Stürzt der fliegende Gerichtsstand ab?

Das Bundesjustizministerium befragt Berufsverbände nach ihrer Meinung zum praktisch frei wählbaren Gerichtsort im Medienrecht

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Die in ihren Folgen wohl gravierendste Fehlentwicklung des Presserechts ist der sogenannte „fliegende Gerichtsstand": Wer sich durch eine öffentliche Äußerung etc. beeinträchtigt fühlt, kann sich bislang beinahe frei ein beliebiges Gericht aussuchen, um dort einen Rechtsstreit anhängig zu machen. Das tun empfindliche Kläger mit aufgeweckten Anwälten natürlich bei solchen Gerichten, die für ihre äußerungsfeindliche Rechtsprechung bekannt sind. Auf diese Weise wurde ein umstrittenes norddeutsches Landgericht zuständig für den gesamten Kontinent und gestattet es einer überschaubaren Anzahl an Anwälten und Richtern, das Presserecht der Gegenwart zu definieren. Nun prüft das Bundesjustizministerium eine Änderung.

Normalerweise kann man nur am Gericht in der Stadt verklagt werden, in der man wohnt oder seinen Geschäftssitz hat. Auf diese Weise sollen Missbrauch und Schikane durch Kläger vermieden werden, die ihre Gegner durch hohe Anfahrtskosten usw. abschrecken wollen. Von diesem Prinzip gibt es einige Ausnahmen, wovon eine die „unerlaubten Handlungen" betrifft: Bei Unfällen, Straftaten usw. kann man den Rechtsstreit ausnahmsweise auch am Ort des Unrechts anhängig machen. Die entsprechende Vorschrift wird auch für Unterlassungsansprüche wegen Beleidigungen und sonstigen Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht angewandt: Fühlt sich irgendjemand durch eine Äußerung „geschmäht" oder lässt sich in eine Äußerung irgendetwas angeblich Unwahres hineindeuteln, und findet eine solche Äußerung Verbreitung in Presse, Rundfunk oder Internet, so ist überall dort „Tatort", wo diese Äußerung zur Kenntnis genommen werden kann:

Ist eine Zeitung mit nur einem einzigen Exemplar im Hamburger Bahnhofskiosk vertreten, reicht dies aus, um die Hamburger Kammer zuständig zu machen. Hat man sich in irgendeiner Weise im Internet geäußert, so kann man die Äußerung praktisch überall abrufen, und „überall" heißt meistens Hamburg. Wer also etwa in Freiburg seinen Nachbarn wegen eines unliebsamen Kommentars in einem Freiburger Internetforum verklagen will, darf vor den Hamburger Kadi ziehen.

Rechtsdogmatisch fragwürdig

Das Argument für einen Prozessort, eine Beleidigung etc. fände überall dort statt, wo diese der Leser oder Hörer zur Kenntnis nehme bzw. dies könnte, ist nicht sehr überzeugend. Genauso, wie die Beeinträchtigung vor Ort stattfindet, wird sie durch Richterspruch dort auch beendet, ohne dass auch der Gerichtsort vor Ort sein müsste, denn Unterlassungsverfügungen gelten weltweit, egal, wo sie ausgesprochen werden. Für eine Unterlassungsverpflichtung spielt es also keine Rolle, wo diese örtlich verhandelt und erlassen wird.

Anders als bei Unfällen, wo Ortskenntnisse der Richter hilfreich sein können, oder bei Straftaten, wo Polizei und Zeugen oft vor Ort wohnen und daher einfacherer greifbar sind, gibt es für Pressesachen keinen sachlichen Grund, weshalb diese an jedem beliebigen Gericht verhandelt werden können. Es wäre völlig ausreichend, einem Betroffenen einen einzigen zusätzlichen Gerichtsstand anzubieten: Bei sich zu Hause, denn da hat der Kläger den kürzesten und daher komfortabelsten Weg zum Gericht. Dies wäre auch deshalb sachgerecht, da ein Geschädigter typischerweise vor allem dort seiner Ehre frönt, wo er seinen Lebensmittelpunkt hat.

Unfälle und Straftaten im Sinne des § 32 ZPO sind singuläre Ereignisse, die einem Geschädigten eigentlich nur genau einen zusätzlichen Gerichtsort verschaffen sollten, nämlich den Tatort. Keinesfalls hatte der Gesetzgeber im Sinn, dass ein beim Gericht gescheiterter Antragsteller sein Glück auf Erlass einer einstweiligen Verfügung bei anderen Gerichten erneut versuchen darf – so lange bis es klappt oder die Gerichte ausgehen. Erst recht nicht wollte der Gesetzgeber einem vermögenden Antragsteller erlauben, seinen Antrag sogar gleichzeitig parallel an den bis zu 74 Landgerichten Deutschlands anhängig zu machen, in der Hoffnung, dass einer der Richter den Fall wunschgemäß beurteilt. Nach dem Motto „Nur ein Schuss muss treffen!" tun derartiges jedoch clevere Anwälte bei unsicheren Ansprüchen.

Die bislang praktizierte Anerkennung des fliegenden Gerichtsstands ist auch inkonsequent, denn im (den Unterlassungsansprüchen verwandten) Recht auf Gegendarstellung richtet sich der Prozessort nach dem Geschäftssitz des Verbreiters. Die Sach- und Rechtsfragen sowie die Interessenlagen sind praktisch identisch. Es geht also auch ohne Fliegerei.

Missbrauch des fliegenden Gerichtsstands

Besonders oft werden äußerungsrechtliche Verfahren in den Pressekammern von Berlin und Hamburg anhängig gemacht, die miteinander einen Wettbewerb im Verbieten auszutragen scheinen. Viele der insbesondere in Hamburg produzierten Verbote und Geldentschädigungsansprüche unterscheiden sich von der äußerungsfreundlicheren Rechtsprechung von Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht, wo entsprechende Entscheidungen oft aufgehobenwerden. Will man trotzdem zu seinem Grundrecht kommen, so muss man langwierige Rechtsstreite durchstehen, die Zeit, Nerven und Geld kosten.

Insbesondere Privatleute verfügen selten über ausreichende Ressourcen, um einen entsprechenden Prozess durchzustehen und nach Karlsruhe zu tragen. Äußerungsrechtliche Verfahren sind verhältnismäßig teuer, da für kleine Blogger und Forenbetreiber die gleichen Streitwerte angesetzt werden wie für große Verlage und Rundfunkhäuser. Pro Äußerung sind das zwischen 5.000,- und 15.000,- Euro. Zu den Anwalts- und Gerichtsgebühren kommen noch ggf. die eigenen Reisekosten hinzu.

Man kann auch Prozesse „splitten": Die Unterlassungsverfügung gegen eine unerwünschte Fotoveröffentlichung holt man sich am fotofeindlichen Gericht X, die gegen den Begleittext am äußerungsfeindlichen Gericht Y. Dies ist vor allem deshalb seltsam, weil für das Verbieten von Fotos oft der Begleittext entscheidend ist, der also ohnehin untersucht werden muss. Die Gegendarstellung holt man sich dann doch am Gericht Z ab, wo der Äußerungsverbreiter seinen Geschäftssitz hat.

Erfolgreich sind Medienanwälte am Hamburger Landgericht vor allem dann, wenn sie einen Abmahner vertreten, also Unterlassung begehren. Selbst die kleinste Nichtigkeit wird in Hamburg verboten Vor allem in Hamburg wurde nach der Stolpe-Entscheidung die viel kritisierte Rechtspraxis entwickelt, mehrdeutige Äußerungen zulasten des Äußernden auszulegen. Da sich die Hamburger Bräuche herumgesprochen haben, klagt dort in Pressesachen die halbe Republik – inklusive Österreich, Schweiz, Monaco und was sonst noch so zum Landkreis Hamburg gehört.

Wer ein Internetforum betreibt – und das tun bereits die meisten Blogger – der unterhält nach Hamburger Gepflogenheiten eine gefährliche Einrichtung. Hinterlässt dort jemand einen Kommentar, welcher der hanseatischen Rechtsauffassung nicht genügt, oder zitiert man ungeprüft eine fremde Äußerung, dann fängt man sich schnell eine Abmahnung ein. Öffentliches Äußern wird so zu einer höchst anspruchsvollen Kunst, die selbst gestandene Journalisten mit Zugriff auf eine professionelle Rechtsabteilung nicht immer beherrschen.

Verfassungswidrig?

Da das Presserecht der Gegenwart aufgrund des fliegenden Gerichtsstands de facto vom Hamburger Landgericht gemacht und ausgelegt wird, steht diese Rechtspraxis im Widerspruch zur föderalen Struktur, wie sie für Gesetzgebung im Bereich der Kultur und eigentlich auch für die Justiz vorgesehen ist. Die Hamburger Richter sind keine gewählten Volksvertreter, erst recht nicht wurden sie außerhalb von Hamburg zu irgendwas legitimiert.

Wie in Art. 5 Abs. 2 GG festgelegt ist, kann die Meinungsfreiheit nur durch Gesetze (oder durch Kollision mit anderen Grundrechten) beschränkt werden. Von Richtern wäre daher eine gewisse Zurückhaltung bei Eingriffen in dieses für die Demokratie fundamentale Grundrecht zu erwarten. Die Hamburger Richter erschufen sich dagegen sogar neue Instrumente wie ein angeblich existierendes Unternehmenspersönlichkeitsrecht, mit dem zahlungskräftige Unternehmen gegen Kritiker vorgehen können.

Angesichts der deutlich strengeren Maßstäbe der Hamburger Pressekammer im Vergleich zu denen des als meinungsäußerungsfreundlicher geltenden Bundesverfassungsgerichts darf man seine Zweifel daran haben, ob die durch den fliegenden Gerichtsstand bewirkte Konzentration des Medienrechts in Hamburg ein Gewinn für die Rechtssicherheit ist.

Petition

Manfred Plinke vom Autoren-Magazin hat sich an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages gewandt. Seine Petition, welche die Missbrauchsmöglichkeiten des einstweiligen Rechtsschutzes im Äußerungsrecht insgesamt kritisiert, wurde von 1.131 Mitstreitern unterschrieben. Plinke möchte mit der Petition u.a. erreichen, dass die zuständigen Gerichte bei Anträgen auf einstweilige Anordnung, die die Presse- und Meinungsfreiheit gemäß Artikel 5 Grundgesetz (GG) betreffen, insbesondere prüfen sollten,

  1. ob bereits eine Abmahnkorrespondenz vorliegt (und diese dann natürlich berücksichtigen müssen, anstatt wie bisher allein aufgrund des (oft erlogenen) Vortrags des Antragstellers zu entscheiden),
  2. ob Rechtsfähigkeit und Legitimierung des Antragstellers hinreichend nachgewiesen ist (und damit u.a. Phantomkläger ausschließen, gegen die man ggf. auf den Prozesskosten sitzen bleibt),
  3. ob bei redaktionellen Inhalten das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) angewendet werden darf (mit dem einem Betroffenen wirtschaftlich zugesetzt werden kann, was bei Angelegenheiten betreffend der Meinungsfreiheit meist sachfremd ist),
  4. ob in diesen Fällen nicht stets eine mündliche Verhandlung angesetzt werden soll (zu der es bei Einlegung von Widerspruch sowieso kommt).

Insbesondere der letzte Punkt hat eine Menge für sich, denn die Widerspruchsverfahren im „einstweiligen Rechtsschutz" sind alles andere als einstweilig. Gerade in Hamburg muss man mit Monaten rechnen, bis über eine ergangene einstweilige Verfügung verhandelt wird.

Die Petenten schlagen vor, die möglichen Gerichtsstände auf die Wohn- bzw. Geschäftssitze der Parteien zu beschränken. Wenn ein Stuttgarter von einem Münchner in einer Zeitschrift beleidigt wird, die auch in Stuttgart erscheint, dann mag man ihm den zusätzlichen Klageort Stuttgart gönnen. Es ist jedoch nicht erkennbar, weshalb man zu solchen Prozessen Richtung Nordsee gebeten wird, wo doch keiner der Beteiligten dorthin einen Bezug hat (so schön die Stadt Hamburg auch sein mag).

Die Petenten weisen auch auf die regional unterschiedliche Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen hin und schlagen vor, endlich Rechtssicherheit durch eine einheitliche gesetzliche Regelungen zu schaffen. So soll etwa verbindlich festgelegt werden, was unter „Dringlichkeit" als Voraussetzung für eine einstweilige Verfügung zu verstehen ist, was bislang von Gerichte unterschiedlich gehandhabt wird.

Gesetzgeberischer Handlungsbedarf

Angesichts der absurden Blüten, die der fliegende Gerichtsstand hervorgebracht hat, ist es mehr als verwunderlich, dass sich Kläger speziell im Presserecht noch immer ihren Richter aussuchen dürfen. Die vereinzelt kritischen Töne einiger Gerichte finden in der Jurisprudenz bislang kein Gehör. Insbesondere mit Aufkommen des Internets ist der für den Print- und Rundfunkjournalismus entwickelte fliegende Gerichtsstand ein Anachronismus.

Es ist daher an der Zeit, das Problem politisch durch den Gesetzgeber zu lösen. Derartiges war kürzlich tatsächlich einmal geglückt: So ist es wohl u.a. dem breit geäußerten Ärger um Marions Kochbuch zu verdanken, dass dieses Jahr der neue § 97a UrhG eingeführt wurde: Nunmehr sind die Anwaltskosten wegen einer Abmahnung in einfach gelagerten urheberrechtlichen Fällen außerhalb des geschäftlichen Verkehrs auf maximal 100,- Euro beschränkt worden. Eine vergleichbare Bagatellregelung für das Äußerungsrecht ist leider nicht in Sicht.

Halbherziges Bundesministerium

Die Eingabe stieß beim Petitionsausschuss des Bundestages auf Interesse und wurde der Bundesregierung zugeleitet. Das Bundesministerium der Justiz befragt gegenwärtig die Branchenverbände, wie sie zu dem Problem stehen. Eine direkte Eingabe Plinkes beim Ministerium hatte man früher abschlägig beschieden, weil angeblich kein Handlungsbedarf bestehe. Anders als der Petitionsausschuss des Bundestages scheint das Bundesjustizministerium die Initiative nur halbherzig zu verfolgen. Viele von Plinke angesprochenen Punkte tauchen in dem Anschreiben gar nicht erst auf. Allerdings hat man das Kernproblem des fliegenden Gerichtsstandes erkannt und herausgestellt.

Auch die Adressatenliste des Ministeriums lässt leider zu wünschen übrig, denn es überwiegen deutlich solche Interessengruppen, die vom fliegenden Gerichtsstand profitieren oder sich mit der bestehenden Rechtspraxis arrangiert haben. So interessiert sich das Ministerium etwa dafür, was der „Bund Deutscher Inkasso-Unternehmer" zum fliegenden Gerichtsstand zu sagen hat.

Wichtige Interessengruppen wie der PEN-Club und Menschenrechtsorganisationen (das Recht auf freie Meinungsäußerung ist ein internationales Menschenrecht) wurden im Presseverteiler des Justizministeriums anscheinend nicht berücksichtigt, ebenso wenig die Arbeitskreise kritischer Juristen oder kritische Internetnutzer wie der Chaos Computer Club. Blogger und andere private Internetbeschicker verfügen erst gar nicht über eine organisierte Lobby, die befragt werden könnte.

Eine Initiative gegen den fliegenden Gerichtsstand hat nur dann eine Chance, wenn das Problem in der Öffentlichkeit überhaupt bewusst gemacht wird und sich gegen die Konzentration der Medienrechtsprechung in Hamburg breiter Protest formiert. Solange aber heißt es: Hamburg ist überall.

Wer der Bundesministerin Frau Zypries etwas zu sagen haben sollte, der wende sich an das Bundesministerium der Justiz Mohrenstraße 37
10117 Berlin
Herr Dr. Schmitz
Referat: RA2
Az.: 37 II – R1 31641/2007

Der Autor ist Rechtsanwalt und schwerpunktmäßig im Medien- und Urheberrecht tätig