Wem gehört das traditionelle Wissen?

Jedenfalls nicht denen, die es bewahren: Mehr als 90 Prozent der damit zusammenhängenden Patente halten Fremde

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Wissen ist mehr als das, was sich in Enzyklopädien abgedruckt oder in der Wikipedia erfasst findet: Ebenso gehören Kenntnisse dazu, die uralte Völker in langer Zeit gesammelt und bewahrt haben. Kenntnisse über Methoden des Ackerbaus, Fähigkeiten im nachhaltigen Umgang mit beschränkten Ressourcen oder Wissen um pharmazeutische Wirkungen von Pflanzen und Pflanzenteilen sind Beispiele, die sich im kollektiven Speicher von Kulturen in Ländern wie Indien, Kanada oder Brasilien finden.

Wie wertvoll derartiges traditionelles Wissen ist, haben nicht nur die Wissenschaftler weltweit längst erkannt: Auch globale Firmen befassen sich damit, für sie kommerziell verwertbare Bestandteile solcher Erkenntnisse zu sammeln und, wie es in der Wissensgesellschaft üblich ist, mit Patenten gegen andere Verwerter zu sichern. Das ist per se keine unmoralische Handlung. Neuartige Wirkstoffe einer im Westen bisher unbekannten Arzneipflanze können und sollen natürlich Menschen überall zugute kommen. Die Frage ist jedoch, wie es gelingt, auch die ursprünglichen Bewahrer dieses Wissens an dessen Nutzung zu beteiligen. Und das gelingt offenbar sehr schlecht: Mehr als 90 Prozent aller im Zusammenhang mit traditionellem Wissen erteilten Patente liegen in der Hand von Fremden.

Die gesetzlichen Grundlagen unserer Wissensgesellschaft, die Gesetze rund um das intellektuelle Eigentum, passen offenbar auf diese Form des Wissens nicht. Das schließen jedenfalls die Verfasser einer internationalen Studie, die Fachleute der International Expert Group on Biotechnology, Innovation and Intellectual Property in dieser Woche in Paris vorstellten. Die über 100-seitige Fallstudie beschreibt die Verhältnisse in Brasilien, Kanada und Kenia. In allen drei Ländern versucht der Gesetzgeber, traditionelles Wissen auf die eine oder andere Art zu schützen. Und doch sind die Ergebnisse bescheiden.

Beispiel Brasilien: Hier fokussieren die Studienautoren auf traditionelles Wissen rund um medizinische Wirkungen der Flora. Nur etwa zwei Prozent der allein im Amazonas-Gebiet verbreiteten etwa 80.000 Spezies höherer Pflanzenarten wurden schon auf ihre phytochemischen und pharmazeutisch wirksamen Bestandteile getestet - ähnliches gilt für andere brasilianische Regionen wie das Pantanal mit seinem Sumpfland. Die sehr unterschiedlichen kulturellen Gruppen des Landes haben verschiedenstes Wissen angesammelt - Indios etwa haben Kenntnisse über psychoaktiven Pflanzen, die anderen Bewohnern des Landes wohl wegen der katholischen Religion nicht zugänglich sind. 2001 hat Brasilien Gesetze zum Schutz traditionellen Wissens verabschiedet - und doch sind bis heute nur sieben phytotherapeutische Substanzen auf dem Markt, die speziell mit brasilianischen menschlichen und technologischen Ressourcen entwickelt wurden. Hingegen sind bereits über 700 Patente über derartige Stoffe eingereicht worden, die fast komplett in der Hand von Ausländern liegen.

Das Problem liegt zum einen darin, dass bürokratische Prozesse im Lande noch zu langsam arbeiten. Viel schwerwiegender verhindert aber die Natur traditionellen Wissens seine kommerzielle Nutzung, jedenfalls bei der aktuellen Rechtslage. Um eine Erkenntnis etwa in Patentform verwerten zu können, müssen dem all ihre Besitzer zustimmen - und das ist bei einer größeren Gemeinschaft schwierig, weil es zu einer Vielzahl überlappender Besitzrechte führt. Die Transaktionskosten einer hier nötigen Einigung sind so hoch, dass die betroffenen Communities sie sich gar nicht leisten können. Zudem führt mangelndes Vertrauen dazu, dass entsprechende Verhandlungen in irgendeiner Phase stecken bleiben.

Das Forscherteam eines Pharmakonzerns, das die einheimische Flora apparatetechnisch untersucht, hat solche Probleme nicht. Die Folge, wie die Studienautoren sie ähnlich auch in den untersuchten Gemeinschaften in Kenia und Kanada diagnostizierten: Das traditionelle Wissen verschwindet, weil sein Wert im öffentlichen Bewusstsein sinkt. Verhindern könnte man dies nur, so die Forscher, indem man nicht mehr die Rechtslage rund um das intellektuelle Eigentum in den Mittelpunkt stellt, also das „wem gehört es“, sondern die Autonomie und Selbstverwaltung der Besitzer des Wissens. Erfolgversprechende Ansätze in dieser Richtung machen die Forscher in Kanada aus.