Vom eigenen Haus direkt auf die Straße

Die Welle der Zwangsversteigerungen von Wohnraum in den USA vergrößert die Anzahl der Obdachlosen. Folge: Repressionen und Gewaltakte gegen Obdachlose nehmen dramatisch zu

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Allein im Jahre 2007 wurden 2.203.295 Verfahren auf Zwangsversteigerungen von Wohnhäusern in den USA eingeleitet. Ein einsamer Rekord, nur vergleichbar mit den späten zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Möglich wurde dieser massenhafte Ruin bürgerlicher Existenzen durch die Lockerung der Kreditvergaberegeln. Geschleift wurde die Regel, dass ein Schuldner nicht mehr als 38 Prozent seines monatlichen Einkommens für die Abzahlung seiner Hypotheken aufwenden sollte. Auch Bonitätsprüfungen unterblieben.

So werden arglosen Bürgern von unseriösen Geldinstituten Darlehen für ein eigenes Haus aufgeschwatzt. Wobei in den meisten Fällen offensichtlich ist, dass die überredeten Hauskäufer nicht dauerhaft in der Lage sein werden, ihre Schulden abzuzahlen. Auf diese Weise werden gerade jene Kreditkunden dazu gebracht, flexiblen Zinssätzen zuzustimmen, die sich das Risiko am allerwenigsten leisten können. Unseriöse Geldhäuser erheben Zinssätze zwischen 12 und 16 Prozent. Schuldner mit prekären Arbeitsverhältnissen werden schnell zahlungsunfähig. Aber auch gutverdienende Kreditnehmer geraten durch Erkrankung und nachfolgende Arztkosten in Zahlungsverzug beim Darlehen. Viele Fallgeschichten zeigen, dass jene Kreditfirmen auf die Bitten ihrer Kunden um Stundung und Umschichtung der Zahlungspflichten gar nicht erst eingehen, sondern sofort das Verfahren auf Zwangsversteigerung einleiten.

Der Sturz in die Obdachlosigkeit ist nun gar nicht mehr so fern. Und das kann sowohl die enteigneten Hausbesitzer treffen, wie auch ihre Mieter. Hat der neue Besitzer eine andere Verwendung für das Haus vorgesehen, müssen auch die Mieter von Heute auf Morgen ihre Wohnung räumen. Und preiswerter Wohnraum ist in den USA Mangelware. Wie die National Alliance to End Homelessness belegt, können sich 12.3 Millionen US-Bürger ihre Wohnung kaum noch leisten, denn sie müssen mehr als 50% ihres Monatseinkommens für Miete aufbringen. Der gesetzliche Mindestlohn beträgt in den USA 5.85 Dollar die Stunde, also etwa 4.70 Euro. Die NAEH hat vorgerechnet, dass unter den Bedingungen des gesetzlichen Mindestlohns 84 Stunden in der Woche gearbeitet werden müssten, um sich mehr als eine kümmerliche Einbett-Herberge leisten zu können.

Couch-Homeless

Das Heer der Geringverdiener ist immer größer geworden, die Anzahl der subventionierten Sozialwohnungen wurde jedoch beträchtlich zusammengestrichen. Ein Geringverdiener kann nicht immer sofort eine neue Wohnung anmieten. Verschiedene Befragungen haben ergeben, dass auf diese Weise in den USA zwischen 9 und 15% der Bevölkerung irgendwann in ihrem Leben obdachlos gewesen sind.1 50% aller Obdachlosen gehen einer Erwerbsarbeit nach.

Es ist also auch gar nicht so ungewöhnlich, dass sich selbst enteignete Hausbesitzer innerhalb kürzester Zeit auf der Straße wiederfinden. Für die meisten von ihnen ist die Verweildauer in der Obdachlosigkeit relativ gering. Auch hier liegen nur Schätzungen vor, aber es handelt sich bei der großen Mehrheit um einige Monate, bis sie dann doch irgendwie ein Dach über den Kopf haben. Viele obdachlos gewordene Ex-Hauseigentümer finden zunächst Unterschlupf bei Verwandten, Freunden oder Bekannten. Diese sog. „couch-homeless“ oder auch: „couch-surfer“ tauchen in keiner Obdachlosenstatistik auf. Wenn die Geduld und Großzügigkeit der provisorischen Gastgeber erschöpft sind, finden sich viele Couch-Obdachlose plötzlich auf der Straße wieder.

Und hier verschärft sich für sie die Gefahrenlage dramatisch. Jetzt fallen die Obdachlosen der Öffentlichkeit auf. Seit Zwangsversteigerungen von Hauseigentum in den USA zu einem Massenphänomen geworden sind, stellen kommunale Behörden und Selbsthilfeorganisationen vor Ort ein dramatisches Wachstum von Zeltstädten, Hüttenbehausungen und Notunterkünften fest. Hier müssen sich die ehemaligen Hauseigentümer mit einer äußerst heterogenen Gruppe von Obdachlosen das Terrain und die knapper werdenden Hilfsleistungen von Kommunen und gemeinnützigen Privatinitiativen teilen. Zu dieser Gruppe gehören Menschen, die alkohol- oder drogenkrank sind. Personen, die chronisch krank sind und deren ganzes Erspartes in medizinischer Behandlung aufgezehrt wurde. Die expandierende Gefängnisindustrie (Im Strudel der Gefängnisindustrie) entlässt stigmatisierte Personen auf die Straße, alleine 650.000 im Jahre 2008. Entlaufene Kinder. Frauen, die mitsamt ihren Kindern vor gewalttätigen Männern geflüchtet sind. Kriegsveteranen, die sich nach dem Trauma des Krieges im Zivilleben nicht mehr zurechtfinden.2

Die neuen Obdachlosen überfordern die betroffenen Gemeinden

Deren finanzieller Spielraum wird immer enger. Der Bund hat sich, gerade unter der Präsidentschaft von Bill Clinton, immer mehr aus der Verantwortung zurückgezogen. So beschloss der Kongress in Washington 1995, dass Menschen mit Alkohol- und Drogensucht kein Anrecht auf staatliche Unterstützung mehr besitzen. Ebenfalls 1995 wurde die „General Assistance“ abgeschafft: Nach dieser Regelung erhielten auch jene Menschen eine minimale Unterstützung, auf die keine anderen Förderprogramme anwendbar waren. Hilfe gewähren Kommunen, zusammen mit privaten Trägern, jetzt, mehr schlecht als recht, durch improvisierte Suppenküchen und Notunterkünfte.

Die Tatsache, dass Obdachlose sichtbar sind, beunruhigt allerdings immer mehr Stadtverwaltungen. Sie reagieren ausgesprochen feindselig gegen Obdachlose und versuchen, diese Leute und ihr Problem mit dem Stigma der Kriminalität zu verbinden, wie eine Studie vom November 2007 zeigt. Die Stadtväter fürchten um das Image und den Marktwert ihrer Kernstädte.

Die Feindschaft gegen Obdachlose hat Tradition in den USA. Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert sahen der Calivnismus und nachfolgend der Sozialdarwinismus in Armut und Obdachlosigkeit ein Zeichen von Ungnade Gottes oder der Natur. In der Ausgabe der Chicago Tribune vom 12.7.1877 empfiehlt Herausgeber Joseph Medill3:

Das Gesetz für Obdachlose ... ist für Vorstadtbereiche, wo Polizeibeamte selten und Friedensrichter schwer zu gewinnen sind, nicht sehr hilfreich. Die einfachste Lösung für Leute, die nicht zur Gesellschaft der Menschen gehören, besteht wahrscheinlich darin, ein bisschen Strichnyn oder Arsen in das Essen und andere Dinge zu bringen, die Tramps zugeteilt bekommen. Das verursacht den Tod in einer vergleichsweise kurzen Zeit. Das schreckt andere Tramps soweit davon ab, dass sie sich aus dieser Nachbarschaft fernhalten ...

Verbot von Freiküchen

Eine Art der Vergrämung von Obdachlosen geschieht durch Polizeirazzien gegen improvisierte Zeltstädte. Im Januar 2007 wurde eine Obdachlosenzeltstadt in St. Petersburg in Florida von der Polizei geschleift. Immer größerer Beliebtheit erfreut sich bei den Stadtverwaltungen das Verbot von privat organisierten Freiküchen für Obdachlose. In der Begründung für ein solches Verbot variieren die Städte: Entweder werden hygienische oder versammlungsrechtliche Begründungen vorgeschoben. In Orlando wurde ein Mann verhaftet, der in einem städtischen Park Essen kostenlos an Obdachlose ausgab. Der Freikoch musste 500 Dollar Bußgeld entrichten und 60 Tage Haft abbüßen. Die texanische Metropole Dallas droht jedem Bürger, der Obdachlose verköstigt, 2.000 Dollar Bußgeld und sechs Monate Gefängnis an.

Die improvisierten Freiküchen in städtischen Parks oder in Flaniermeilen sind häufig explizit als politischer Protest gemeint. Die Initiative Food Not Bombs (Nahrung statt Bomben) protestiert auf diese Weise gegen eine verfehlte Politik, die staatliche Mittel vornehmlich für Rüstung einsetzt, und die vitalen Bedürfnisse der Bürger vernachlässigt. Bereits 1968 hatten die Studenten der Berkeley-Universität eine Grünanlage zum Volkspark deklariert, und dort Bedürftige mit Nahrung und Kleidung versorgt. Am 15.8.1988 ließ San Franciscos Bürgermeister Art Agnos eine Sondereinheit der Polizei eine solche Food-Not-Bombs-Freiküche im Golden Gate Park zerschlagen. Dabei kam es zu 94 Festnahmen.

Oft versuchen Bürger vor Ort die repressive Haltung der Stadtväter in Verhandlungen abzumildern. Manchmal erreichen sie, dass die Freiküchen genehmigt werden – allerdings auf unattraktiven Plätzen am Rand der Städte, in der Unsichtbarkeit der Peripherie.

Obdachlose werden zunehmend Opfer von Gangs

Die Kriminalisierung und Marginalisierung der Obdachlosen ermutigt wiederum jugendliche Gangs, die schutzlos im Freien Campierenden als vogelfrei zu betrachten. Eine Studie dokumentiert einen beträchtlichen Anstieg von Gewalttaten in den letzten zwei Jahren. Angriffe gegen Obdachlose haben 2007 um 13% gegenüber dem Vorjahr zugenommen. Bei Todesopfern gab es gar einen Anstieg um 40%. Die Täter sind zwischen 13 und 19 Jahre alt, die Opfer im Durchschnitt 48 Jahre.

In dieser Spielart des Gewaltverbrechens ist natürlich die Dunkelziffer beträchtlich, weil davon auszugehen ist, dass viele attackierte Obdachlose die Tat nicht bei der Polizei melden. Zudem, so beklagt der Bericht, werden von Justiz und Polizei Delikte gegen Obdachlose gar nicht als besonderer Straftatbestand wahrgenommen. Deshalb fordern die Autoren, Vergehen gegen Obdachlose unter den Schutz der Gesetzgebung für Hate Crimes zu stellen. Hate Crime stellt in den USA einen besonderen Straftatbestand dar. Als Hassverbrechen gelten Taten gegen diskriminierte Gruppen.

Die Jugendgangs überfallen die Opfer bei Nacht, übergießen sie mit Benzin und zünden sie an. Oder sie werfen ihre Opfer ins Wasser. Oder prügeln sie mit Baseballschlägern zu Tode. Als Motive geben festgenommene Täter die Suche nach „thrill“ oder „fun“ an. Oft haben sie sich durch das Anschauen von sog. Bumfighting-Videos und mit Alkohol in Stimmung gebracht.

In „Bumfight“-Videos werden Obdachlose durch ein kleines Handgeld dazu gebracht, Passanten anzupöbeln, zu attackieren, Autos mit Hämmern zu traktieren, oder sich mit anderen Obdachlosen zu prügeln. Sich von anderen Leuten verprügeln zu lassen. Oder sie führen Selbstverstümmelung vor. Ein Obdachloser bindet sich einen belastbaren Faden an die Frontzähne. Am anderen Ende befindet sich ein schwerer Stein, den er sodann in die Tiefe plumpsen lässt. Als der Zahn dann immer noch nicht abreißt, lässt er sich von dem Videofilmer den Zahn mit einer Zange ziehen. „Bumfight“-Videos:: erreichen auf Youtube Klickzahlen in Millionenhöhe. Diese Videos sprechen Obdachlosen ein grundlegendes Menschenrecht ab. Nämlich das Menschenrecht auf Unversehrtheit. Damit ist der Anschluss an das Niveau des Chicago-Tribune-Artikels von 1877 wieder hergestellt.

Schutz vor Zwangsversteigerungen

Die Zahl der Zwangsversteigerungen wird möglicherweise 2008 noch einmal den Wert von 2007 übertreffen. Damit wenigstens nicht noch die enteigneten Hausbesitzer das anschwellende Heer der Obdachlosen von nunmehr 3.5 Millionen im Jahre 2008 weiter auffüllen, geben die Obdachlosenorganisationen dem nächsten Präsidenten der USA einige Empfehlungen mit auf den Weg. Zunächst appellieren sie an die große Öffentlichkeit: Die Gesamtwirtschaft ist in Gefahr, wenn die Zwangsversteigerungen nicht sofort abgestellt werden. Denn ganze Siedlungen erleiden einen deutlichen Wertverlust durch Leerstände. Diese Wertvernichtung fällt auf die gesamte Wirtschaft zurück.

Die Bundesregierung könnte sofort 300 Millionen Dollar bereitstellen, um gefährdeten Hausbesitzern mit Zuschüssen unter die Arme zu greifen. Weiterhin sollte der Staat, wie schon zu Zeiten von Franklin Roosevelt, eine eigene Darlehenskasse einrichten. Finanzspritzen an die Banken sollten mit klaren Auflagen zur Fairness und Berechenbarkeit bei der Kreditvergabe verbunden sein. Die bislang aufgespaltenen Aufsichtsbehörden für die Kreditinstitute sollten in einer Superbehörde zusammengefasst werden. Die Bundesregierung sollte die Finanzwelt überwachen:

Wall Street und andere Darlehensinvestoren sollten verantwortlich gemacht werden für die illegalen Praktiken der Darlehensmakler und Verleiher. Verleihern muss verboten werden, Kreditnehmer in zu teure Anleihen zu schleusen und Immobilienbewertungen zu manipulieren.

Wie schützt man jene Leute, die bereits Opfer von Zwangsversteigerungen geworden sind, aber noch nicht auf der Straße sitzen? Besitzer und Mieter müssen ein gesetzliches Bleiberecht erhalten, auch wenn das Haus den Besitzer wechselt. Durch gesetzliche Anreize soll es gemeinnützigen Organisationen erleichtert werden, von Zwangsversteigerung bedrohte Immobilien vorübergehend unter ihre Verwaltung zu bekommen. Als Verwalterin käme z.B. die Solidarkasse Self Help in Frage, die Geldmittel für finanzschwache Familien und strukturschwache Regionen akquiriert. Sofortiges Moratorium für Zwangsversteigerungen. Bestehende Darlehen sollen so umgeschichtet werden, dass die Laufzeit verlängert wird, und der Zinssatz 6% nicht übersteigt.

Angesichts der Dramatik der Foreclosure Crisis hatte selbst Präsident Bush im August dieses Jahres ein umfassendes Housing Bill verabschiedet. Mit Hilfe des National Housing Fund sollen nun mehr Sozialwohnungen erstellt werden als bisher. Und auch die mittlerweile unter Staatsaufsicht gestellten Vermittlungsstellen für Immobilienkredite, Fannie Mae und Frediie Mac, werden Zwangsversteigerungen in ihrem Einflussbereich einstweilen bis zum 9.1.2009 aussetzen. Durch parlamentarische Aufsichtsorgane war bereits verfügt worden, dass Schuldner, deren Schuldendienst die Marke von 38% im Monat überschreitet, diesen Schuldendienst so umstrukturiert bekommen, dass der Wert unter 38% fällt – die sog. „streamlined modification“.

Wenn Barack Obama am 20.1. nächsten Jahres sein Präsidentenamt antritt, kann er im Falle der Zwangsversteigerungen auf ein gut aufgestelltes Netzwerk von privaten und halbstaatlichen Gruppen zurückgreifen, die bereits ausgearbeitete Lösungsansätze konzipiert und teilweise auch schon in der Praxis erprobt haben Welche Strategie er gegen die Foreclosure Crisis anwenden wird, ist bislang noch völlig offen. In seiner ersten Pressekonferenz hat Obama die Immobilienkrise als zentrales Problem genannt, das er anpacken will. In seiner ersten Radioansprache ging er dagegen nicht mit einer einzigen Silbe darauf ein.