Gegen die Kriminalisierung der Geschichte

Historiker fordern in dem Appell von Blois die Entkriminalisierung der Geschichte. Doch davon könnten auch Holocaustleugner profitieren

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Der Ort Blois zwischen Tours und Orleans könnte eine ungeahnte Bedeutung erlangen. Dort verabschiedeten kürzlich Historiker aus verschiedenen europäischen Ländern ein Dokument, das als Appell von Blois schon jetzt Geschichte gemacht hat. Sie wenden sich damit gegen die Kriminalisierung der Geschichte.

„Die Geschichte ist kein Rechtsobjekt. In einem freien Staat steht es weder dem Parlament noch der Judikative zu, die historische Wahrheit festzulegen. Die Politik des Staats ist, auch wenn sie von den besten Absichten beseelt ist, nicht die Politik der Geschichte“, lautet die Maxime der Wissenschaftler.

Seit 2005 wehren sie sich gegen staatliche Bestimmungen und Gesetze, die eine bestimmte Lesart der Geschichte festlegen soll. Das bekannteste Beispiel sind Gesetze, die die Leugnung des Massenmords an den europäischen Juden in der NS-Zeit unter Strafe stellen. 2001 wurden Gesetze erlassen, die auch für die Verbrechen der Sklaverei eine bestimmte Darstellung festschreiben wollen.

Eine internationale Debatte entzündete sich an dem Vorhaben, auch die Verbrechen an den Armeniern in der Türkei als Genozid festschreiben und die Leugnung unter Strafe stellen zu wollen. An dieser Frage brach ein Konflikt zwischen Frankreich und der Türkei auf. Die Empörung türkischer Politiker und Historiker war heuchlerisch. Denn in der Türkei ist seit Jahrzehnten eine bestimmte Lesart der Geschichte in Bezug auf die Armenier gesetzlich festgeschrieben. Mit Repressalien muss dort rechnen, wer von einem Genozid an den Armeniern spricht und Konsequenzen fordert.

Der Widerstand unter den französischen Historikern wuchs, als Präsident Sarkozy nun auch einen Kanon für die Behandlung der französischen Geschichte einführen wollte. Sein Vorstoß, Frankreichs koloniale Rolle in positivem Licht erscheinen zu lassen, wurde heftig kritisiert und als Zensurversuch gewertet. Hierdurch gewann die Initiative der Wissenschafter, die sich für die Freiheit der Wissenschaft und für historische Debatten ohne Angst vor Kriminalisierung einsetzte, an Schwung.

Wissenschafter, die sich der Linken zurechnen, sind an der Initiative ebenso beteiligt wie erklärte Liberale. „Hier sprechen mithin keine durchgeknallten Rechtsradikalen, die gerne die Geschichte des Zweiten Weltkriegs umschreiben möchten, keine Spinner, die Meinungsfreiheit sagen und Holocaustleugnung oder Aufrufe zum Rassenhass meinen – sondern hochrespektable Gelehrte, die wissen, dass solide historische Forschung Gewissensfreiheit, freie Debatten der Experten und der Fachkollegen voraussetzt“, betont der britische Historiker Gordon Ash..

Wenig Resonanz in Deutschland

Vor allem in englischsprachigen Medien wird schon länger eine Debatte über eine Geschichtspolizei geführt, die die historische Debatte angeblich prägt. In deutschen Medien ist bisher über die Initiative aus Frankreich wenig berichtet worden. Lediglich in der Wochenzeitung Freitag und der linken Tageszeitung Neues Deutschland wurde der Appell von Blois positiv gewertet. In beiden Beiträgen wurde aber auch deutlich, wie schwierig eine Debatte über die Entkriminalisierung der Geschichte in Deutschland ist.

Wie der DDR-Historiker Kurt Pätzold im ND richtig feststellte, gibt es seit 1990 in Deutschland eine Sicht auf die DDR, die nicht strafrechtlich, sondern diskursiv hergestellt wird. Während vor 1989 selbst in sozialdemokratischen Historikerkreisen BRD-DDR-Vergleiche angestellt wurden, ist es seit 1989 eher wissenschaftliche Praxis, die DDR und das NS-Regime zu vergleichen, Es gibt allerdings an den Rändern der Historie dagegen weiterhin heftigen wissenschaftlich und politisch begründeten Widerstand. Eine Forderung nach Entkriminalisierung der Geschichtsdebatte würde hier kaum greifen. Rudolf Walter hat denn auch in seinem Beitrag in der Wochenzeitung Freitag offen benannt, für welches Feld diese Formel gelten würde und in seinen Beitrag auch deutlich gemacht, wie schnell die Forderung nach einer Entkriminalisierung selber inhaltsleer werden kann.

Holocaust-Leugnung und Verharmlosung der Nazi-Herrschaft sind nach Paragraph 130 des Strafgesetzbuches auch hierzulande strafbar. Das ist politisch richtig und historisch verständlich, hat aber fatale Konsequenzen, wenn die Norm auf die gesamte Geschichte ausgedehnt würde. Die Kriminalisierung der Geschichte nach aktuellen moralischen und politischen Standards führt weder zu einem kritischen Geschichtsbewusstsein noch zu einer substantiellen Erinnerungskultur. Staatlich verordnete und pädagogisch drapierte Geschichtsbilder zerstören vielmehr Geschichtsbewusstsein und Erinnerungskultur. Das ist ablesbar am staatlich instrumentalisierten Antifaschismus des SED-Regimes und seiner Bildungsagenturen. Diese Inszenierung hat den Kenntnisstand der ostdeutschen Bevölkerung über die nationalsozialistische Vergangenheit nicht erhöht, aber die wissenschaftliche Forschung 40 Jahre lang behindert - eine gravierendere Folge als die Entwertung des Antifaschismus zur substanzlosen Parole.

Rudolf Walter

Nun gab es in der DDR sehr wohl eine wissenschaftliche Forschung zum Thema Faschismus, die auch nach dem Ende der DDR noch anerkannt wird. Dass in beiden deutschen Staaten bestimmte Aspekte der NS-Geschichte mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt und andere weitgehend ausgespart wurden, hatte in erster Linie politische Gründe.

Ein gutes Beispiel ist der Umgang mit dem Thema NS-Judenverfolgung in Westdeutschland. Während es in den 50er Jahren weitgehend tabuisiert war und in den 60er Jahren anlässlich der Auschwitzprozesse vor allem in der jüngeren Generation das Interesse erwachte, kam der große Durchbruch erst Ende der 70er Jahre mit der Ausstrahlung der Fernsehserie Holocaust. Noch Anfang der 70er fand das Standardwerk „Die Vernichtung der europäischen Juden“ von Raul Hilberg in Deutschland lange Jahre keinen Verleger. Es wäre sicher ein lohnendes Forschungsobjekt, die Diskursverschiebungen, ja geradezu Paradigmenwechsel zu untersuchen, die bei dem Thema „Verfolgung der Juden im NS“ nach 1945 in Deutschland stattgefunden haben.Dabei spielten gesetzliche Maßnahmen eine völlig untergeordnete Rolle.

Wenn sich heute revisionistische Historiker als Opfer der angeblichen Geschichtspolizei darstellen und die Freiheit der Forschung beschwören, handelt es sich um Propaganda. Allerdings ist die Frage berechtigt, ob man ihnen nicht den Wind aus den Segeln nimmt, wenn man ihnen die Ehre der juristischen Verfolgung verweigern würde, durch die sie sich als Märtyrer von ihren Gesinnungsfreunden feiern lassen können. Ein Verzicht auf strafrechtliche Verfolgung bedeutet keine Toleranz gegenüber revisionistischen Geschichtslegenden. Ein Beispiel war das Verfahren, das die US-Historikern Deborah Lipstadt im Jahr 2001 gegen den Revionisten David Irving führte. In dem streng wissenschaftlichen Verfahren konnte Irving schließlich den Massenmord in Auschwitz nicht mehr leugnen und hat so in der rechten Gemeinde stark an Ansehen verloren. Lipstadt hat sich skeptisch zu Gesetzen geäußert, mit denen revisionistische Thesen gebannt werden sollen, kritisiert aber auch die Liberalen, die für eine offene Diskussion auch mit Holocaustleugnern eintreten:

Es gibt Dinge in der Holocaustforschung, über die man diskutieren kann. Man kann über die Arbeiten von Goldhagen debattieren oder über die Rolle der Judenräte, man kann darüber streiten, ob die Alliierten Auschwitz oder die Gleise nach Auschwitz hätten bombardieren sollen. Man kann über die Verantwortung des ganz normalen Deutschen oder des ganz normalen Polen streiten und darüber, wer ein Held war und wer nicht. Man kann sogar darüber diskutieren, ob und in welcher Weise der Holocaust einzigartig war. Das sind wichtige Themen für ernste historische Debatten. Aber darüber zu reden, ob er stattgefunden hat, ist jenseits des Diskutierbaren. Niemand redet darüber, ob der Zweite Weltkrieg wirklich stattfand, es gibt keine Debatten darum, ob es die Sklaverei gab oder nicht.

Deborah Lipstadt