Der Segen der Selbständigkeit

In Deutschland steigt die Zahl der Selbständigen. Zwangsmitgliedschaften und andere Gängelungen lassen die Selbständigkeit jedoch zunehmend unattraktiv erscheinen.

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Selbständigkeit – das klingt gut. Das klingt nach Unabhängigkeit, nach Eigenverantwortung und dem (Arbeits)leben nach eigenen Regeln. „Come to Selbständigkeits-Country“ quasi. Frei lautet das Zauberwort. Freie Arbeitszeitwahl, freie Projektauswahl usw. usf.

Willkommen bei der IHK/Handwerkskammer

Dabei wird der Selbständige sofort an die Leine gelegt. Kaum hat er für ca. 30 Euro sein Gewerbe angemeldet, umfängt ihn der eiserne Griff der Industrie- und Handelskammer (IHK) bzw. der Handwerkskammer. Diese beiden Interessenvertretungen gehen in der Tradition der Gebühreneinzugszentrale (GEZ) vor: Wer ein Radio irgendwo herumstehen hat, muss Gebühren zahlen. Bei der IHK bzw. der Handwerkskammer reicht es, den Gewerbeschein beantragt zu haben. Eine Möglichkeit, sich diesem Zwang zu entziehen, gibt es nicht. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat am 7.12.2002 geurteilt: Die Zwangsmitgliedschaft ist verfassungsgemäß.

Rein private Verbände wären mangels Gemeinwohlbindung nicht in der Lage, die Aufgaben wahrzunehmen, die die Industrie- und Handelskammern mit Hilfe der Pflichtmitgliedschaft zu erfüllen befähigt sind. Es ist nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber Verwaltungsaufgaben im wirtschaftlichen Bereich im Rahmen seiner ihm grundsätzlich eröffneten Wahlfreiheit, öffentliche Aufgaben auch in mittelbarer Staatsverwaltung wahrnehmen zu lassen, auf die Industrie- und Handelskammern überträgt. [...] Demgemäß ist auch die Mitgliedschaft aller Gewerbetreibenden [Hervorhebung von mir] in den Industrie- und Handelskammern zur sachgerechten Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich. Wegen des Gemeinwohlauftrags der Industrie- und Handelskammern und ihrer vielfältigen Wirtschaftsverwaltungsaufgaben ist ein alle Branchen und Betriebsgrößen umfassender Mitgliederbestand vonnöten. Für die wirtschaftliche Selbstverwaltung bedarf es der Mitwirkung aller Unternehmen, gerade auch der mittleren und kleinen, damit die Kammern ihre Aufgaben umfassend erfüllen können. Der Wert der von den Kammern erarbeiteten Vorschläge und Gutachten beruht neben der Unabhängigkeit ihres Urteils auf der Vollständigkeit des Überblicks, das die Kammern im Bereich der zu beurteilenden Verhältnisse besitzen (vgl. BVerfGE 15, 235 [241]).

Süffisant urteilt das Bundesverfassungsgericht, dass „die Beeinträchtigung des einzelnen Gewerbetreibenden durch die Pflichtmitgliedschaft keine erhebliche Einschränkung der unternehmerischen Handlungsfreiheit“ bedeutet. Immerhin würde ja der Zwangsbeglückte die Chance zur Beteiligung und Mitwirkung an staatlichen Entscheidungsprozessen bekommen. Und – damit dies nicht zur Pflicht ausartet – gibt es für ihn ja auch die Möglichkeit, sich eben nicht aktiv zu betätigen.

Man wähnt sich endgültig im freien Mitwirkungshimmel, wenn man liest, dass die „Pflichtmitgliedschaft eine freiheitssichernde und legitimatorische Funktion“ besitzt[,] weil sie auf die Mitwirkung der Betroffenen setzt und die unmittelbare Staatsverwaltung vermeidet, selbst dort, wo das Allgemeininteresse einen gesetzlichen Zwang verlangen würde. Kurz gesagt: besser von der IHK als vom Staat gegängelt. Für den Selbständigen bedeutet dies: Zahlen musst Du sowieso, also sei froh, dass Dir immerhin die Chance bleibt, Dich der (theoretischen) Mitwirkung an staatlichen Entscheidungsprozessen zu erfreuen.

Scheinselbständigkeit

Die steigende Anzahl Scheinselbständiger führt dazu, dass immer mehr Menschen in die Zwangsmitgliedschaft der Kammern rutschen.

§7(1) des Sozialgesetzbuches IV definiert die nicht selbständige Tätigkeit, ebenso wie die selbständige. Eine selbständige Tätigkeit zeichnet sich aus durch:

  • das eigene Unternehmerrisiko
  • das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte
  • die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft
  • die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit

Für nicht selbständige Tätigkeiten gilt als Voraussetzung:

  • eine Tätigkeit nach Weisungen
  • die Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers

Der Arbeitnehmer muss dabei vom Arbeitgeber persönlich abhängig sein.1

Der Trick ist, dass der Selbständige entweder gar nicht weiß, dass er scheinselbständig ist oder aber dies in Kauf nimmt um „überhaupt einen Job zu haben“. Dazu kommen internationale Verflechtungen der Arbeit.

Ein Beispiel:

Microsoft und Google beschäftigen sogenannte „Internet-Rater“. Die Damen und Herren verbringen ihre Arbeitszeit damit, Suchergebnisse auszuwerten und damit evtl. irgendwann die Suchmaschinen der IT-Giganten zu verbessern. Weder Google noch Microsoft beschäftigen selbst Internet-Rater. Das Bindeglied zwischen Microsoft/Google und den Beschäftigten ist ein irischer Ableger der US-amerikanischen Firma Lionbridge. Der Beschäftigte selbst ist „Freelancer“, seine Arbeitzeit ist nur teilweise frei einteilbar (keine Wochenendarbeit möglich etc.), er ist direkt an Weisungen gebunden. Er ist in Teams eingebunden und unterliegt stetiger Leistungskontrolle – mangelnde Leistung kann zu schneller Kündigung führen. Ein Non Disclosure Agreement sorgt dafür, dass selbst Diskussionen mit anderen „Freelancern“ geahndet werden. Pro Stunde werden bis zu 17 Euro gezahlt (brutto) – da greifen viele zu, machen sich um den Rest wenig bis keine Gedanken. Sowohl für Microsoft/Google als auch für Lionbridge ein gutes Geschäft. Gleich zu Anfang wird darauf hingewiesen, dass Versteuerung Sache des Beschäftigten ist und dieser ggf. nachweisen muss, dass er dieser Pflicht nachkommt. Damit ist dann dem Gesetzlichen Genüge getan.

Der frisch getaufte „IT-Freelancer“ darf also dauerhaft für MS/Google arbeiten, ist aber selbständig und damit ... Mitglied der IHK. Gleiches gilt für Callcenteragenten, die von Zuhause aus arbeiten etc.

Ruf/Fax/Mail mich an

Aber Selbständige können sich nicht nur über die Magazine der IHK freuen. Ab dem Moment, in dem sie den Gewerbeschein in der Hand halten, können sie die andere Hand gleich ausstrecken, um neue Telefonnummern, Faxnummern und Emailadressen zu beantragen/eröffnen. Denn als Selbständige sind sie gesetzlich legitimierte Opfer fürs Direktmarketing. Werbefaxe, -mails und -anrufe dürfen, abgesehen von zeitlichen Einschränkungen, an sie gerichtet werden. Man geht davon aus, dass sie ein Interesse an Geschäftskontakten und -angeboten haben. Selbst nach dem neuen Datenschutzrecht wird sich nichts ändern. Absurd, gerade weil Selbständige/Freiberufler oft (logischerweise) weniger Zeit als Firmen haben, um Werbung zu filtern oder auszusortieren. Der Einmannbetrieb kann sich also weiterhin darüber freuen, dass das Faxpapier regelmäßig durch Werbung verbraucht wird und die gesetzlich vorgeschriebene Angabe der Adresse beim Internetauftritt Werbemüll en masse mit sich bringen wird – ganz legal.

Warum die Bundesregierung weiterhin am IHK-Zwang festhält (den zu überprüfen das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil festlegte), warum sie Selbständigen die Möglichkeit verweigert, selbst zu bestimmen, von wem sie Werbung erhalten wollen (wenn überhaupt) – angesichts der Tatsache, dass sie Selbständigkeit fördert und anpreist, ist dies eine gute Frage. Aber für die Wirtschaft sind Menschen in Hire-and-Fire Beschäftigungsverhältnissen, die alle Risiken tragen, ohne wirklich zu profitieren, natürlich zu begrüßen.