Verborgene Potentiale in der Mediennutzung?

Gerade "bildungsferne" und "ausbildungsmüde" Jugendliche könnten von medienpädagogischen Angeboten profitieren, in den USA debattieren Erziehungswissenschaftler schon lange über "heimliche Lehrpläne" und "versteckten Intellektualismus"

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„Wer Werte und Kompetenzen vermitteln möchte, der muss den Weg über die Medien gehen und die Jugendlichen dort abholen, wo sie sich bewegen und für was sie sich interessieren.“ Keine Geringere als Bundesbildungsministerin Annette Schavan kommentierte so eine gerade erschienene Studie mit dem Titel „Medienhandeln im Hauptschulmilieu – Mediale Produktion und Interaktion als Bildungsressource“. Das Münchner Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis (JFF) hat knapp tausend Hauptschüler aus „sozialen Brennpunkten“ gefragt, welche Rolle „multifunktionale Medien“ (Internet, Handy und Spielekonsolen) in ihrem Leben spielen. Das Ministerium hat das Forschungsprojekt finanziell gefördert und macht sich nun dafür stark, die „Medienwelten von Jugendlichen für Bildungsprozesse zu nutzen“.

Wenn in Deutschland öffentlich über die „Bildungsfernen“, die Hauptschüler und Nicht-Deutsche geredet wird, gehört deren angeblich übermäßiger und unanständiger Medienkonsum fast notwendig dazu. Was sie im Internet oder Fernsehen konsumieren, gilt als besonders anspruchslos und geprägt von Sex, Gewalt und anspruchslosem Klatsch. Ob „Unterschichtsfernsehen“ oder, etwas vornehmer, „mediale Klassengesellschaft“ – den Deklassierten wird auch im Umgang mit Medien nicht viel zugetraut.

Im Gegensatz dazu gehen die Erziehungswissenschaftler um Ulrike Wagner ausdrücklich wertfrei und offen an das Thema heran. So entdecken sie „Ressourcen, an denen Bildungsprozesse andocken“ können. Ihre umfangreiche Studie ist Ende Oktober erschienen. An 40 Haupt- und Grundschulen in verschiedenen deutschen Großstädten haben sie Schüler zwischen 10 und 16 Jahren befragt, zwei Drittel der Interviewten haben einen Migrationshintergrund.

Nebenbei und ganz unbeabsichtigt zeichnet die Studie auch ein Bild der sozialen Lage der Hauptschülerschaft: Da bezeichnet ein Lehrer seine Arbeit trocken als „Vorbereitung auf Hartz 4“, und ein Junge begründet die Vorteile eines souveränen Umgangs mit dem Mobiltelefon, man könne später vielleicht „Handyverkäufer“ werden. Vor diesem Hintergrund überrascht weder die Beobachtung, dass die Hauptschüler beim Computerspielen „deutlich mehr an kämpferischen Rollen“ interessiert sind, beziehungsweise Sims-Spieler häufig „extreme und teils findige Strategien“ entwickeln, um ihre Figuren sterben zu lassen wie „Kind wegsperren, Mann in einem Swimmingpool ohne Leiter ertrinken lassen“.

Elektronische Medien sind, kaum überraschend, aus dem Leben der Jugendlichen nicht wegzudenken. Fast alle Haushalte in Deutschland verfügen mittlerweile über mindestens einen Computer (98 Prozent) und einen Internetanschluss (95 Prozent). Fast alle Schüler, unabhängig davon, ob sie Gymnasium, Haupt-, Gesamt- oder Realschule besuchen, besitzen ein Handy. Aber auch in der Mediensphäre sind einige gleicher als andere: Nur 57 Prozent der Hauptschüler haben einen eigenen Computer, im Gegensatz zu 71 Prozent bei den Gymnasiasten.

Wenn Heranwachsende einen Computer benutzen, gehen sie in aller Regel ins Internet. Knapp die Hälfte der 10- bis 16-Jährigen tut das laut der JFF-Studie jeden Tag, nur 17 Prozent seltener als einmal pro Woche. 81 Prozent der befragten Hauptschüler sagen, in ihrem Haushalt gäbe es eine Spielkonsole. Meist findet die Computernutzung zu Hause statt. Nur jungen Migrantinnen bilden eine bemerkenswerte Ausnahme: Um der familiären Kontrolle zu entgehen, nutzen sie Computer bei Freundinnen oder in öffentlichen Einrichtungen. Dass ihnen der Zugang erschwert wird, führt aber nicht dazu, dass sie weniger Zeit im Internet verbringen.

Bemerkenswert ist weiterhin die vorherrschende, schwer zu überbietende „grundsätzliche Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums“: Trotz aller Kampagnen gegen das „Raubkopieren“ wird unbefangen heruntergeladen und weitergegeben – wohl vor allem deshalb, weil ohne das Verteilungsmittel Internet vieles für die Hauptschüler gar nicht erschwinglich wäre.

Abgründe und Spitzenleistungen

Wie in den Mitteilungen des Bildungsministeriums ist auch in der Studie die Rede von verborgenen Schätzen, die angeblich von den Lehrkräften zu heben seien. Aber die Autorinnen und Autoren bemühen sich doch um ein differenzierteres Bild. In vielen Bereichen des „Medienhandelns“ fehlen Überblick, Hintergrundwissen und die Fähigkeit zur Reflexion völlig. Deutlich wird das zum Beispiel, wenn das Internet für Hausaufgaben benutzt wird. Die Schüler finden zwar Inhalte in Hülle und Fülle, aber können deren Glaubwürdigkeit und Qualität oft nicht bewerten.

Vielen sind die Risiken der medialen Sphären nicht bewusst, und sie hinterfragen kaum, was ihnen geboten wird. Als Informationsquelle steht Werbung gleichberechtigt neben journalistischen Angeboten, Computerviren gelten als normal, pornografische und gewaltverherrlichende Bilder und Filme ebenso. Kontrollversuche der Erwachsenen sind in der Regel unwirksam, zu weit sind die Kinder und Jugendlichen ihnen voraus. Die entscheiden selbst, ob und wem sie Einblick in ihr Medienhandeln gewähren.

Virtuelle Räume bieten ihnen die Möglichkeit, sich selbstbestimmte Freiräume zu erobern, die nicht von den Erwachsenen besetzt sind oder zu denen diese gar keinen Zugang haben.

Erschreckend oft werden andere Internetnutzer beleidigt und herabgewürdigt; Cyber-Mobbing (übrigens beileibe nicht nur ein Problem unter Hauptschülern) kennen viele der Befragten aus eigener Erfahrung. Und wenn zu lesen ist, dass ein Junge auf seiner Seite bei schülerVZ ein ihm unbekanntes Mädchen ohne Zögern zu seiner „Freunde-Liste“ hinzufügt, um ihr dann eine Kurzmitteilung mit dem Inhalt „hey wer bist woher hast du meine adresse“ zu schicken, werden einige Vorurteile sogar empirisch belegt.

Dass der Umgang mit Computer und Internet auch in der jugendlichen Unterschicht geradezu zur Pflicht wurde, liegt nach Ansicht der Autorinnen und Autoren an der rasanten Verbreitung der sozialen Netzwerke wie Facebook oder schuelerVZ.

Einem oder mehreren dieser virtuellen Netzwerke anzugehören, ist in der Jugendgeneration nachgerade ein Muss. (...) Hier wird das Beziehungsleben organisiert und gestaltet, gepflegt und erweitert, hier finden Identitätsarbeit und Identitätsexperimente statt und hier macht man sich und seine "Werke" öffentlich.

Interessanterweise haben sich lokale Cluster dieser Netzwerke gebildet, das heißt, in bestimmten Regionen setzt sich in der Regel ein bestimmter Anbieter durch.

So ist die Community lokalisten.de bei den Münchner Befragten verbreitet, kwick.de bei den Stuttgartern, jappy.de bei den Kölner Befragten.

Die Jugendlichen kombinieren ihre Seiten meist mit einem Chat-Programm für die unmittelbare Kommunikation. Fotos oder Filme, oft mit dem Handy aufgenommen, mit Bildbearbeitungsprogrammen verfremdet und mit Musik unterlegt, dienen dazu, sich (möglichst attraktiv) vorzustellen. Was dazu nötig ist, wird den Jugendlichen durch Gleichaltrige vermittelt oder sie erlangen ihre Fertigkeiten durch Ausprobieren nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“. Schriftliche Anleitungen werden souverän mit Verachtung gestraft.

Allerdings verfügt die große Mehrheit der Befragten ausschließlich über „Anwenderwissen“. Sie bevorzugen klar vorstrukturierte und einfach gehaltene Bedienungen. Sind Spiele oder andere Programme zu komplex, vereinfachen die Jugendlichen sie auf eigene Faust und ignorieren weiterführende Möglichkeiten.

Besonders interessiert die Pädagogen die „produktive Seite“ der Mediennutzung. Vier Fünftel der Befragten haben schon einmal Fotos selbst gemacht, bearbeitet, vervielfältigt und/oder veröffentlicht; in Bezug auf Videos und Musik trifft dies auf jeweils mehr als die Hälfte der Befragten zu. 34 Prozent der Jugendlichen gaben an, mit einem Computerprogramm schon einmal selbst Musik produziert zu haben. Ein solch produktiver Umgang mit den elektronischen Medien galt bisher als Domäne „bildungsprivilegierter“ Jugendlicher und war dementsprechend vor allem unter Gymnasiasten zu finden. Nun zeigte sich, dass auch Hauptschüler durchaus dazu in der Lage sind, Filme zu produzieren und im Internet zugänglich zu machen.

Nun ist ja auch, wer Papierflieger bastelt, in gewissem Sinn produktiv tätig, und die Fähigkeit, eine Datei im Internet verfügbar zu machen, nicht unbedingt beeindruckend. Aber manche Schüler gehen tatsächlich darüber hinaus. Die Studie führt das Beispiel eines 14-Jährigen kurdischer Herkunft an. Im Internet sucht der begeisterte Computerspieler nach Informationen und Erweiterungen für sein Lieblingsspiel.

Ein englischsprachiges Forum zu einem seiner favorisierten Spiele fand er so hilfreich, dass er es kurzerhand ins Deutsche übersetzte und online gestellt hat. Er nutzt das Internet, um für seine Hausaufgaben zu recherchieren. Er hat eine eigene Homepage. Er stellt Videos her und veröffentlicht sie online. Er erklärt, hilft bei Verständnis- und Handhabungsschwierigkeiten ohne Arroganz und Dominanz.

Die Erziehungswissenschaftler vom JFF berichten über einen erstaunlich großen Leistungswillen. Geht es um Alltagsmedien, ertragen sie Frustrationen, zeigen etwa anderen die richtige Vorgehensweise, erklären und lassen sich erklären. Jugendliche, denen die Schriftsprache schwer fällt, könnten sich außerdem über „präsentative Ausdrucksformen“ (also mediengestützt) besser darstellen und einbringen: „Sich mit Bildern zu Wort melden“, formulieren das die Autoren.

Anknüpfen an den „heimlichen Lehrplan“

In den USA wird schon seit einigen Jahren über das Potential des „heimlichen Lehrplans“ diskutiert. In der pädagogischen Debatte nach 1968 wurde dieser Begriff eigentlich kritisch verwendet: Öffentlich nehme die Schule für sich in Anspruch, demokratische Werte und Gleichberechtigung zu fördern – zwischen oben und unten, Jungen und Mädchen, Einheimischen und Eingewanderten. In Wirklichkeit aber weise sie den Kindern ihren sozialen Platz zu und stabilisiere so die überkommene gesellschaftliche Hierarchie – indem sie beispielsweise proletarische Verhaltensweisen abwertet und, am Modell des autoritären Lehrer-Schüler-Verhältnisses, Unterordnung lehrt.

Ganz anders benutzt der amerikanische Literaturwissenschaftler Gerald Graff den Begriff des heimlichen Lehrplans. Er bezieht ihn nämlich nicht auf den Schulalltag, sondern auf die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen außerhalb der Schule. In einem einflussreichen Aufsatz spricht er gar von einem „versteckten Intellektualismus“. „Die intellektuellen Fähigkeiten der Schüler werden oft übersehen, weil sie sich in überraschender Form ausdrücken“, schreibt Graff. Er selbst habe von Bildung nichts wissen wollen, andererseits aber durchaus komplexe Zusammenhänge durchdrungen – solange es um Baseball ging:

War Ted Williams der bessere Spieler als Joe DiMaggio oder Stan Musial? War es möglich, dass die White Sox die Yankees schlagen? Konnte ein Chicagoer Fan der Cubs auch die White Sox unterstützen?

Diese und ähnliche Debatten führten Graff und seine Freunde mit Hingabe, Leidenschaft und durchaus spitzfindig. Die „Gewandtheit der Straße“ (street smartness) kann nicht einfach auf die Lerninhalte der Schule übertragen werden, gibt er zu, sondern muss sich wandeln und auf andere Inhalte richten. Aber gerade die diskursive Form der „alternativen Form des Intellektualismus“ bietet seiner Ansicht nach die Möglichkeit, intellektuelle Fähigkeiten zu entwickeln. Da mag es auch um die Frage gehen, ob nun Eminem oder Tupac Shakur der bessere Rapper ist, solange an der Form der konsistenten Argumentation festgehalten wird.

Als Lehrer lautet meine Arbeitshypothese: In jedem Schüler, der weiß, was auf der Straße angesagt ist (das bedeutet: in jedem Schüler), steckt ein verborgener Intellektueller, der ausbrechen will!

Lothar Müller formulierte den Grundgedanken des Ansatzes so:

Wer einmal die Kommunikationsdichte, Intelligenz und das taktische Niveau der mediengestützten Intrigenverwaltung einer Peer-Group 15-jähriger Mädchen beobachtet hat, weiß, wovon die Rede ist.

Das mag sein, einen Ausweg aus der Misere der Hauptschulen bietet der Ansatz des „heimlichen Lehrplan“ allerdings dennoch nicht. Nicht nur, weil es nicht gleichgültig ist, auf welchen Inhalt die „verborgenen Intellektuellen“ ihren Scharfsinn verwenden. Sondern auch, weil die Jugendlichen auf die „didaktische Anreicherung“ ihrer Lebenswelt nur bedingt Wert legen.

„Ich habe nie zugelassen, dass die Schule meiner Erziehung in die Quere kommt“, beschrieb Mark Twain einst sein Verhältnis zur formalen Bildung. Deren Voraussetzungen werden eben nicht in den Bildungseinrichtungen geschaffen, sondern in den Familien, den Freundeskreisen und Nachbarschaften.