Wer ist Antisemit?

Ein philosophischer Versuch

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Wer ist Antisemit? Diese Frage ist doppeldeutig. Man kann sie so verstehen, dass sie nach einer Liste verlangt, auf der im Idealfall alle Antisemiten namentlich aufgeführt sind. Man kann sie aber auch (abstrakter) als Frage danach auffassen, welche Bedingungen notwendig und zusammengenommen hinreichend sind, um zu Recht auf dieser Liste zu stehen. Diese zweite (abstraktere) Lesart ist ganz klar die grundlegendere. Sie steht im Folgenden daher im Mittelpunkt.

Jedenfalls zunächst. Aber wir werden bald sehen, dass die eigentlichen Probleme erst beginnen, wenn es konkret wird, wenn man also nach der Klärung der Definitionsfrage auf die Listenfrage, d.h. auf die Verifikationsfrage, zurückkommt. Um es gleich vorweg zu sagen: Ich maße mir nicht an, mit dem folgenden Beitrag auch nur einen einzigen konkreten Fall entscheiden zu können. Es geht mir lediglich darum, in punkto Antisemitismusdiskurs einige Dinge klarzustellen. Also: Genau wann bin ich Antisemit?

Antisemitische Einstellungen

Man beachte: Es geht hier um den Begriff des Antisemitismus, nicht um die diversen Eigentümlichkeiten dieses Wortes. Dass sich der Antisemitismus nur gegen Juden, nicht, wie das Wort nahe legt, gegen "Semiten" im allgemeinen wendet, darf hier wohl als bekannt vorausgesetzt werden.

Ganz grob: Ein Antisemit ist jemand mit einer antisemitischen Einstellung. Und schon sind wir bei der Kernfrage: Wann ist eine Einstellung antisemitisch? Mein Vorschlag: Genau dann, wenn sie Juden-diskriminierend ist, und zwar - dem Wörtchen "anti" entsprechend - diskriminierend im negativen Sinne. Mit anderen Worten:

(AS.E) Antisemitisch ist eine Einstellung genau dann, wenn ihr zufolge ein Jude schon allein deswegen weniger wert sein soll, weil er Jude ist.

Und wann soll ein Verhalten (auch ein sprachliches Verhalten) als antisemitisch gelten? Dazu gibt es zwei verschiedene Ansätze:

(AS.V1) Ein Verhalten ist antisemitisch genau dann, wenn sich in ihm eine antisemitische Einstellung manifestiert.

Oder

(AS.V2) Ein Verhalten ist antisemitisch genau dann, wenn das Verhalten antisemitisch wirkt.

Nur der erste Ansatz ist brauchbar. (Die Begründung dafür reiche ich bei Bedarf gerne nach.) Der zentrale Begriff des Antisemitismus-Diskurses ist danach der der antisemitischen Einstellung. Mit ihm lassen sich, wie eben schon getan, antisemitisches Verhalten und antisemitische Subjekte bzw. Akteure definieren; aber nicht umgekehrt. Antisemitisch ist eine Einstellung bzw. ein Verhalten nämlich gerade nicht deshalb, weil es das Verhalten bzw. die Einstellung eines Antisemiten ist. Denn schließlich ist nicht alles, was Antisemiten tun oder glauben, eo ipso antisemitisch. Es ist umgekehrt: Man wird zum Antisemiten erst durch das, was man für richtig hält - und folglich tut. Manifestiert sich eine antisemitische Einstellung von jemandem in dessen (auch sprachlichem) Verhalten, spricht man von manifestem Antisemitismus; wenn nicht, von einem latenten.

Der Kern des hier vertretenen Ansatzes ist: Antisemitismus = Juden-Diskriminierung. Diese Definition unterscheidet sich damit deutlich von anderen, die stattdessen meist von Juden-Verachtung Juden-Feindschaft oder gar von Juden-Hass sprechen. So zum Beispiel die "Arbeitsdefinition" (PDF) des Wiener EMUC (European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia), die besagt: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die man als Judenhass bezeichnen kann." Diese Vorschläge sind zu eng. Sie erfassen nicht das ganze Spektrum des Antisemitismus, heben vielmehr nur auf die Fälle ab, in denen die Diskriminierung mit mehr oder weniger starken negativen Emotionen gegenüber den Diskriminierten einhergeht. Dem muss aber nicht so sein. Diskriminierende Einstellungen sind, wie sich nicht nur im Eichmann-Prozess gezeigt hat, mit völliger Gefühllosigkeit verträglich. Diskriminierung kann mit Ressentiments und Emotionen (von schwachen Vorbehalten bis zu glühendem Hass) verbunden sein - und ist das auch oft; aber dem muss nicht so sein.

Also: Wer wirklich jede Form von Antisemitismus bekämpfen will, sollte diesen Kampf nicht bereits mit einem zu engen Antisemitismusbegriff beginnen. Auch von daher ist es zu begrüßen, dass der Deutsche Bundestag dem Vorschlag, die so genannte "europäische Arbeitsdefinition" zur verbindlichen zu erklären, nicht gefolgt ist. Andererseits wirkt es aber auch wenig überzeugend, wenn die Definitionsfrage einfach offen gelassen wird.

Den Diskriminierungsaspekt des Antisemitismus bei dessen Definition in den Mittelpunkt zu stellen, macht die strukturellen Parallelen zu anderen Formen der Diskriminierung deutlich - und damit auch die gemeinsame Quelle von deren prinzipieller Verwerflichkeit.

Den drei Begriffsebenen des antisemitischen Diskurses, nämlich

  • Subjekt / Akteur: Antisemit
  • Verhalten: Antisemitisches Verhalten
  • Einstellung: Antisemitische Einstellung

entsprechen die folgenden Parallelen - und diese Analogie werde ich mir mehrfach zu Nutze machen:

  • Subjekt / Akteur: Rassist, Sexist, Nationalist, Speziezist
  • Verhalten: Rassistisches, Sexistisches, Nationalistisches, Speziezistisches Verhalten
  • Einstellung: Rassistische, Sexistische, Nationalistische, Speziezistische Einstellung

Diese Parallelen reichen tief: Antisemitisch, rassistisch, nationalistisch, sexistisch etc. - das sind allesamt stark wertende Ausdrücke, mit denen wir (unserem heutigen Sprachgebrauch zufolge) die betreffenden Akteure, Verhaltensweisen und Einstellungen als moralisch verwerflich verurteilen.

Und zwar ohne jede Einschränkung, ohne jedes Wenn- und Aber. Und auch zu Recht. Denn: Für keine dieser Verhaltensweisen oder Einstellungen gibt es (anders als für Lügen in Notfällen z.B.) irgendeine moralische Rechtfertigung. Solche Verhaltensweisen und Einstellungen sind, mit anderen Worten, schon per se moralisch verwerflich. M.a.W.: Es gibt keine auch nur denkbaren Ausnahmezustände (Notwehrsituationen), in denen Antisemitismus, Rassismus, Sexismus etc. rechtfertigbar wären.

Das hat einen ganz einfachen Grund. Diese Verhaltensweisen und Einstellungen verstoßen allesamt gegen eines unserer elementarsten Moralprinzipien. Nämlich gegen das Diskriminierungsverbot, wonach jegliche Art von Rassen-, Geschlechts- etc. Diskriminierung verboten ist - und zwar bedingungslos. Ob das, was jemand tut, in moralischer Hinsicht gut oder schlecht (richtig oder falsch) ist, das darf unter keinen Umständen davon abhängen, ob die betreffende Person weiß oder gelb oder schwarz ist; auch nicht davon, ob Mann oder Frau; und ebenso auch nicht davon, ob sie Jüdin ist oder nicht.

Dieses Diskriminierungsverbot wird oft (äquivalent) auch als Gleichheitsgebot formuliert: In moralischer Hinsicht zählen alle Rassen, Geschlechter und Ethnien etc. ohne jede Einschränkung gleich viel. Zu welcher Rasse wir gehören, zu welchem Geschlecht, zu welcher Ethnie etc. - all dies ist in moralischer Hinsicht absolut irrelevant.

Das universelle Gleichheitsgebot setzt keine empirischen Gleichheitsannahmen voraus; es fordert auch keine undifferenzierte Gleichbehandlung. Es verlangt nur, dass, auch wenn wir verschiedenen Rassen oder Geschlechtern, Ethnien etc. angehören, unsere gleichen Interessen unter den gleichen Umständen auch in gleicher Weise berücksichtigt werden müssen. Dass zum Beispiel das Leid einer jüdischen Mutter über den Tod ihres Kindes genauso viel zählt wie das gleiche Leid einer deutschen oder einer palästinensischen Mutter.

Diskriminierungen richten sich in der Regel gegen Andere. Viele sehen daher bereits in der wir-versus-die-Andern-Distinktion die Wurzel jeglicher Diskriminierung. Ohne Abgrenzung, so ihre Kernthese, keine Ausgrenzung. Bzw., noch stärker: Diese Abgrenzung des Andern ist schon dessen Ausgrenzung. Der Andere ist anders als wir = der Fremde. (Vergleiche: Wir Deutschen versus die Juden.)

Es kann hier offen bleiben, ob mit dieser Ausgrenzung mit begrifflicher Notwendigkeit auch bereits eine Herabsetzung der Ausgegrenzten verbunden ist oder nicht. Der Passus "weniger wert sein" im Definiens unserer Definition drückt aber genau eine solche Herabsetzung aus.

Dass sich Diskriminierungen in der Regel gegen Andere wenden, schließt die Möglichkeit einer Selbstdiskriminierung keineswegs aus. Wer sich selbst hasst, tut das mitunter auch deshalb, weil er nicht so ist wie "die Anderen". Auch Frauen können Frauenfeindinnen sein; auch Schwarze können ihre schwarzen Brüder und sich selbst (als Schwarze) verachten; auch Deutsche können Anti-Deutsche werden; und so ist auch jüdischer Selbsthass keine begriffliche Unmöglichkeit. Antisemit kann im Prinzip jeder sein. Also auch ein Jude. Dass jemands Auffassung schon deshalb gar nicht antisemitisch sein könne, weil er selber Jude sei, ist falsch.

Die antisemitische Diskriminierung ist in einem Punkt spezifischer als die anderen erwähnten Arten der Diskriminierung. Während die Begriffe der Rassen- bzw. Geschlechter- bzw. der ethnischen Diskriminierung die Diskriminierung irgendeiner Rasse (etwa der Schwarzen gegenüber den Weißen - aber auch umgekehrt), irgendeines Geschlechts (der Frauen gegenüber den Männern - aber auch umgekehrt) bzw. irgendeiner Ethnie (der Basken etwa gegenüber den anderen Spaniern - aber auch umgekehrt) einschließen, hebt die antisemitische Diskriminierung allein auf die Diskriminierung einer ganz bestimmten Gruppe ab, auf die der Juden eben. Dass eine bestimmte Gruppe diskriminiert wird, sagt noch nichts darüber aus, gegenüber welchen anderen Gruppen sie diskriminiert wird. Es beinhaltet nur, dass die diskriminierte Gruppe - aus der Sicht des Diskriminierenden - weniger zählt als mindestens irgendeine andere. Wir brauchen in diese Diskriminierungsmatrix nicht weiter einzudringen. Die beiden wichtigsten Diskriminierungsfälle sind diese: Der Normalfall: Wir diskriminieren eine andere Gruppe gegenüber der eigenen Gruppe. Und der Extremfall: Wir diskriminieren eine andere nicht nur gegenüber der eigenen Gruppe, sondern auch gegenüber allen anderen Gruppen.

Übrigens: Auch eine philosemitische Einstellung kann moralisch verwerflich sein. Falls auch sie diskriminiert. Also immer dann, wenn "Philosemit sein" soviel bedeutet wie: Juden per se als (in moralisch relevanter Hinsicht) wertvoller ansehen als andere. Denn daraus folgt bereits, dass, wer immer auch die Anderen sein mögen, diese ihrerseits per se weniger wert sind als andere (die Juden nämlich). Genau dies aber verbietet das universelle Diskriminierungsverbot.