungsbeiträge. Es geht eben darum, Millionär zu werden oder daran zu scheitern.

Das Qualitätspotential ergibt sich aus dem aktuellen Zusammenspiel der Akteure, der Produzenten und Rezipienten. Sie wissen mehr oder wenig darüber Bescheid, dass die eingesetzen Medien bestimmte Nutzungsweisen ermöglichen oder blockieren: die grundlegenden technischen Funktionen, die sozialen Verteilung ihrer Anwendung und Kontrolle und den sich daraus ergebenden kulturellen Nutzen und Schaden für die am medialen Prozess Beteiligten.

Buch: Die hohe Kunst des Lesens

Aus dieser Sicht kann die Qualitätsdiskussion in Umrissen so geführt werden: Gedruckte Bücher und die journalistisch schnellere Produktion von Zeitungen und Zeitschriften erlauben dem Leser bei ausreichender Allgemeinbildung und vor allem Eigenständigkeit von Geschmack und Urteil als Individuum und im Verbund mit anderen Lesern auf der Basis einer öffentlichen oder privaten Bibliothek das Medium der einfach unterhaltsamen, der gehobenen poetisch-literarischen oder sachlich-argumentativen Sprache bzw. gedruckten Schrift ausführlich zu verfolgen. Und zwar werden im selbst gesteuerten Lese- und Verstehenstempo, im beziehungsreichen Vor- und Zurückblättern das inhaltliche Angebot, die Logik und die Komposition eines Textes (durch Anmerkungen und Exzerpte unterstützt) entziffert und vor dem geistigen Auge des Lesers aufgebaut. Mehr oder weniger komplexe Inhalte, Verweise und Anspielungen erlauben es, verschiedene Bücher, Texte und Artikel durch Intellekt und Emotion, Vergegenwärtigung und Erinnerung in Verbindung zu bringen. Neben dem Akt des aktuellen Lesens eigener oder fremder Schrift oder Druckbuchstaben ist das Schreiben, Notieren und Aufzeichnen ein weiteres wichtiges, ebenfalls dialogisches Medium, um Querbezüge herzustellen und festzuhalten.

Carl Spitzweg: Der Bücherwurm

Die mündliche Kommunikation und das naive Leseerleben erhalten auf diese Weise ein stringent formuliertes Rückgrat von Kommentaren, Themen, Thesen, Argumenten, Zitaten, Beispielen und Bildern. Das unmittelbare Erlebnis und der erste Eindruck von Unterhaltung, Motivation und Interesse, die „Lust am Text“ (Roland Barthes), all dies ist die positive Urform von Spaß, der sich von Reich-Ranickis „Blödsinn“ abhebt. Der Spaß kann je nach Situation in eine stringentere Kommunikation, Information und Aufklärung überführt werden, bei der sich alle Partner und Parteien gegenseitig im spielerischen Wettbewerb um das bessere und einleuchtendere Argument bilden, erziehen, aufklären und dabei Regeln zu diesem Spiel aufstellen.

Das Buch, von der materiellen Distribution bis zu seinem schulischen oder kollektiven Gebrauch, ist ein Massenmedium, vom Trivialmedium bis hin zum Exklusiv- und Expertenmedium, aber es hat aber auch starke Züge eines Individualmediums (iMedium) im Hinblick auf eine spezialisierte inhaltliche Produktion und Rezeption, die deutlich zunimmt, wenn der Rezipient sich vom passiven Ablesen zum aktiv verstehenden, nachvollziehenden oder kritisch distanzierenden und konträren, widersprechenden Lesen übergeht. Diese Lesehaltung kann aber auch auf triviale Formen der Buch- und Printkultur und auf andere Medien übertragen werden.

Diese Lesekultur ist eine intermediale und multimediale Kompetenz mit erheblicher Spannbreite. Auf diese Weise wird deutlich, dass das Lesen eine aktive, ja interaktive Form der zeichenhaften Modellbildung und des phantasievollen und logischen Verstehens ist, die mit dem Verstehen von bereits Geschriebenem und der Weiterentwicklung von noch zu Schreibendem eng verbunden ist. Lesen ist eine produktive Form der Rezeption, auf der Suche nach einem aufschlussreichen Entwurf. Lesen kann aber auch das passive Ablesen und Durchmustern eines vorhandenen Schemas sein.

Der inneren Aufführung durch das stille intellektuelle und kreative Lesen oder das eigene laute Vorlesen stehen Radiovorträge, Hörspiele und Hörbücher entgegen: Diese verkörpern in unterschiedlicher Regie- und Vortragsqualität die auditive Oberfläche der textlichen Partitur, die gelegentlich auch empfindlich in der Länge oder in ihrem Sinn entstellt wird. Die eigene Verstehensleistung wird ersetzt durch den anfänglichen angenehmen, in der Folge zunehmend abstumpfenden Konsum. Nur in der Minderzahl gelingt des den Sprechern von Audiobooks, den feinen Nuancen eines Textes mit einer changierenden Stimme unaufdringlich zum Ausdruck zu verhelfen, meistens verfallen die Sprecher in ihr markenförmiges Stimmtimbre und Betonungsklischee. Entscheidend für den Hörer ist, dass er nicht länger als Leser die freie Zeiteinteilung bei der Rezeption der Zeichen hat, sondern dass er sich an das theaterförmige Lesetempo des Hörbuches bindet und damit seine Passivität zunächst erhöht wird, es sei denn, es gibt Freiräume und Kunstpausen, Ton- und Tempovarianten, Brüche und Zäsuren, oder der Hörer spult den Vortrag stellenweise zurück, um sich sein eigene Hör- und Verstehenserlebnis zusammenzuclippen. Mit der Technik des Clips und der Wiederholung sind wir bereits im Niemandsland zwischen MTV und YouTube angelangt. Die Idee des iPod und des YouTube sind daher wegweisend für die eigenstilistische Auswahl und egosynthetische Zusammenstellung von neuen überschaubaren, lebendig prägnanten Medieninhalten durch das heutige multi- und intermedial seine Welt aufsaugende und verdauende Individuum.

TV: Wir tapezieren uns zu Tode

Das traditionelle öffentlich-rechtliche Fernsehen, das private TV und die hinzu gekommenen Themen-, Sparten-, Kommerz und Pay-TV-Kanäle haben das Massenmedium Fernsehen Schritt für Schritt in seiner massenweisen Logik bis an den Rand der doch nicht vollzogenen kompletten digitalen Individualisierung ausdifferenziert. Es handelt sich dabei um die Telepräsenz, die Präsenz des Abwesenden, um die Darstellung und Verarbeitung der Ferne als Nähe, die auch mit der Trennung von Sender und massenweisen Empfängern verbunden ist. Diese Produktion wurde im Laufe der Jahrzehnte weitergeführt und zunehmend abstrahiert und formalisiert, sowohl bei den Live-Sendungen wie den vorproduzierten Produkten. Die frühe elektronische Phase umfasste die für die Zuschauer ortsunabhängige, streng zeitgleiche und nach einem Programm-Takt befristete Versendung von audiovisuellen Live-Ereignissen vor Ort oder vorab aufgenommenen Konserven, Nachrichten, Dokumentar- und Spielfilmen aus aller Welt oder Kommentare, Debatten sowie Unterhaltungsshows aus dem Studio. Mit der massenweisen Verbreitung der Videotechnik entfiel die Fixierung der Zuschauer in kopräsente Gemeinschaften. Heute befindet sich das TV in der digitalen Phase der immer stärker zeitunabhängigen Abrufbarkeit von bewegten Bildern und Tönen mit mehr oder weniger großem Aktualitätscharakter und relativ schwacher Lokalisation.

Live-Ereignisse werden in den 90er Jahren reflexiv, in mehrfach aufgestellten und einsehbaren Monitoren bebildert. Die Guck-Guck-Welt frisst die Ereignisse, aber auch die klassischen Koordinaten der Einheit von Raum, Zeit und Individualität. Die Verfilmbarkeit und Zerlegbarkeit der Welt wird zum globalen Filmmontagepuzzle, den „8 Blickwinkeln“, ohne ein Jenseits hinter den Kulissen zu kennen. Das heutige TV ist also längst informatisiert und leugnet doch die Verbindung zum Computer, der den TV-Monitor überflüssig machen würde. Die Sendung, selbst wenn sie live ist, gleicht eher dem Abruf aus einer großen Datenbank mit zahlreichen Alternativen. Man vergleiche nur einmal die inhaltliche und theatralische Intensität der ersten TV-Bundestagswahl-Debatten zwischen den Vertretern der Parteien 1972 und die brave Abgeklärtheit der öffentlich-rechtlichen und zugleich privaten TV-Kanzler-Kandidaten-Duelle 2002 und 2005, die auch mit der US-amerikanischen Routine noch nicht mitkommen.

Die Durchschlagskraft von 9/11 und der anschließenden Kriegs- und Terrorszenarien hat das heutige TV-System erschüttert, aber nicht zum Einsturz gebracht. Die Dauerkrise des deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehens seit der Gründung des PrivatTV durch Politiker von Parteien, die gerne in allen Aufsichtsräten, denen der Qualität und der Quote sitzen, ist eher herbeigeredet. Wenn überhaupt, geht es weniger um die Frage der Qualität und als der kommerziell verwertbaren Erweiterung des Spektrums von Dienstleistung und Unterhaltung als Infotainment und Trivial- und Brachial-Entertainment in einem postindustriellen Land mit gravierenden Beschäftigungsproblemen. Publikumsausbeutung und Goldgräberei liegen nah beieinander.

Durch MTV Europe 1987 - mit dem avantgardistisch angehauchten Spirit in New York und London - und dem im Golfkrieg 1990/91 von ARD und ZDF zugeschalteten CNN erlebten die jüngeren Zuschauer ein neues globales und flexibilisiertes Fernsehen jenseits des Wiedervereinigungs-Waaaahnsinns zwischen ARD, ZDF und BILD: einerseits die Macht der Dauerberieselung durch beliebig viele Bild-Ton-Music-Clip-Konserven und auf der anderen Seite einen Hardcore-Live-Event in der Absenz und Präsenz der Medien im internationalen Vergleich. Der Golfkrieg blieb im deutschen Fernsehen zunächst unsichtbar und gezielt zensiert. Er war ein Live-Ereignis zwischen den Sendern, im Modus der plötzlichen audiovisuellen Abweichung, Störung und dann wieder in Überraschungsattacken aufblitzenden Katastrophe. Der Angriff der Koalition auf Bagdad, kommentiert von Peter Arnett, ein latentes 24-Stunden-Ereignis, das vom Schema der üblichen Tagesnachrichten-Berichterstattung nicht erfasst und immer nur verzögert nachinterpretiert wurde. So geriet das deutsche Fernsehen produktiv außer Kontrolle. Die Phase ist in mancher Hinsicht durchaus mit den Pioniertaten der 60er und 70er Jahre, mit den bestimmten Brückenschlägen zwischen TV und dokumentarischer und Kino-Spiel-Film-Ästhetik zu vergleichen.

In der heutigen Angleichung und Nivellierung der öffentlich-rechtlichen und privaten sowie spartenförmigen Sendungen und Programmmuster hat sich das deutsche Fernsehen in seiner massenmedialen Abstraktionsform weitgehend auf ein provinzielles Niveau der heute digital möglichen Info-, Entertainment- und Bildungskultur mit niedlichen Setzkastenformaten zurückgezogen. Wenn man so will, parodiert das TV verzweifelt in allgemeiner Form die ver-I-podisierung und ver-I-google-ung der Internetsträume: von SAT 1, ich drück dich, zu iARD, iZDF, iRTL. †überall wird der Zuschauer in der ersten Reihe als Superstar und JediPausenClown, Pro7 sei Dank, gefeiert. Riskante Ereignishaftigkeit und umfassende Objektivität wurden gezielt ausgefiltert. Wo sie übrig blieben, sind sie vordergründig dem Versagen oder Übertreiben vor allem der Moderatoren, im Glücksfall dem produktiven Widerstand bestimmter Reporter und Redakteure zuzurechnen. Das defensive Diktat der Quote ist nicht allein in zahllosen flachen Inhalten und den anheimelnden Darstellungsweisen von Schauspielern, Comedians, Regisseuren, Kamera-Abfilmern und Moderatoren sowie VIP- und Normal-Gästen zu finden (selbst Ausnahmen bestätigen die Regel), sondern in der Fiktion des universellen Wohnzimmers, das die Globalität unserer Welt auf ein steriles Mittelmaß im studiohaften Überall herunterfährt. Es herrscht die routinierte Langeweile von Telepromptern, Reklametexten, Standardbekenntnissen und Karaoke vor.

Wenn Karl Lagerfeld Manieren zur Schau stellt und zur Begrüßung einer Dame von Welt eigenmächtig aus Gottschalks Wetten-Dass-Wohnzimmer-Sofa-Ensemble aufsteht, weil Carla Bruni, die Gattin des eitlen Medien-Präsidenten Sarkozy, als Werbeträger ihrer eigenen CD herannaht, ist dies genau so lächerlich wie Wetten-Dass-Gottschalks gekonnt joviales Gehabe, mit dem er Niveau und Niveaulosigkeit durch die eine bauernschlaue Mangel dreht, während sich der alternde Mike Krüger im ersten Programm im Spielfilm-Serien-Format geradezu als transfriesischer Feingeist profiliert. Die endlosen Einrichtungssendungen, in denen alte Wohnsubstanz in ein völlig austauschbares, werbewirksames Spießerdesign überführt wird, sind Metaphern für dieses schöne neue verschachtelte, aber welt-und-lebens-fremde Fernsehen als Bilderradio: „Wir tapezieren uns zu Tode.“ Wohnzimmerförmige Bebilderung der Bilder aus der Welt als Beruhigungsmittel in permanenten Krisenzeiten, während etwa Kanzler Schröder den eigenen Rückzug als Notwendigkeit der Auflösung eines ganzen Bundestages inszeniert. Dagegen steht der aufgeraute Staccato-Rhythmus der iPod-und-YouTube-Clicks-and-Cuts, der Weltpuls einer neu mobilisierbaren Generation, die es derzeit noch unter den Headsets und Earphones hält, bis der Aufstand gegen die verschlafene Dienstleistungswelt kommt.

Die Manns – ein Jahrhundertroman

Angesichts solcher produktionslogischer Verflachung des Mediums Fernsehen bei gleichzeitiger fortgeschrittener digitaler Technik ist Marcel-Reich-Ranickis Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung des Mediums Literatur als INHALT im Fernsehen von jenem kulturellen und medialen Fehlschluss durchdrungen, auf den Postman in seiner TV-feindlichen Haltung zu Recht aufmerksam gemacht hat. Literatur im bestehenden Medium Fernsehen wird auf die derzeitige Produktionslogik reduziert und zu einer seltenen, angeblich hochgefragten Ware aufgebauscht. Alle sagen brav ihre Texte auf. Die von Reich-Ranicki gelobte Verfilmung der Geschichte Familie Thomas Manns (Heinrich Breloer: „Die Manns – ein Jahrhundertroman“ 2001) war eine behäbige, gut besetzte Kolportage-Verfilmung, bei der für die Zuschauer und die Köchin der Braten, der in der Röhre schmorte, wichtiger sein sollte, als was Thomas Mann als Problemvater am Tisch seiner Familie zu sagen hatte.

Und ähnlich klebrig drohen zumindest manche Szenen aus der neuen Buddenbrooks-Verfilmung (wiederum Breloer 2008) zu werden. Was die Sache mit „Shakespeare“ betrifft, so führt die Internet Movie Datebase, ihn als Drehbuch- oder Theaterautor (writer) in über 700 Film- und TV-Produktionen, die freieren und modernisierten Variationen und Abwandlungen wie „Shakespeare in Love“ nicht eingerechnet. Es sieht so aus, also ob Goethes und Schillers bekannte Bewunderung für Shakespeare (und seine zweifelsfreie Überlegenheit) tiefere Gründe hat: die poetische Wildheit, Zartheit, Besessenheit und messerscharfe Logik dieses Autors scheint bis heute ungeheuerliche Schau- und Renommierwerte für Theater, Film und Fernsehen an den Knotenpunkten von Inhalt und Form abzuwerfen, an die viele andere Drehbücher und Adaptionen einfach nicht heranreichen. Angesichts zahlloser anderer Literaturverfilmungen kann man nicht nur ausrufen: Filmemacher und Fernsehleute, strengt euch endlich an! Die Frage ist, in welchem Referenzrahmen. Sondern vielmehr auch: Marcel Reich-Ranicki und Co., wir brauchen mehr gute Literatur, Drehbücher und Konzepte, die auch interessant verfilmbar und medial umsetzbar sind! Schlagt nach bei Shakespeare. Und fördert Leute wie Christopher Nolan, der selbst aus „Batman“ bereits in zwei Teilen ein philosophisches Ideendrama gemacht hat, von dem andere Superhelden nur träumen.

Qualität im Internet: individuell vernetzbare Dateien und Interaktionen

Seit 1993 hat sich auch in Deutschland auf kommerziellem Wege eine Internetkultur ausgebreitet, die sich deutlich von der Idee eines hundert- oder tausendfachen TV-Kanalprogramms entfernt hat. Der heutige User ist extrem aktiv, spielerisch und zugleich wählerisch geworden. Er hat ein enges Zeitbudget bei extrem weitgestreuten Themen und möglichst freiem Datenzugriff. Daher verlangt er nach schneller, punktgenauer Suche. Andererseits ist er auf der Suche nach erhellenden Zufallsfunden. Endlos werden in einer Netzsitzung zu Hause oder unterwegs Fenster geöffnet und Links gespeichert, um Verkettungen und Vergleiche zu Themen zuzulassen. Schriftzeichen, Schlagwörter, Zahlen, Bilder, Töne werden gleichberechtigt als Daten, Links und Hypertext auf dem Suchweg aufgerufen. Die Freiheit der Graffitis der 80er Jahre kehrt nun zurück in den Cyberspace, das Wort Tag gehört gleich mehreren Kulturen an, es ist Such- und Stammeszeichen im virtuellen Raum. Unter den Datenbanken und Netzwerken im Internet gibt eine Tendenz zur zunehmenden Flexibilisierung und Atomisierung sowie transformativen Umprägung. Einmal gibt es Textarchive, wie das Projekt Gutenberg für antike, klassische, romantische und frühe moderne Literatur, das immer weiter anwachsende multisprachliche Wikipedia-Lexikon, Online-Magazine wie Telepolis oder entsprechende digitale Versionen von älteren journalistischen Medien wie Spiegel, BBC, Washington Post. Spannend werden diese Medien durch Aktualitätsschübe, Quer-Such-Bewegungen und radikale Plünderungen.

Aber das Videoportal YouTube ist seit 2005 eines der dominierenden audiovisuellen Medien, weil mit seinen Clips ebenso wie die Amateur-Fotodatei Flickr (2002) Millionen und Milliarden von Einheiten speichert und weltweit abrufbar macht. YouTubes multimediale Assoziationsketten stehen Flickrs eintönigerem Albenkonzept entgegen. Hier zeichnen sich Antworten ab auf die Frage nach der Möglichkeit der anwachsenden individuellen Speicherkapazität und subjektiven Auswahl- und Kombinationspräferenzen bei gleichzeitiger Miniaturisierung und Mobilisierung in Medien wie iPhone und iPod. Die journalistischen Seiten haben den Trend aufgegriffen und weisen zunehmend eine magazinförmige Ausstattung mit opulenten Fotostrecken und Videos auf. Auf diese Weise stützen sich sprachliche Dateien und audiovisuelle Archive, abstrakte Information und auditive wie optische Veranschaulichungen. Die individuell geführten Blogs und Internet-Tagebücher haben diese Gestaltung übernommen; doch erlischt die anfängliche feuilletonistische, literarische oder bildästhetische Faszination angesichts der Uniformität vieler Blogkolonien. Das Internet bevorzugt eher paradigmatische Prägungen oder elementare Kurzformen, offene Strukturen, immer wieder neu kombinierbare Elemente statt endgültiger Aussagensysteme und buchförmiger Formate. Auch die Suchmaschinen simulieren in diesem Sinne Individualisierbarkeit durch Vorwahl verschiedener Kriterien und Medien zu einem persönlichen Info-Paket: iGoogle, 2007, antwortet auf iPhone, 2007, das iPod, seit 2001, fortsetzt und erweitert. Das Videoportal YouTube ist zu einem Mega-MTV-geworden, dass mit Yahoo und Google auf den globalen Topranks steht und damit die Internet-Angebote des Öffentlich-rechtlichen, des privaten und des Sparten-TV weit übertrumpft. Geläufige und seltene Dokumente, Filmausschnitte oder in Serien zerlegte Beiträge zu beliebig gestreuten Themen stehen unzensiert neben belanglosem privaten Spaßbeiträgen. Der User ist der Sender und Verwender geworden, aber nicht als ordentlicher Programmdirektor, sondern als Chaotiseur im Daten-Livestream, als professioneller Selbstdarsteller oder dilettantischer Spaßfilmer, Materialbearbeiter, zwischen ehrfürchtigem Dokumentarismus und respektloser Parodie, als akribischer Sammler, gelegentlich auch als bedenkenloser Produktpirat, der von den Filmfirmen und Zeitgenossen mit Toleranz behandelt werden sollte.

Pieter Bruegel d. Ä.: Turmbau zu Babel

Aber als Mini-Sender reiht er sich sogleich ein in die Form einer unendlichen fortschreitenden Bibliothek mit wechselnden und meist fragmentarischen Medienformaten. Seriöses und seichtes, niveauloser „Blödsinn“ und Tiefsinn gehen hier in eine riesige Unterhaltungslandschaft ein, die eingehend durchkämmt werden will und die einem niederländischen Maler wie Pieter Breughel, dem Älteren, alle Ehre machen würde. Aus dieser babylonischen Unterhaltungslandschaft lassen sich jeden Tag erneut eine Fülle von wertvollen Informationen und aufklärenden Beiträgen ergattern. Unterhaltung, Eitelkeit und Narretei schlagen um in Politainment, Voyeurismus in Entlarvung, Recherche und People-Kult gehen Hand in Hand. Die Qualität der Internet-Archive, Foren und Medien lässt sich nicht immer inhaltlich einschätzen, aber auf der operativen Ebene umso mehr: elektronische Vernetzung, Bearbeitung, Speicherung, Versendung und Empfang von multimedialen Inhalten sind jederzeit und überall möglich, in und über alle inhaltlichen und formalen Dimensionen grenzüberschreitend hinaus. Dies lässt den Standard-Massencharakter und die strikte Einseitigkeit der älteren TV-Kommunikation hinter sich.

Den vollen sinnlichen und intellektuellen Genuss dieser digitalen Rohmaterial-Landschaft wird nur derjenige haben, der die interaktiv-technische Intelligenz der multimedialen Kultur von PC und Internet mit dem reflektierenden Leseverhalten der Buchkultur verbindet. Schon die alte Buchkultur wusste: Rezeption ist immer auch Produktion. Rezeption ist immer auch Produktion, mitvollziehendes Verständnis oder produktives Missverstehen. Unterhaltung ist keineswegs Zerstreuung und Betäubung. Das ist der von Reich-Ranicki angesprochene und beanstandete Blödsinn. Sondern die geistige Spannung zwischen dem bereits Verstehbaren und dem Genuss am Unvorhersehbaren und noch nicht Begriffenen. Im digitalen Polyversum übernimmt die Schrift die mehrfache Funktion der unmittelbaren individuellen oder sozialen Ansprache, der intelligenten Steuerung und der assoziativen Suche und der komplexen Kombinatorik. Die Schrift wird eine Form der Navigation, des angemessenen Mappings, um den Rohzustand der Bedeutungen zu sondieren. Ob die damit erreichte mediale und operative Qualität noch literarisch genannt werden kann, oder nicht eher transliterarisch – dies ist vielleicht gar nicht wichtig. Auf jeden Fall wird hier der Sinn für eine Literatur oder eine zeichenvermittelte Phantasie geschult, die im Zeitalter des Netzes bestehen werden, gleich, ob in welcher Form: als endloses Provisorium im Netz, als neues Buch, als musikalischer Soundscape und Klangwerk, als Hörspiel, als Videospiel oder als Trick-, Dokumentar- und Spielfilm. Vielleicht fällt dabei auch etwas für das TV der Zukunft ab.