Die Wut einer enttäuschten Generation

Die Revolte in Griechenland und ihre europäischen Pendants

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Prekarisierung und Frust über eine erstarrte politische Klasse sind keine hellenische Spezialität. Vor allem in Südeuropa sehen selbst gut ausgebildete Jugendliche einer ungewissen Zukunft entgegen. Die Weltwirtschaftskrise dürfte das noch verschärfen.

Von Paris bis Moskau, von Kopenhagen bis Istanbul haben die griechischen Proteste (Die Proteste in Griechenland halten an) einen deutlichen Widerhall gefunden. Während die Besetzung des griechischen Konsulats in Berlin nach einigen Stunden friedlich zu Ende ging, kam es in Frankfurt und Neapel zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. In der russischen Hauptstadt flogen Molotowcocktails auf die griechische Botschaft, und in Madrid wurde gar eine Polizeistation attackiert.

Routiniert diagnostiziert die FAZ, bei den „solidarischen Ausschreitungen“ hätten „Adrenalinüberschüsse und pubertäre Revolte“ den Ausschlag gegeben. Zugleich plädiert man dafür, die griechische Misere als europäische zu begreifen – und das zu Recht.

Italien

Denn in Italien beispielsweise stießen die griechischen Proteste nicht zufällig auf breite Resonanz. Dort laufen seit einigen Wochen Schüler und Studierende, Lehrpersonal und Gewerkschaften Sturm gegen die Bildungsreform von Ministerin Maria Stella Gelmini. Sie will mehrere Milliarden Euro einsparen und dafür unter anderem Schulen schließen sowie tausende befristete Verträge an den Unis nicht verlängern. Die dezentrale Bewegung aus Schülern und Studierenden nennt sich Onda (die Welle) und erntet selbst im traditionell rechts geprägten Süden des Landes enormen Zuspruch. Überall im Land sind Schulen und Fakultäten besetzt.

Am 10. Oktober trat die Onda mit einer ersten Reihe von Großdemonstrationen auf den Plan, eine Woche später unterstützte sie den erfolgreichen Streik der Basisgewerkschaften aus dem Bildungs- und Dienstleistungsbereich. Nachdem am 25. Oktober die Demokratische Partei nach eigenen Angaben über 2 Millionen Menschen in Rom zu einer Kundgebung (siehe Ist ein anderes Italien möglich?) gegen Berlusconi versammelt hatte, legte die Gewerkschaft CGIL am 12. Dezember mit einem halbtägigen Generalstreik nach. Zeitgleich rief die Onda zu eigenständigen Demos auf.

Obschon die Onda vorrangig das Gelmini-Gesetz kippen will, sieht man in der Bewegung Gemeinsamkeiten mit den europäischen Nachbarländern. Schon vor den gegenwärtigen Unruhen in Griechenland erklärten die protestierenden Studenten der Universität La Sapienza in Rom (siehe dazu auch Staatsbegräbnis für das umstrittene Arbeitsgesetz):

Griechenland kennt seit über einem Jahr eine Bewegung, die wie die Onda Bildung und Prekarität ins Zentrum gerückt hat. Das spricht dafür, einen europäischen Raum des Konflikts zu eröffnen, der seine Wurzeln in der Bewegung von 2005 in Italien, in den französischen Kämpfen gegen das CPE und in den Mobilisierungen in Spanien gegen den Bologna-Prozess findet.

Was die Jugendlichen verbindet, ist die Aussicht auf eine ungewisse Zukunft. In vielen Ländern Südeuropas leben die 20- bis 30-Jährigen unter prekären Bedingungen. Selbst Uni-Absolventen finden keine oder nur schlecht bezahlte Jobs. Sie sind "diplomiert, aber deklassiert".

Südeuropa

In Griechenland spricht man wahlweise von der 600- oder 700-Euro-Generation, in Spanien von den Mileuristas: junge Erwachsene, die selten mehr als 1.000 Euro brutto im Monat verdienen. Viele nehmen zwei oder drei Jobs an, um über die Runden zu kommen und verbleiben notgedrungen lange im Schoß der Familie. Junge Griechen, Spanier oder Portugiesen verlassen ihr Elternhaus im Schnitt mit 27 Jahren, Italiener oft erst mit 30. Das darf nicht verwundern, schließlich erreichen die Mieten in Griechenland westeuropäisches Niveau. Der italienische Wohnungsmarkt ist klein, und in Spanien werden Appartements in der Regel nicht gemietet, sondern gekauft. Die trüben Zukunftsaussichten schlagen sich auch in vergleichsweise niedrigen Geburtenraten nieder: Statistisch gesehen bekommt eine italienische Frau 1,32 Kinder, in Spanien liegt die Quote bei 1,38 und in Griechenland bei 1,39.

Prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse treffen in Südeuropa besonders junge Erwachsene. Verstärkt wird die Misere durch eine überdurchschnittlich hohe Jugendarbeitslosigkeit. Mehr als jeder fünfte Grieche zwischen 15 und 24 Jahren ist ohne Job, in Frankreich oder Italien sieht es kaum besser aus. Drei Jahre haben die heute 20- bis 40jährigen Franzosen ihren Eltern an Ausbildungszeit im Schnitt voraus – aber deren Lebensstandard werden sie kaum erreichen.

Während junge Erwachsene in Spanien oder Frankreich zuweilen wenigstens noch auf familiäre Unterstützung hoffen können, trifft die Prekarität in Griechenland auch die Elterngeneration. 14 Prozent der Beschäftigten dort gelten als working poor – so viele wie in keinem der 26 anderen EU-Staaten. 40 Prozent der Arbeiter verdienen weniger als 1.100 Euro brutto im Monat. Obendrein rechnen Ökonomen für 2009 mit dem Verlust von 100.000 Arbeitsplätzen.

Für weiteren Unmut sorgen die als brutal geltende Polizei, die verbreitete Korruption und die Herrschaft von Familiendynastien im politischen Betrieb. Der gewaltsame Tod von Alexis Grigoropoulos brachte das Fass zum Überlaufen. Der tödliche Schuss lieferte den Anlass, nicht aber die Ursache des Protestes. „Viele Teenager identifizieren sich mit Grigoropoulos“, zitiert der Guardian einen Athener Journalisten:

Eine ganze Generation sieht die Verschuldung ihrer Eltern und hat das Gefühl, dass sie von der Zukunft nichts erwarten darf.

Eine europäische Dimension entfalten diese Ereignisse als Aufbegehren einer "ernüchterten Jugend". Anders als in den französischen Banlieues protestieren dabei nicht die Marginalisierten, die schon lange keine gesellschaftliche Perspektive mehr haben. Vielmehr revoltieren diejenigen, die aufgrund von Bildung und Herkunft eine Zukunft erwarten dürfen, darin aber zusehends enttäuscht werden. Ein Viertel der griechischen Uni-Abgänger ist arbeitslos.

“Wir werden euch für die Krise zahlen lassen“

Mangels Alternativen verdingen sich auch andernorts viele hoch qualifizierte Absolventen in unbefriedigenden Jobs, die weit unter ihrem Kompetenzniveau liegen. Millionen junger Europäer realisieren schrittweise, dass ihre gute Ausbildung nicht das einbringt, was ihnen versprochen wurde. Die Proteste gegen das CPE in Frankreich, gegen die Gelmini-Reform in Italien und die Unruhen in Griechenland basieren nicht zuletzt auf dieser bitteren Erkenntnis.

Die Revolten offenbaren einen schwelenden Unmut gegenüber der politischen Klasse. Nicht nur in Griechenland sind die großen Parteien einander unter dem Primat neoliberaler Politik in den vergangenen Jahren immer ähnlicher geworden. Nicht nur dort haben weder Christ- noch Sozialdemokraten eine wirksame Strategie gegen die Prekarisierung zu bieten. Kein Wunder, dass die etablierten Parteien bei einer Jugend, der sie keine Perspektive bieten können, an Vertrauen – und an Legitimation – verlieren.

Die Weltwirtschaftskrise dürfte diese Spannungen noch verstärken. In der italienischen Onda ist ein bezeichnender Slogan weit verbreitet: „Vostra crisi non paghiamo noi“ (Für eure Krise zahlen wir nicht) und abgewandelt: „Noi la crisi ve la facciamo pagare“ (Wir werden euch für die Krise zahlen lassen).

Einige führen auch die griechischen Unruhen auf die Krise zurück: Es handele sich um die „erste gewalttätige Reaktion, die sich im Westen auf Grund der Wirtschaftskrise und der unzureichenden Regierungsmaßnahmen“ abspielt, schreibt Sandro Viola in La Repubblica. Die Krise war nur eine Ursache, meint hingegen der griechische Schriftsteller Vassilis Vassilikos, ausschlaggebend seien die verfehlte Sozialpolitik der Regierung, die verbreitete Korruption und die Prekarisierung:

Das ist keine politische, sondern eine soziale Revolte. Auf der Straße ist die Generation derjenigen, die 700 Euro im Monat verdienen und diejenige, die weiß, dass sie nur noch gut 500 Euro haben wird.

Doch die Folgen der Wirtschaftskrise offenbaren sich in den meisten europäischen Ländern erst andeutungsweise. Anders in Island, das in heftige Turbulenzen geraten ist. Prompt reagierten die als zurückhaltend geltenden Inselbewohner mit teils wütenden Protesten. In Reykjavik demonstrieren seit Wochen mehrere tausend Menschen jeden Samstag auf dem zentralen Austurvötlur (Ostplatz). Sie fordern den Rücktritt von Regierung und Zentralbankchef. Viele isländische Jugendliche wählen allerdings eine aus älteren europäischen Wirtschaftskrisen bekannte Option: Sie wandern aus.