Mumbai oder die Logik des Terrors

Wahrscheinlich geht es bei der Dramaturgie des Terrors gar nicht um Ideologie, Religion oder Politik

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Wieder einmal ist es Terroristen gelungen, einen Coup zu landen. Die Logik ist unerbittlich. Nachdem die zahllosen, oft täglichen Anschläge in den Brennpunkten Irak, Afghanistan, Pakistan und Indien meist von der globalen Medienöffentlichkeit nicht mehr beachtet werden, haben sich nun die vermutlich islamistischen Terroristen mit einem ausgefeilten Plan oder einem kollektiven Amoklauf wieder in die Aufmerksamkeit zurückgeschossen. Zwar bleibt das Spektakel des 11.9. in New York bislang uneinholbar, aber es selbst und die Nachahmer zeigen, dass die Geschichte trotz des jahrelangen Krieges gegen den Terror und aller Überwachungs- und Präventionsmaßnahmen noch lange nicht zu Ende ist.

Wie es meist al-Qaida zugeschrieben wird, wurden gleichzeitig mit Maschinengewehren, Autobomben und Handgranaten 12 Orte, darunter zwei Hotels, ein Restaurant, ein Krankenhaus und der Bahnhof angegriffen, in dem die Terroristen wahllos herumgeschossen haben sollen. Der Angriff auf die Luxushotels Taj Mahal und Oberoi zielte in erster Linie auf Ausländer, vor allem offenbar auf Briten und Amerikaner, wie ein Augenzeuge berichtete, der als Geisel genommen wurde, aber flüchten konnte. Mit den spektakulären Angriffen haben die Täter nicht nur die globale Medienaufmerksamkeit im Visier, sondern wohl auch versucht, eine Legitimierung zu konstruieren.

Wer hinter den Angriffen steht, ist noch unbekannt, auch welche Ziele sie haben. Es hat sich zwar eine Organisation namens Deccan Mujahideen zu dem Anschlag in Emails bekannt, aber wer diese Gruppe ist und was sie will, weiß bislang niemand. Es könnte sich um den globalen Dschihad von al-Qaida handeln oder beispielsweise um Interessen, die – zumindest im Hintergrund - mit schwelenden und ungelösten Kaschmir-Konflikt zusammen hängen. Daher wird auch vermutet, dass die Anschläge auf Lashkar-e-Taiba oder die Indian Mujahideen zurückgehen.

Diese Anschläge scheinen aber wieder einmal herauszustreichen, dass es neben zahlreichen Terrorattacken, die gegen konkrete Gegner geführt werden oder irgendwie zur Befreiung eines Territoriums dienen sollen, auch viele gibt, die primär des Spektakels und der Aufmerksamkeit willen ausgeführt werden. Ähnlich wie bei den Amokläufern im Westen sind es Selbstmordversuche, die möglichst viele Menschen unter möglichst großer medialer Aufmerksamkeit mit in den Tod ziehen sollen. Es ist ein Terror um des Terrors willen, eine wahrhaft surreale, in diesem Fall kollektiv und gut vorbereitete ausgeführte, Tat, die unter Einsatz des eigenen Lebens der Täter geschieht, die als Märtyrer und mediale Helden untergehen wollen, die sich ins globale Bewusstsein und in die Hitliste der größten Anschläge mit den meisten Opfern gebrannt haben. Die Ideologie, auch die Religion, wohl auch jedes politische Ziel ist eher zweitrangig. Primär ist die fatale Entschlossenheit der blutigen nihilistischen Revolte, die mittlerweile ihre realen Vorbilder, ihre medialen Bilder in Filmen und Computerspielen und vor allem ihre eigene Logik gefunden hat.

Es sind die wirklichen No-Future-Kids, die da mit Bomben, Gewehren und Granaten Angst und Schrecken verbreiten, um ihren Leben ein Ende setzen können, das in apokalyptischen Bildern wie ein Feuerwerk auflodert und verbrennt. Gegen eine solche Entschlossenheit, mit einem möglichst großen Spektakel aus dem Leben zu gehen, ist kaum etwas zu machen. Wer nicht weiterleben will, sondern den Tod sucht und dabei das letzte Abenteuer, den Durchbruch zur irreversiblen Wirklichkeit erleben will, ist weder mit Vernunft noch mit Abschreckung, basierend auf der Dämonisierung des Bösen, abzuhalten oder zu bekehren. Das ist höchst beunruhigend, vor allem auch deswegen, weil jeder "Krieg gegen den Terror" das Abenteuer nur größer macht und die Faszination verstärkt.

Tritt man einen Schritt zurück, so scheint es so, als würde hinter dem wie auch immer motivierten Terror und Amok der blanke Tod in Gestalt des Terrors sein unübersehbares Gesicht zeigen, die Wirklichkeit, die bei aller Virtualisierung endgültig und einmalig ist, die aber auch Reichtum, Macht und Konsum zunichte macht. Vor dem Tod ist jeder gleich, und er ist das Faktum, das jedem Wachstums- und Fortschrittszwang, wie er uns gerade wieder in der Finanzkrise heimsucht, widersteht. Das hatte schon Jean Baudrillard angesichts der Anschläge vom 11.9., aber schon zuvor gegenüber dem kapitalistischen System, zu formulieren versucht: nämlich dass der Terror von innen heraus ersteht, dass wir nicht von außen angegriffen werden, sondern es eine verschwiegene, fatale Komplizenschaft gibt, die ähnlich intim ist wie die zwischen Terror und Medien:

Im äußersten Falle kann man sagen, dass sie es sind, die es getan haben, aber wir es sind, die es gewollt haben. Wenn man dies außer acht lässt, verliert das Ereignis seine ganze symbolische Dimension, ist es ein reiner Unfall, ein rein willkürlicher Akt, die mörderische Phantasmagorie einiger Fanatiker, die man nur auszuschalten bräuchte. Nun wissen wir aber genau, dass dem nicht so ist. Daher der ganze kontraphobische Wahn des Exorzismus des Bösen: weil es da ist, überall, wie ein obskures Objekt der Begierde. Ohne diese tiefgreifende Komplizenschaft fände das Ereignis nicht jenen Widerhall, den es gehabt hat, und die Terroristen wissen in ihrer symbolischen Strategie ganz genau, dass sie auf diese Komplizenschaft, die nie eingestanden werden kann, zählen können.

Jean Baudrillard

Update: Für den Vergleich zwischen (westlichen) Amokläufern und (islamistischen) Terroristen könnte auch sprechen, dass offenbar die Täter in Mumbai jung waren. Australische Zeugen, die aus dem Cafe Leopold fliehen konnten, sprachen davon, dass es sich um junge "Boys" gehandelt habe. Das legen auch erste Aufnahmen nahe.

Der Islam-Forscher Oliver Roy versteht die radikalisierten, "home-grown" Jugendlichen, die al-Qaida in Europa und anderen Regionen außerhalb der Kriegsgebiete in Afghanistan, im Irak oder Tschetschenien anhängen, auch als gewalttätige "Jugendbewegung", die viel gemein hat mit anderen Formen der Gewalt oder der Subversion und mit dem fundamentalstischen Islamismus höchstens kokettieren. Bin Ladens Erfolg sei es nicht, so Roy, "eine moderne und effiziente islamistische politische Organisation geschaffen, sondern ein Narrativ erfunden zu haben, das es Rebellen ohne Grund ermöglicht, sich mit einem Grund zu verbinden". Dadurch wird das nihilistische Aufbegehren mit einem vorgeblichen Sinn legitimiert. Dazu dient sich der islamistische Terrorismus, auch durch seine Dämonisierung, an, es könnte aber letztlich auch ein anderer Grund sein, der Aufmerksamkeit, Radikalität und Sinn verspricht.