Der neue Fürst dieser Welt

Zur Politische Theologie des globalen Kapitalismus und die geistige Verwandtschaft von Links- und Rechtsextremen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Viel ist vor vierzig Jahren darüber gerätselt worden, wie jener „Schachautomat“ zu deuten ist, den Walter Benjamin an den Anfang seiner „geschichtsphilosophischen Thesen“ stellt. Eine Puppe sitzt dort vor einem Schachbrett, das auf einem Tische ruht, der aufgrund vieler Spiegel im Betrachter den Eindruck weckt, er sei durchsichtig. In Wahrheit verbirgt sich dort aber ein Zwerg, der gekonnt die Strippen zieht und heimlich die Spielzüge der Puppe mit Schnüren lenkt. Zu der „Apparatur“ soll es, behauptet Benjamin, in der Philosophie ein „Gegenstück“ geben, das durch das Verhältnis der Theologie zum Historischen Materialismus bestimmt wird.

A revolution happened Oh sorry, you haven't heard?

Pulp, The Day After The Revolution

Wer zieht die Strippen?

Heftig umstritten war damals, als die Linke zum politischen Krawall lud, wer von den beiden Spielern Puppe und wer Zwerg ist. Umstritten war aber auch, wer wen wofür in Anspruch nimmt, und: welche Rolle dabei dem politischen Subjekt zukommt. Braucht der Historische Materialismus den Zwerg, um im Weltbürgerkrieg zu triumphieren? Oder nimmt die Theologie die Puppe nur deswegen an ihren Haken, weil ihr das Subjekt im Klassenkampf abgeht?

Für Jürgen Habermas war klar, dass die Theologie der Zwerg ist und sie die Puppe nicht in Dienst nehmen kann. Da ihr politischer Messianismus fortschrittsfeindlich ist, könne die Theologie sich den Historischen Materialismus, der bekanntlich mit dem Fortschritt rechnet, nicht einfach „wie eine Mönchskutte“ überstreifen. Für Benjamin dagegen blieb, obwohl er im Innersten seines Herzens Theologe war, die Puppe stets Herrin des Geschehens. Nur wenn es dem Historischen Materialismus gelänge, sich „die Dienste der Theologie“ zu sichern, könne er das weltgeschichtliche Match überhaupt gewinnen.

Kontinuum aufsprengen

Heinz Dieter Kittsteiner , der bis zu seinem überraschenden Tod im Juli Ideenhistoriker an der Viadrina Universität in Frankfurt/Oder war, hat sich eine Generation lang an diesem „Gestell“ abgearbeitet (siehe: Der Außenseiter). Und zwar bereits als Student im Umkreis von Jacob Taubes. Vor allem die zwielichtige Figur des „buckligen Zwergs“ hatte es ihm angetan. Seine Lösung, die er 1967 im Heft 10 der linksradikalen Zeitschrift alternative präsentierte, war, der politisch aufgeheizten Lage vor vierzig Jahren entsprechend, situationsgebunden. Um der Puppe mehr Leben einzuhauchen, sollte theologisches Wissen, auch säkularisiertes, dem marxistischen „als dessen manifest rationalem Kern“ zugeschlagen werden.

Nur durch Indienstnahme dieser theologischen Denkfigur wäre das fatale Kontinuum von Herrschaft und Unterdrückung aufzusprengen. Und nur so wäre dem latenten Faschismus, den die Achtundsechziger der westdeutschen Gesellschaft und ihrer Führungsriege unterstellten, wirksam zu begegnen. Gedacht war an eine Arbeitsteilung zwischen philosophischer Idee und politischer Praxis, in der die Theologie (als Ort der Überlieferung) die Rolle des Erinnerns übernimmt, während der Marxist mit dem Historischen Materialismus im Rucksack die Konfrontation mit der Gegenwart sucht.

Es war wohl diese Verzahnung von marxistischem Klassenkampf und geschichtlicher Diskontinuität, die den bewegten Studenten Kittsteiner seinerzeit an Benjamin faszinierte und ihn intellektuell in seinen Bann zog. Nicht bloß die Gegenwart, auch die Vergangenheit sollte verändert werden. Im Eingedenken des Untergangs wäre, so endete Kittsteiners Text, jedes Mal theologisch zu prüfen, ob die lähmende Dauer der Herrschaft im Jetzt gesprengt werden kann, um einer neuen Ordnung Platz zu machen. Von der Theologie zu lernen, hieß für den politischen Himmelsstürmer damals noch, siegen lernen.

Ungebetener Beobachter

Inzwischen wissen wir, dass dieser Streit um die richtige Auslegung Benjamins einen höchst prominenten, aber unsichtbaren Mitstreiter hatte. Es war Carl Schmitt, der das Heft, und darin vor allem den Beitrag Kittsteiners, aufmerksamst studierte. In dem Marxisten und Juden Benjamin glaubte Schmitt einen geistigen Seelennachbarn (siehe: Unheimliche Nähe) gefunden zu haben. Im Nachlass des Staatsrechtlers findet sich jedenfalls besagtes alternative-Heft, das vor Unterstreichungen, Kommentaren und Zeichen der Zustimmung nur so strotzt.

Und in der Tat berühren sich in besagtem Text Motive ihres Denkens aufs Engste: die Kritik an Demokratie, am Parlamentarismus und am liberalen Bürgertum; ein Denken in Extremen, das vom Übergewicht des Theologischen zeugt; die Betonung der Kontinuität der Herrschaft, die die NS-Diktatur und den kapitalistischen Alltag durchzieht; der gehäufte Gebrauch von Schlüsselwörtern wie „Ausnahmezustand“, „Diktatur“, „Dezision“ oder „Antichrist“; sowie der „Verrat“, den die Frankfurter Archivare an Benjamin begangen haben. Lange Jahre hat namentlich Adorno versucht, die „marxistisch-materialistische Komponente“ in Benjamins Denken zu vertuschen. Wie der „von der Großbourgeoisie“ verfemte jüdische Intellektuelle, sieht sich auch der „Kronjurist“, seit ihm das Recht auf eine Professur verweigert wurde, von der Öffentlichkeit geächtet, ausgegrenzt und im sauerländischen Plettenberg im Exil.

Impotente Moderne

Von dieser revolutionären Gesinnung nach Aufbruch und Neuanfang, der die Linksintellektuellen damals geeint und erfasst hatte, ist außer der Lektüre der Klassiker vor allem eins geblieben: die „ungeheure Warensammlung“ der „kapitalistischen Produktionsweise“.

Von ihr erzählt bekanntlich und ausführlich der erste Band des Kapitals. Wo früher Götter, Heroen und geschichtliche Akteure walteten und schalteten, agieren heute Dinge und ihre Wertformen. Seitdem sie den „Reichtum der Gesellschaften“ bilden, nimmt der Marxismus die Rolle der Theologie ein. Er ist nun der impotente Zwerg, der, wie es bei Benjamin heißt, „klein und hässlich“ ist und sich „nirgends mehr blicken lassen darf“. Es verwundert daher nicht, wenn Revolutionen nicht mehr als Lokomotiven, sondern nur noch als Griff nach der Notbremse erscheinen.

Mittlerweile, davon ist Kittsteiner schon Anfang der 1980er überzeugt, greift aber auch der noch ins Leere. Anders als Marx sich das ausgedacht hatte (siehe Vorwort im Kapital), erweist sich der entfesselte Kapitalismus als ein „fester Kristall“ (S. 16), gegen den Widerstand und Aufbegehren unwirksam ist. Dieser „Fall ins Kristall“, schreibt der Geschichtsphilosoph jetzt ernüchtert und desillusioniert, ist „irreversibel“. Der Glaube an den „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ ist ebenso dahin wie jener, der auf eine Verbesserung des Menschheitsgeschlechts in moralischer Absicht (Smith/Kant) gehofft hat. Die Moderne ist verwüstet, und die Zukunft leer, ohne Glücksversprechen und Zukunftserwartungen.

Kultur des Prolls

Im Posthistoire (siehe: Die Eule der Minerva), das der (westlichen) Epoche ihren Namen gibt, ist Rebellion bestenfalls noch eine Frage der Mode, des Stils und ästhetischen Ausdrucks. Es passiert zwar viel und ständig etwas, aber nichts wirklich Neues mehr. Die Moderne ist in einen „hochtourigen Stillstand“ verfallen. Geschichte und Politik agieren nur noch im Zustand des „als ob“. Die neue Ethik beruht im Wesentlichen, wie Arnold Gehlen schon in den 1960ern notiert, auf den Anpassungsleistungen der Individuen an die „großen Produktions- und Verteilungsgefüge“. Diese „Anpassung, die zum Überleben befähigt“, ergänzt Kittsteiner in den Achtzigern, ist eine „Art von Angstabwehr“. Sie „ist ein partieller Tod, das Aufgeben eines Teils der Individualität.“

Sichtbarstes Zeichen dafür ist laut Kittsteiner die „Kultur des Prolls“. Der „Proll“ fungiert nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, als soziales Distinktionsmerkmal. Er ist vielmehr „phänomenologisch-neutral“ und beansprucht, eine universelle Erfahrung zu sein. Zum Proll wird unterschiedslos jeder, der im Kapitalismus lebt und der „Kultur des Nehmens“ frönt. Zu ihr gehören nicht nur Hartz IV-Empfänger, RTL II-Kundschaft oder SUV-Fahrer, sondern auch Parteisoldaten und Investmentbanker, Gewerkschaftsfunktionäre und Schnäppchenjäger. Was sie jenseits ihrer unterschiedlichen Lebenslagen und Lebensformen indes eint, sind die Jagd und das stete „Gieren nach den gleichen Waren“.

Diese prollige Kulturlosigkeit macht auch nicht vor politischen Parteien und Verbänden Halt. Ihre Programme sind willkürlich und lassen sich bestenfalls noch danach unterscheiden, ob sie die Verhältnisse in bunten Bildern malen (Regierungsparteien) oder vorhandene Missstände überdramatisieren (Oppositionsparteien). Je nach Konjunkturlage, Aufschwung oder Krise, kann diese Position jederzeit wechseln. Vor allem dann, wenn die eine Partei die Regierung übernimmt, und die andere auf den harten Bänken der Opposition wieder Platz nehmen muss.

Unterhaltsamer Abgesang

An dieser düsteren Weltsicht hat sich für den Historiker, den manche als „Salonmarxisten“ bezeichnet haben, bis auf den heutigen Tag nichts Grundlegendes geändert. Dieser kühle Blick prägt auch sein allerletztes Buch. Gleichwohl sind Haltung und Einstellung, die er nun zu den Dingen einnimmt, anders geworden. Die Zeitdiagnose, die der Geschichtsphilosoph entwirft und aus Comics, Zeitungslektüre und Ideen montiert, tritt uns ungemein gelehrt, aber auch erfreulich unakademisch entgegen.

Wenn sich die Apokalypse so heiter darstellt, wie sie Kittsteiner schildert, möchte man glatt deren Zeuge sein, nur um hinterher sagen zu können, man wäre dabei gewesen. Selten ist es einem Autor gelungen, Sinn- und Ziellosigkeit der Geschichte dem Leser so unterkühlt wie unterhaltsam, ebenso witzig wie gelassen im Ton nahe zu bringen. Wer das Buch zur Hand nimmt, versteht sofort, warum Jürgen Kaube im Deutschlandradio gerufen hat: „So einen Professor möchte man gehabt haben!“

Suspekt ist höchstens Kittsteiners verbohrter Elitismus. Zu den Prolls zählt er sich nämlich nicht. Intellektuelle seines Formats stehen außen vor. „Keine zehn Jumbos brächten mich auf die Malediven“, formuliert er keck. „Da ist Dir aber was entgangen!“, möchte man ihm spontan erwidern und schwuppdiwupp zur Proll-Kultur überwechseln oder ihn an Janis Joplins unvergessenen Ruf erinnern: „Oh Lord, won't you buy me a Mercedes-Benz!“

Materialistischer Klartext

Entwickelt wird das Geschichtsbild, dem Buchtitel Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht entsprechend, in einer Triade. Nicht ganz zufällig folgt Kittsteiner damit den vier Stadien, denen der „europäische Geist“ im „Zeitalter der Neutralisierungen“ gefolgt ist: den Weg vom „Theologisch-Metaphysischen“ (Weltgeist) über das „Humanitär-Moralische“ (Smith/Kant) zum „Ökonomischen“ (Weltmarkt). Was in der Abfolge fehlt, ist die Ära des „Technischen“, die laut Schmitt die „Neutralisierung und Entpolitisierung“ der Gesellschaft erst vollzieht. Für Kittsteiner ist die Technik aber kein eigenständiger Sachbereich, sondern scheint eng an „die profitable Verwüstung der Welt“ geknüpft zu sein, die das Kapital anrichtet.

In der Epoche des „Weltgeistes“, so der Autor, dominieren Erwartungen, Hoffnungen und Glücksversprechen. Als Zeugen werden aufgerufen: Bernard Mandeville und Adam Smith gegen die später Rousseau und Hegel opponieren. Private Laster und Leidenschaften, nicht Tugenden, so in etwa die Kernthese der berühmten „Bienenfabel“ Mandevilles, fördern das Gemeinwohl. Dies verleitet den schottischen Ökonomen später dazu, von der „unsichtbaren Hand“ zu sprechen, und den preußischen Philosophenkönig von der „List der Vernunft“, die das Menschengeschlecht aller Unannehmlichkeiten zum Trotz voranbringt.

Der „Weltmarkt“ setzt diesen Fortschrittsglauben in harte Währung um. Die „freie Konkurrenz“ bringt wachsenden Wohlstand und Reichtum. Andererseits führt sie aber auch zu sozialen Verwerfungen, auf die Karl Marx später mit der Vergesellschaftung privaten Eigentums und John Maynard Keynes mit staatlichen Konjunkturprogrammen antworten. Dass sich jener bei der Umrechnung von Werten in Preise verrechnet, weil er eben kein Ökonom, sondern eher ein „Philosoph der Ökonomie“ ist; und dass dieser einem „totalen Staat“ das Wort redet, den die Nationalsozialisten dann kreieren, sind nur einige der vielen Sottisen, die Kittsteiner immer wieder in den Text einstreut.

Deutschland AG versenkt

Doch Markt und Wettbewerb lassen sich, einmal entfesselt, nicht zügeln, weder durch hehre Worte noch durch staatliche Planung und Lenkung. Das hat das sozialistische Experiment sowohl in seiner globalen als auch nationalen Ausrichtung hinlänglich gezeigt. Längst hat der moderne Kapitalismus seinen Gegenpart wieder eingesammelt. Darum ist für Kittsteiner der Weltmarkt, und nicht die Geschichte, wie Hegel noch dachte, das „Weltgericht“ (siehe: Das Weltgericht wird vertagt). Er herrscht blind über die Menschheit und verwüstet sie. Beispielhaft vorgeführt wird das an der Übernahmeschlacht von Mannesmann durch Vodafone. Mit dem Prozess gegen die Herren Ackermann, Esser und Zwickel ist zugleich die Deutschland AG versenkt worden, mithin jener rheinische Kapitalismus, der sich einst über geschickt geknüpfte Netzwerke und gegenseitig sich gut absichernde Seilschaften sozialpartnerschaftlich definierte.

Die sogenannten „Heuschrecken“, mit denen Franz Müntefering einst die Aktivitäten der Private Equity-Fonds belegte, oder das „V-Zeichen“, mit dem Josef Ackermann vor dem OLG Düsseldorf die Öffentlichkeit verprellte, sind Ausdruck der Wucht, mit denen die „soziale Marktwirtschaft“ abgewickelt wird. Sie machen das Land endgültig mit jenem „Willen nach Beute“ (O. Spengler) vertraut, der dem angelsächsischen Kapitalismus eigen ist. Seither der liberale Kapitalismus über den „Willen zur Macht“ (Nietzsche) triumphiert, geht es nicht mehr um ein „bisschen soziale Marktwirtschaft“, sondern nur noch „um den bestmöglichen Kapitalismus“. Daran wird auch die aktuelle Finanzkrise, die Neuentdeckung marxistischer Kapitalismuskritik oder Frau Merkels treuherziges Ansinnen, die „soziale Marktwirtschaft“ zum bundesdeutschen Exportschlager schlechthin zu machen, wenig ändern.

Dauerndes Gejammer

Allen Gutmenschen rät der Querdenker, endlich einzusehen, dass „echte politische Theorien“ den Menschen als hochproblematisch einschätzen. „Dies sich einzugestehen“, bemerkt er, „bedeutet nicht, ein schlechter Demokrat zu sein.“ Vielmehr ist es „die Normalform“ der Demokratie. Und allen Neo-Sozialisten und Kapitalismuskritikern legt er nahe, sich schleunigst mit „dem Begriff des Profits anzufreunden“ (siehe: Das ist die Lage). Mit dem rasanten Aufstieg, den die neuen Mächte Indien und China hingelegt haben, sind die Zeiten vorbei, in denen Europa den Reichtum der Welt aneignen, verwalten und entsprechend umverteilen konnte.

Dies muss vor allem die Sozialdemokratie schmerzen, deren Erfolgsrezept Jahrzehnte lang die Umverteilung war, aber die gern verschweigt, dass der Siegeszug der Arbeiterbewegung und der Partei „Teil eines Aufschwungs des europäischen Imperialismus und seiner Dominanz auf dem Weltmarkt“ gewesen ist. Und weil genau dieser Teil der Entwicklungsdynamik des Kapitals wegbricht, trifft der globale Kapitalismus vor allem jene Länder am schlimmsten, die eine besonders erfolgreiche Arbeiterbewegung aufzuweisen haben. Gerade wegen dieser Tradition stecken beide besonders tief in der Krise.

Als gut geschulter Hegelianer unterlässt Kittsteiner es, Personen an den Pranger zu stellen oder individuelle Schuldzuweisungen auszusprechen. Die „objektive Gier“, welche die Kapital- und Finanzmärkte leitet und die „Vernunft in der Geschichte“ (Hegel) repräsentiert, ist systemimmanent und hat nichts mit subjektiven Bösartigkeiten zu tun. Sie prägt das Verhalten ausnahmslos aller, die Hochlohnpolitik der Gewerkschaften und die Beutezüge der Sozial- und Steuerpolitiker genauso wie die Optionen und Bonuszahlungen für Manager oder die Verteilung von Listenplätzen und Vorstandsmandate.

Ungewisser Ausgang

Von der Politik, also von Parteien, Verbänden oder zivilen Akteuren, erwartet sich der Zeitdiagnostiker nichts. Von allen Gutmenschen, die durch „Schwafelregen“, den sie „über die Welt ausschütten“, glauben, die Verhältnisse würden besser, wenn „alle Menschen so gut würden wie sie selber“, ebenso wenig. Mit Carl Schmitt ist Kittsteiner sich einig, dass „die Epoche der Staatlichkeit“ am Ende ist. „It’s the economy, stupid“, die zu unserem Schicksal geworden ist.

Doch genau da könnte sich Kittsteiner irren. Die Wirtschaft ist beileibe nicht in jedem Fall „das dem Staat vorgängige Politische“, erst recht nicht unter Bedingungen eines entfesselten Kapitalismus. Mal abgesehen, dass es höchst diskutabel ist, ob Technik und Wissenschaft, Religion und Politik nur abgeleitete, von Gnaden des Kapitals lebende Sachbereiche oder Tatbestände sind, ist keinesfalls sicher, wie Geoökonomie und Globalisierung künftig verlaufen werden. Wir können keinesfalls davon ausgehen, dass der Welthandel weiter so frei agieren kann, nur weil er so „profitabel“ ist.

Und damit sind beileibe nicht bloß merkantilistische Strömungen und Tendenzen gemeint, die sich in den USA, in Europa und anderswo ab und an breitmachen. Gerade die aktuellen Turbulenzen an den internationalen Finanz- und Kapitalmärkten demonstrieren das auf eindrucksvolle Weise. Ohne beherztes Eingreifen der FED und des US-Finanzministers und der weitgehenden Verstaatlichung prominenter Teile des Banken- und Kreditwesens wäre ein Debakel kaum zu verhindern gewesen. Dass ausgerechnet die US-Regierung sich entschließen würde, den Sozialismus für eine gewisse Zeit durch die Hintertür wieder einzuführen, um ihr Finanzwesen vor dem Kollaps zu retten, hätte, von Alexandre Kojève mal abgesehen, wohl vor binnen Wochenfrist kaum einer für möglich gehalten.

Geschichte, die sich wiederholt

Blickt man in die Vergangenheit, dann spricht die Geschichte oftmals eine andere Sprache. Jedes Mal, als der Welthandel, forciert und unterstützt von neuartiger Medientechnik, einen neuen Anlauf zur Erschließung und Anbindung neuer Gebiete, Märkte und Konsumenten an das „Kernland“ nahm und sich neue politische Ordnungen und Mächte bildeten, wurden seine „Frieden schaffenden“ Maßnahmen von Revolutionen, großen Kriegen und wirtschaftlicher Depressionen abrupt und blutig gestoppt.

Jedes Mal ging dem Weltgericht, das der Weltmarkt beansprucht zu sein, der „Weltuntergang“ voraus. Post 1492 waren es die Konfessionskriege. Post 1850 die beiden Weltkriege, die Oktoberrevolution und der Kalte Krieg. Und post 1989? Warum sollte die dritte Welle der Globalisierung diesmal, wo sich das Ende des Pax Americana abzeichnet, das Machtzentrum sich in den asiatisch-pazifischen Raum verlagert und der Kapitalismus wieder eine autokratische Heimstatt findet, ohne Krieg enden? Die „Wiederholungsstruktur“ (R. Koselleck), die zum „Wiederholungszwang“ werden könnte, fällt buchstäblich ins Auge. Zwar wurde der Kapitalismus durch all diese Kämpfe „zwischen Geld und Blut“ letztlich nicht aufgehalten, für die Menschen brachte das aber massenhaften Mord, millionenfaches Leid und Elend und unzählige Vertreibungen mit sich. Ob Ähnliches auch der Klimawandel mit sich bringt, den der Autor als mögliches „Katechon“ präsentiert, ist wegen der vielen Unwägbarkeiten, die in dem Begriff stecken, jedoch höchst ungewiss.

Die „schöpferische Zerstörung“ sind, wie wir seit Schumpeters Zeiten wissen, Faktum und Grundfigur der kapitalistischen Schaffensweise und besitzt, wie wir wiederum seit Marcel Mauss und Georges Bataille wissen, auch eine wichtige soziale Funktion. Nichts anderes will Mandevilles Bienenfabel besagen. Die sieben Todsünden der Menschheit: Trunksucht und Gefräßigkeit, Stolz und Verschwendungssucht usw. halten die Wirtschaft auf Trab und die Gesellschaft zusammen. Indem ein jeder seinem Laster frönt, seinen Luxus zur Schau stellt oder sich der Betrügerei hingibt, trägt er wesentlich zum Allgemeinwohl bei. Auch der Bankmanager und Investmentbanker, der Milliarden Dollar an Boni kassiert und gleichzeitig Billionen von Dollar verbrannt hat. Dank ihrer ist die Apokalypse wieder ein wenig weiter in die Zukunft verschoben worden

Methode Nihilismus

Carl Schmitt hat auf Benjamins Bild, das auf dem Cover der alternative prangte, unter Verweis auf die „Faschismus-Analyse“ des jungen Kittsteiners die Bemerkung notiert: „Faschismus nicht zu entziehen“. Was auch immer der verfemte Staatsrechtler mit diesem kryptischen Satz gemeint haben mag: er ist ein weiterer Beleg dafür, was Ellen Kennedy mit ihrem Aufsatz Carl Schmitt und die Frankfurter Schule vor fünfundzwanzig Jahren schon mal vermutet und zum empörten Aufschrei der Linksintellektuellen geführt hat: die geistige Verwandtschaft zwischen einem Teil der Frankfurter Schule und ihres jüdischen Intellektuellen und dem antisemitischen „Ungeheuer“ aus Plettenberg. Heinz Dieter Kittsteiner zeichnet aus, dass er sich diesem Tatbestand nüchtern und illusionslos gestellt, entsprechende Schlüsse daraus gezogen und nie Furcht vor dieser „unheimlichen Nähe“ gezeigt hat.

Gleichwohl gibt diese mentale Nähe von links- und rechtsextremen Denken auch einen Fingerzeig, wo dieser Berührungspunkt eventuell liegen könnte. In seinem Theologisch-politischen Fragment, das den Geschichtsphilosophischen Thesen folgt, reflektiert Benjamin über das „Glück“, das seiner Ansicht nach erst im „ewigen und totalen Vergängnis“ alles Irdischen zu finden ist. Diese „messianische Natur“ zu „erstreben“, ist, und damit schließt das Fragment, „Aufgabe der Weltpolitik, deren Methode Nihilismus zu heißen vermag.“

Der Hinweis auf diese kryptischen Worte Benjamins fehlt in Kittsteiners Beitrag – aus welchen Gründen auch immer. Nicht aber in Schmitts von Bleistiftstrichen und stenografischen Kürzeln perforiertem Exemplar. Kühl notiert er am Rande den auf Kittsteiner gemünzten Satz: „Verschweigt Methode der Weltpolitik Nihilismus.“ Erneut zeigt sich der „Asylant im eigenen Land“ zum Erstaunen seiner geistigen Gegner und Feinde auf der Höhe der Zeit und des intellektuellen Geschehens.

Besprochene Literatur:

Heinz Dieter Kittsteiner, Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht, München: Fink Verlag 2007, 273 Seiten. 29,90 Euro

Vom selben Autor verwendet:

„Die ‚geschichtsphilosophischen Thesen’“, in: alternative 10/1967. S. 243 ff.
„Walter Benjamins Historismus“, in: Norbert Bolz/Bernd Witte (Hg.), Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des XIX Jahrhunderts, München 1984, S. 163 ff.
„Über das Verhältnis von Lebenszeit und Geschichtszeit“, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.), Die sterbende Zeit, Darmstadt/Neuwied 1987, S. 72 ff.

Angesprochene Literatur:

Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart 1992, S. 141 ff.
Walter Benjamin, „Theologisch-politisches Fragment“, in: ebd. S. 132 ff
Ellen Kennedy, „Carl Schmitt und die Frankfurter Schule. Deutsche Liberalismuskritik im 20. Jahrhundert“, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 12/1986, S. 380 ff.