Apokalyptisches Spießertum und der nach einer geilen Katastrophe gierende Mediendiskurs

Interview mit dem Zukunftsforscher Matthias Horx

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Matthias Horx hält nichts von der Panikmache, die viele seiner Kollegen betreiben, die von den Medien gepushten Weltuntergangsszenarien lehnt er ab. Er betont, dass Krisen in der Geschichte periodisch wiederkehren und letztlich vor allem Freiräume für Neuanfänge schaffen. „Krisotainment“ nennt er es, wenn Wissenschaftler zusammen mit der Presse düstere Szenarien von kommenden globalen Klimakatastrophen, Generationenkrieg oder dem Artensterben beschwören.

In der Schweiz kamen kürzlich die europäischen Zukunftsforscher zusammen, um sich im Rahmen der European Futurists Conference Lucerne über ihre Ansätze und Prognosen auszutauschen (dazu eine ausführliche Reportage im nächsten Telepolis special 01/2009 zum Thema Zukunft). Mit dabei war auch Trendguru Matthias Horx, der als der einflussreichste Zukunftsforscher im deutschsprachigen Raum gilt, er ist der Gründer und Inhaber des Zukunftsinstituts – und Dozent an der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen. Er hat mehr als 20 Bücher geschrieben, in seinem aktuell erschienenen Werk Technolution. Wie unsere Zukunft sich entwickelt setzt er sich mit der Vergangenheit und Zukunft technischer Innovationen auseinander.

Matthias Horx, Trend- und Zukunftsforscher, Foto: Klaus Vyhnalek

Einst spürte Matthias Horx als Autor und Journalist dem Zeitgeist nach, schrieb das Buch „Die wilden Achtziger. Eine Zeitgeist-Reise durch die Bundesrepublik“ und Artikel unter anderem für das Lifestyle-Magazin Tempo. Er war der letzter Chefredakteur des Frankfurter "Pflasterstrand", bis das ehemalige Sponti-Blatt eingestellt wurde.

Die wilden Zeiten sind schon lange vorbei, zum Interviewtermin kommt ein blasser, grauhaariger, sehr schlanker Anzugträger, etwas beglatzt. Er hat nicht viel Zeit und mag keine Journalisten, die ihm dumme Fragen stellen. Gleich zu Anfang erzählt er, dass er schon Interviews abgebrochen hat. Wenn eine Frage kommt, die ihm nicht passt, dann reagiert er unwirsch, macht ein Gesicht, als bisse er auf eine schimmelige Nuss und ringt mit gesenktem Kopf die schmalen Hände. Aber er beantwortet dann doch sehr freundlich alle Fragen.

Sensationszwang, Apokalypse, Erlösungsphantasien, Talkshows

Was ist Zukunftsforschung? Was macht diese Wissenschaft aus?

Matthias Horx: Zukunftsforschung ist nichts anderes als eine nach vorn blickende Geschichtswissenschaft, die sich allerdings auf andere Wissenschaften bezieht, und in der Lage sein muss, sie zu verknüpfen. Um nur einige zu nennen: Spieltheorie, Systemtheorie, Anthropologie, Ökonomie, aber auch Evolutionsbiologie und Psychologie. Es gibt viele Wissenschaften, die ein guter Zukunftsforscher kennen und bündeln muss, um daraus letzen Endes komplexe Modelle zu erstellen. Das ist die Aufgabe.

Letztlich geht es also immer darum, dass Jetzt gut zu erfassen, um mit Szenarien etwas über die Zukunft aussagen zu können?

Matthias Horx: Das Jetzt wird nicht reichen, Sie brauchen Modelle für Wandlungsprozesse aus der Vergangenheit in die Zukunft hinein. Es geht um die erweiterte Gegenwart. Ich bin ganz optimistisch, dass uns das heute besser gelingt als früher, da wir sehr viel mehr auch dynamische Daten zur Verfügung haben, z.B. im Internet, und wir wissen sehr viel mehr über Systeme und Systembildung, bzw. Prozesse im weitesten Sinne. Wie speziell man dann Einzelzustände voraussagen kann, das ist natürlich etwas anderes.

Um es drastisch auf den Punkt zu bringen: Niemand hat den 11. September an diesem Datum voraussehen können, das wäre Prophezeiung gewesen, aber es gab den einen oder anderen, der diese Art Anschlag voraus gesagt hat – nur hat niemand zugehört. Da sind wir auch schon beim ersten prognostischen Paradox, denn wenn jemand zugehört hätte, wäre der 11. September nicht passiert. Das ist eine seltsame Schleife, dass Sie als Prognostiker immer wieder Dinge verhindern, die sie prognostizieren. Oder dass Sie sie – das ist ja ein Generalverdacht – mitproduzieren.

Was war Ihrer Meinung nach der größte Flop, bzw. was ist der größte Erfolg der Zukunftsforschung?

Matthias Horx: Wir kennen alle diese schönen Bonmots wie die Aussage des IBM-Vorsitzenden Thomas Watson von 1943, dass es künftig einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer geben werde – und viele andere Skurrilitäten. Was aber selten gesehen wird: Es gibt kaum eine Technik, die nicht vorausgesagt worden ist, und auch im Bereich der politischen und sozialen Veränderungen gibt es eine Fülle von Beispielen, wie Menschen früherer Zeiten sehr kompetent in die Zukunft geschaut haben.

Wir untersuchen das in unserem Institut und dabei kommen interessante Fakten zum Vorschein. Zum Beispiel waren es praktisch nie Spezialisten und auch selten professionelle Zukunftsforscher – soweit es sie denn schon gab – sondern meistens etwas eigenbrötlerische, ganzheitlich denkende Querköpfe. Ich könnte Ihnen viele Beispiele aus der letzten großen zukunftsschwangeren Zeit um 1900 nennen, als es viele Versuche gab, hundert Jahre in die Zukunft zu schauen. Da wurde unter anderem das Internet voraus gesagt.

Wenn sich Prognostiker in die Öffentlichkeit wagen, unterliegen sie sofort einem problematischen Zwang, dem Sensationszwang. Wenn Sie mit Prognosen wahrgenommen werden wollen, müssen Sie jede Art von Unsinn erzählen. Das Beste ist Schwarzmalen, die Apokalypse kommt immer gut, bringt Sie in jede Talkshow – und Sie können nicht unrecht haben, denn wenn es nicht so kommt wie vorausgesagt, dann liegt es daran, dass Sie so gut gewarnt haben.

Die andere Möglichkeit ist, erhöhte Erlösungsphantasien von sich zu geben. Das bleibt im Gedächtnis hängen, das sind die Strategien, mit denen man sich Aufmerksamkeit verschafft. Die mühsame Arbeit der Systembildung wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und deshalb geraten die erfolgreichen Propheten nach wie vor in Vergessenheit.

Sie sprechen gerne von „Krisotainment“ oder Katastrophen-Entertainment, dem Übertreiben von entsetzlichen Prognosen, weil der Alarmismus emotional mobilisiert und Aufmerksamkeit erregt. Aber ganz konkret nachgefragt: Der Klimawandel – ist das Szenario angesichts steigender Temperaturen, schmelzender Gletscher und im Meer versinkender Ufer nicht wirklich ein Horror?

Matthias Horx: So wie Sie fragen, sehen Sie ja schon, wie das funktioniert Da kann ich ja eigentlich nur mit ja oder nein antworten. Ich möchte da eine Gegenfrage stellen: Könnte es sein, dass Menschen und Kollektive aus ihrer eigenen inneren psychologischen Dynamik her bestimmte Strafannahmen über die Zukunft produzieren und sie dann zu wissenschaftlichen Theorien machen?

Strafannahmen?

Matthias Horx: In fast jeder Religion gibt es ja eine Sündenannahme, es gibt die Idee des Exzesses und der Übertreibung. Wenn man sich dem Phänomen des Klimawandels mal von den kulturellen Erwartungsmustern her nähert. Jede Religion hat eine Apokalypse, eine Strafe, eine Flut.

Man müsste doch fragen: Ist die globale Erwärmung eigentlich schlecht? Wieso war es im 10. bis 12. Jahrhundert so warm, dass die Wikinger auf Grönland damals Ackerbau und Viehzucht betrieben haben. Das sind ein paar Gegenfragen, die ich einfach mal in die Debatte werfen möchte.

Die Klimakatastrophe ist ein Beispiel für den kulturell indizierten Alarmismus, das heißt eine ganze Gesellschaft leidet unter archaischen Ängsten, die tief in unserer Vergangenheit verankert sind – denn alle Bilder, die dort verhandelt werden, sind ja archaische Bedrohungsbilder der Menschheit – und sie werden verstärkt durch die modernen Mediensysteme.

Das ist der Metadiskurs um die Klimaerwärmung. Ansonsten stellt sich dann noch die Frage: Sind Menschen in der Lage, neue Technologien zu erfinden? Ich glaube, dass Menschen dazu in der Lage sind, dass wir das schon oft gezeigt haben und dass hinter vielen dieser Konstruktionen perfide Vorstellungen stehen, z.B. dass die Chinesen nicht fähig seien denselben Prozess zu durchlaufen wie wir. Warum sollten wir als Menschheit nicht in der Lage sein, unsere CO2-Ausstösse zu drosseln?

Weltfinanzkrise: die Wirkung von Alarmismus in Reinkultur

Aber wird ein Problem überhaupt wahrgenommen, wird etwas geändert, wenn nicht ein bestimmter Alarmismus und die damit verbundene Emotionalität erzeugt wird?

Matthias Horx: Das ist ein zweischneidiges Schwert. Was Sie jetzt in der so genannten Weltfinanzkrise erleben können, ist genau die Wirkung von Alarmismus in Reinkultur. Sie können mit Alarmismus eine ganze Kultur zerstören. Alle Kriege, alle Diktaturen sind eine bestimmte Form von Alarmismus, da werden Sündenböcke gesucht, da werden Ängste geschürt – davor habe ich in der Tat wirklich Angst. Ich bin alarmistisch gegen den Alarmismus.

Was wir jetzt erlebt haben, das Platzen einer Blase, ist ein ganz normaler ökonomischer Prozess. Seit es das Geldsystem gibt, kennen wir Dutzende solcher Krisen. Die Frage ist, was in der kollektiven Wahrnehmung damit gemacht wird. Wenn alle panisch reagieren und ihr Geld von der Bank abheben, dann haben wir wirklich eine große Wirtschaftskrise.

Sie sagen, die Finanzkrise sei vorhersehbar gewesen. Wieso sind dann alle so überrascht – und wieso muss der Staat mit dreistelligen Milliarden-Bürgschaften einspringen?

Matthias Horx: Die Finanzkrise ist das bestvorausgesagte Ereignis der letzten Zeit, das war völlig klar, dass die Blase platzt und es war völlig klar, dass die amerikanische Wirtschaft an die Wand fährt. Das haben wir alle schon seit Jahren gesehen. Die entscheidende Frage ist ja der Verlauf. Den Verlauf von kathartischen Hysterien können Sie in der Tat sehr schlecht voraussagen – den Punkt, wo alle schreien und in Panik verfallen.

Auch das Platzen der Dotcom-Blase hatten viele vorausgesagt, es gab unzählige Bücher dazu. Aber Prognosen sind immer ein Kommunikationsprozess, die Frage ist, wer sie in welchem Kontext wahrnimmt.

Ist es der Alarmismus, die Hysterie, der jetzt auf die Politiker durchschlägt? Oder ist die Überraschung der Politik nur gespielt? Die Milliarden-Etats, mit denen die Banken jetzt gestützt werden, das war für Sie klar, vorhersehbar?

Matthias Horx: Es war klar, dass es eine Weltfinanzkrise geben wird und ich glaube, dass die politischen Mechanismen, wie sie jetzt angelaufen sind, einem sehr klugen und erlernten Prozess entsprechen, der uns deutlich von 1929 unterscheidet. Jetzt geht der Prozess weiter. Es wird deutlich, dass der Abschied von einer bestimmten ökonomischen Logik ansteht, die ich mit amerikanische Globalisierungsform umschreiben würde. Man kann sagen, dass der Finanzsektor die gesamte Weltökonomie als Geisel genommen hatte. Jetzt erleben wir die Demontage und das ist eine handfeste Krise. Aber eine Krise ist in jedem Leben, in jeder Evolution, für jedes Individuum und auch in der Geschichte der Menschheit unausweichlich und zutiefst sinnvoll. Ohne Krisen gäbe es keine Entwicklung. Und interessant ist vor allem, was danach kommt.

Ausgangspunkt ist immer die Beschreibung eines Systems

Das scheint aber hier auf der European Futurists Conference Lucerne nicht der Schwerpunkt zu sein. Viele Vorträge befassen sich eher mit der Gegenwart als mit der Zukunft, warum? Was sind die wichtigsten Methoden wissenschaftlicher Zukunftsforschung?

Matthias Horx: Die meisten Futuristen – die Frage ist ja, ob dieser Beruf überhaupt existiert – sind gar keine. Oder anders ausgedrückt: Eigentlich ist der Beruf des Zukunftsforschers eine Banalität. Jeder Mensch, der eine Familie oder eine Firma gründet, versucht die Zukunft zu erforschen. Jeder Staat hat eine Stabstelle, die sich mit zukünftigen Entwicklungen auseinandersetzt. Jede Firma hat inzwischen eine eigene Zukunftsforschungsabteilung.

Ausgangspunkt ist immer die Beschreibung eines Systems, dann folgt die Entwicklung einer Strategie, um mit einem Phänomen umzugehen. Systembildung ist der Kern, ein Phänomen wird definiert und analysiert, in welchen Beziehungen es steht und welche Dynamiken ablaufen. Mit dieser Technik sind wir ganz gut in der Lage, Entwicklungslinien vorauszusehen.

Leider ist das Bedürfnis, Zukunft bewusst zu planen, tatsächlich sehr gering. Viele Firmen wollen die technischen Innovationen, die sie gerade planen, auf dem Markt durchsetzen. Sie versuchen zum Beispiel zu belegen, dass Videotelefonie ein Megatrend ist, weil sie Videotelefone verkaufen wollen. Technik ist meistens eine blinde Evolution ohne echte strategische Planung. Ein weiteres Beispiel ist die Faszination der Autoindustrie für das sich selbst fahrende Auto, eine Fantasie, die seit Jahrzehnten durch die Literatur geistert – wir haben mal im Rahme eines kleinen Projektes Tiefeninterviews mit Autofahrern gemacht und es zeigte sich, dass 90 Prozent das gar nicht wollen, sie würden auf den Zug umsteigen. Autofahren ist ja viel mehr als nur Transport, das ist Sex, Status, Kontrolle, Cocooning… das hat ganz andere psychologische Dimensionen.

Also: Es wird ein operatives Modell gebaut und daraus Szenarien gebildet, um verschieden Einflusskräfte zu analysieren. Es gibt immer verschiedene Szenarien, am Ende steht eigentlich immer eine Mischform. Aber im Wesentlichen geht es darum, was die Welt im Innersten zusammen hält. Insofern ist die Zukunftsforschung ganz nah an der Philosophie. Philosophie versorgt mit dem Turbo der Systemtheorie.

Konkret nachgefragt: Wie ist das im Fall der Klimaerwärmung, zuerst wird das System analysiert und dann verschiedene Szenarien entworfen und auf Plausibilität geprüft?

Matthias Horx: Moment! Wir haben ja nicht die Klimakatastrophe erfunden! Unsere Aufgabe in dem Fall ist es, ein wissenschaftlich-gesellschaftliches Theorem, das sich zu einem Dogma entwickelt hat, in Frage zu stellen. So sehe ich das. Wir wissen alle, dass es viel Regen und Hagel, heiße Sommer geben wird, und man wird es in den kommenden Jahren immer der globalen Erwärmung zuschreiben. Und in dreißig Jahren wird dann ein Gremium von Klimaforschern feststellen, dass es doch ein bisschen komplizierter ist mit dem Klima, und dass es jetzt wieder kälter wird. Das halte ich für wahrscheinlich.

Das zweitwahrscheinlichste Szenario ist, dass es 2,5 Grad wärmer wird und wir lernen damit umzugehen, uns anzupassen. Gleichzeitig wird ein Technologiewandel stattfinden.

Apokalyptisches Spießertum

Eines Ihrer Bücher heißt „Anleitung zum Zukunfts-Optimismus“ – das klingt ein bisschen nach der Kraft des positiven Denkens. Sehen Sie sich selbst als Coach der Öffentlichkeit im Kampf gegen das „apokalyptische Spießertum“ (noch so ein Begriff von Ihnen)?

Matthias Horx: Ich glaube, dass es heute eine Art innerer Verzagtheit gibt, wo sich die kulturellen, ökologischen und politischen Ängste mit einem enormen Beharren zusammentun – das nenne ich das „apokalyptische Spießertum“. Dieser Spießer ist jemand, der sich überhaupt nicht bewegen wird und die Welt dauernd als Katastrophe wahrnimmt, dies vor allem tut, um sich selbst zu erhöhen, sich zu bestätigen und Feinde zu definieren – das ist bei einem mangelnden Selbstwertgefühl auch immer sehr probat – und zu legitimieren, dass er für nichts die Verantwortung hat. Das nenne ich apokalyptisches Spießertum.

Die vielen medialen Diskurse über den Untergang unterstützen diese Geisteshaltung. Und dagegen kämpfe ich. Denn die Welt kann besser werden, wenn wir die richtigen Entscheidungen treffen. Wir sollten uns klarmachen, dass wir in den verschiedensten Systemen und Subsystemen Verantwortung haben, sei es nun in der Wirtschaft, Familie oder Politik.

Das ist für mich ein Erbe der Aufklärung. Ich kämpfe ohne besonders großen Erfolg gegen den immer nach einer geilen Katastrophe gierenden Mediendiskurs, um dieses Erbe zu bewahren.