Der Marxismus der Konservativen

Der Marktradikalismus ist die doktrinäre Orthodoxie der Konservativen. Es ist ihre Aufgabe, mit ihm fertig zu werden

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Die beiden stärksten Waffen in jeder argumentativen Auseinandersetzung sind einander auf den ersten Blick fundamental entgegensetzt: Auf der einen Seite stehen Sachzwänge, intersubjektiv anerkannte und damit quasi objektive Notwendigkeiten, an denen Wunschdenken und Weltverbesserung zerschellen. Auf der anderen Seite steht der Idealtypus, die Utopie. Die Anziehungskraft ihrer Perfektion (ver)führt dazu, allen Sachzwängen zum trotz Weltverbesserungsstreben nicht völlig aufzugeben.

Immer, wenn eine Theorie als die einzig mögliche erscheint, nehme man das als Zeichen, daß man weder die Theorie, noch das zu lösende Problem verstanden hat.

Karl R. Popper

Die historisch einflussreichsten Ideologien vereinen nun diese antagonistischen Figuren, verknüpfen wissenschaftlichen Sachzwang und perfekte Utopie untrennbar miteinander. Im Industriezeitalter war es der sogenannte „wissenschaftliche Sozialismus“, dem als erstes dieses Kunststück gelang – und der dabei erstaunliche Kräfte entfesselte. Die Vorstellung einer gerechten, klassenlosen Gesellschaft, die zwar fernes Ziel, aber auch konkreter Endpunkt wissenschaftlich erkennbarer „Bewegungsgesetze der Geschichte“ sein sollte, begeisterte Arbeiter ebenso wie Intellektuelle.

Wie Marx seinen Schülern mehr als 100 Jahre vor ihm, konnte auch Milton Friedman seinen „Chicago Boys“ eine verlockende Kombination aus Utopie und Ideologie im Gewande der Wissenschaft bieten: Viel besser als dem wissenschaftlichen Sozialismus gelingt es seiner, die Volkswirtschaftslehre dominierenden, neoklassischen Orthodoxie, die utilitaristisch-normativen Wurzeln ihrer Axiome hinter einem Berg von Algebra zu verstecken. Und noch attraktiver als eine klassenlose Gesellschaft – nicht zuletzt weil mathematisch modellierbar – erscheint die Vision eines „perfekten Marktes“.

Theoretische Parallelen

Die Parallelen zwischen Marxismus und Marktfundamentalismus gehen dabei weit über diese äußeren Ähnlichkeiten hinaus, viele theoretische und methodische Bausteine der neoklassischen Ökonomie sind jenen des orthodoxen Marxismus nicht unähnlich. Ökonomisch gesehen sind beides Theorien der Angebotsseite, in denen die Nachfrage wenig bis keine Rolle spielt. In der marxschen Arbeitswertlehre wird alles konsumiert was produziert wird, die Nachfrage liegt automatisch bei 100 Prozent. Der Wert der Güter resultiert rein angebotsseitig aus der eingebrachten Arbeitsleistung. In der neoklassischen Grenznutzenschule schafft sich auch nach dem Say’schen Gesetz das Angebot seine Nachfrage selbst. Beide Ideologien sind philosophisch gesehen ökonomistisch, oder wie Marx es nennt „materialistisch.“ Der Erklärungswert der Ökonomie wird über den anderer Faktoren wie Kultur, Politik oder Wissenschaft gestellt. Letztgenannte Faktoren sind im Marxismus der bloße Überbau einer die Gesellschaft determinierenden Ökonomie. Ebenso Neoklassik à la Gary S. Becker, die sämtliche menschliche Motive – vom Heiratsverhalten bis hin zum Selbstmord – auf ein ökonomisches Nutzenkalkül reduziert.

Abseits der Angebotsorientierung stellen beide Ansätze den Kampf um den Kuchen in den Vordergrund, das Wachstum des Kuchens findet nur wenig Berücksichtigung. Bei Marx stoßen wir im Kapitalismus zwar auf eine produktive Dynamik, von der aber nur die Kapitalistenklasse profitiert, während die Arbeiterklasse im Elend versinkt. Die Möglichkeit, dass alle vom Wachstum etwas haben können, wird ignoriert. Es gibt in der marxschen Bibel „Das Kapital“ weder Gewerkschaften noch staatliche Verteilungspolitik, die eine Verelendung der Arbeiterschaft verhindern könnten.

Auch die neoklassische Grenznutzenschule tut sich mit Wachstumstheorien und Schumpeters „schöpferischer Zerstörung“ äußerst schwer, im Zentrum steht die optimale Ressourcenallokation im Gleichgewicht. Die Weltwirtschaft wird in der Neoklassik, ebenso wie in (neo-)marxistischen Interpretationen als Nullsummenspiel gesehen. Was den einen gegeben, muss den anderen genommen werden. So glauben die einen, die dritte Welt könne nur gerettet werden, wenn Europa auf große Teile seines auf Ausbeutung basierenden Wohlstandes verzichtet. Die anderen wiederum meinen, Europa könne nur gerettet werden, wenn die europäischen Arbeitnehmer im Wirtschaftskrieg gegen China und Co auf große Teile ihrer Löhne verzichten.

Fatale Implikationen

Marxismus und Marktfundamentalismus sind sich hinsichtlich der Naturgesetzlichkeit des freien Marktes einig, wenn auch nicht bezüglich dessen Konsequenzen: Während die einen seinen sicheren Untergang dank innerer Widersprüche prophezeien, bewundern die anderen dessen allokative Perfektion. Die einen sprechen von einer „natürlichen“ Arbeitslosigkeit, die anderen von einer industriellen Reservearmee als Voraussetzung für die flexible Dynamik des Marktes. Beide haben eine liberale Grundauffassung von der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, in der Staatseingriffe zu Verhinderung von Arbeitslosigkeit nicht einmal angedacht werden. Die Auswirkungen für realpolitische Ableitungen sind demgemäß auch ähnlich fatal, kamen doch keynesianische Konzepte weder orthodoxen Liberalen noch ihren marxistischen Pendants in den Sinn.

Zu diesen inhaltlichen Parallelen gesellen sich methodologische: Neoklassik und Marxismus gehen von einer berechenbaren Welt – im wahrsten Sinne des Wortes – aus. Sei es der „individuelle Nutzen“ und die entsprechende „individuelle Zahlungsbereitschaft“ in der Grenznutzenschule oder im Marxismus das „Quantum menschlicher Arbeitskraft“, aus denen ein Wert und in Folge einer Transformation ein Preis entsteht. In beiden Denkrichtungen dominieren Versuche, abstrakte Messeinheiten real quantifizierbar zu machen. Dementsprechend ähnlich auch hier wie dort die realen Konsequenzen der Methodologie: Realsozialistische Planungsbüros waren letztlich ähnlich weit von einer quantitativen Erfassung wirtschaftlicher Dynamik entfernt, wie moderne Finanzmärkte vom Idealbild vollständiger Information eines perfekten Marktes.

Interessanterweise wurden die weitestgehenden Experimente sowohl marxistischer als auch marktradikaler Ideologie jeweils in der Peripherie unternommen: Die Oktoberrevolution nutzte die Krise des Ersten Weltkriegs zum ersten kommunistischen Großexperiment im rückständigen Russland, Friedman experimentierte beispielsweise im ebenfalls unterentwickelten Chile nach dem Putsch Augusto Pinochets – ein von Naomi Klein als „Schock-Strategie“ bezeichnetes Vorgehen.

Gemeinsam haben beide Ideologien schließlich einen totalitären Kern: Sie gehen davon aus, dass die Realität sich an die Theorie anpassen müsse und nicht umgekehrt, die Theorie sich an der Realität zu orientieren habe. Konkrete oder pragmatische Maßnahmen sind bei voll liberalisierten Märkten nicht notwendig, weil sie in diesem Fall entweder optimal funktionieren (Neoklassik) oder ohnedies mit Sicherheit scheitern müssen (Marxismus).

Von der Niederlage des Marxismus lernen

Für die Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts gilt es nun aus der Geschichte des Marxismus für den Umgang mit dem Marktradikalismus zu lernen. Mag der Marktradikalismus durch die globale Finanzkrise auch in Bedrängnis geraten sein, dessen Untergang ist damit noch lange nicht gewiss. Auch das Scheitern des wissenschaftlichen an der Empirie des real existierenden Sozialismus wurde jahrzehntelang mit immer ausgefeilterer Dialektik geleugnet. Heute noch rechtfertigen Kommunisten auf Kuba die Einschränkung grundlegendster Menschenrechte mit zukünftig erreichbaren, größeren Freiheiten einer klassenloseren Gesellschaft. In ähnlicher Weise verlangt die neoklassische Orthodoxie von den Menschen Einschränkungen im Hier und Jetzt für ein mehr an Wachstum und damit an Wohlstand in der Zukunft.

Ebenfalls um Jahrzehnte der realpolitischen Niederlage des orthodoxen Marxismus voraus allerdings ging dessen intellektuell-ideologischer Bankrott. Ausschlaggebend dafür waren aber keineswegs konservative oder liberale Kritiker, sondern sein nächster Verwandter: die Sozialdemokratie. In einem ersten Schritt widerlegten sozialdemokratische Politiker unter Konservierung der radikalen Phrase durch pragmatische Alltagspolitik jede marxistisch inspirierte Verelendungstheorie. Den Todesstoß aber versetzte dem Marxismus der theoretische Generalangriff Eduard Bernsteins: Der in den 1890er Jahren konzipierte Reformismus setzte sich langsam, aber dafür so vollständig durch, dass 1964 der ehemalige deutsche SPD-Bundesminister Carlo Schmid feststellte: „Eduard Bernstein hat auf der ganzen Linie gesiegt.“

Ein liberaler Bernstein?

Der SPD-Reichstagsabgeordnete Eduard Bernstein ritt in seinem bis heute völlig unterschätztem Werk „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ (1899) bahnbrechende Attacken gegen den orthodoxen Marxismus. So warnte er, die marxistische Theorie werde „schließlich ihren wissenschaftlichen Charakter verlieren und zu einem sektirischen Glaubensbekenntnis (...), das seinerseits im gegebenen Moment für die Entwicklung der politischen Idee verhängnisvoll werden, d.h. sich seiner Anpassung an die veränderten wirtschaftlichen und politischen Bedingungen widersetzen kann.“ Was Bernstein im 19. Jahrhundert begann vollendeten seine Nachfolger in der SPD mit dem Godesberger Programm im 20. Jahrhundert.

Im 21. Jahrhundert scheint es nun an Neoliberalen und -konservativen zu sein, ihrerseits den Marktfundamentalismus Friedman’scher Prägung zu beerdigen. Die Krise der „realen Finanzmärkte“ könnte jedenfalls einen Anlass dafür liefern. Ein liberaler Bernstein ist allerdings noch nicht in Sicht.

Leonhard Dobusch hat am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Freien Universität Berlin promoviert und forscht derzeit am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung.

Nikolaus Kowall hat Volkswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien studiert und ist derzeit Junior Fellow am Wirtschaftsforschungsinstitut Wien (WIFO).