"Fast alle großen Pharmakonzerne sind notorische Gesetzesbrecher"

Interview mit Hans Weiss über Risiken und Nebenwirkungen des Pharmalobbyismus

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Der Journalist Hans Weiss hat sich für die Recherchen zu seinem neuesten Buch "Korrupte Medizin. Ärzte als Komplizen der Konzerne." getarnt als Pharma-Consultant auf Symposien und bei Arztbesuchen unter Medikamentenhersteller und Mediziner gemischt. Er ist dabei auf eine hohe Zahl von willfährigen Ärzten gestoßen, die sich für das nötige Kleingeld bedenkenlos für die Interessen der Pharma-Industrie einspannen lassen. Die Gesundheit der Patienten spielt hierbei eine beängstigend geringe Rolle. Telepolis sprach mit dem Autor über Praktiken und Folgen des Pharma-Lobbyismus in Deutschland.

Herr Weiss, haben Sie einen Überblick wie viele Menschen in Deutschland an Nebenwirkungen von Pharmaprodukten leiden und können Sie eine Einschätzung abgeben, wie viele Menschen an diesen Nebenwirkungen sterben?

Hans Weiss: Beim Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte werden jährlich 15.000 bis 17.000 schwere Arzneimittel-Nebenwirkungen gemeldet - davon verlaufen etwa 1.200 bis 1.400 tödlich. Allerdings werden viele Zwischenfälle gar nicht gemeldet. Professor Jürgen Frölich, klinischer Pharmakologe an der Universität Hannover, schätzt, dass in Deutschland jährlich mehr als 58.000 Menschen durch Nebenwirkungen von Medikamenten sterben.

Wie verhalten sich allgemein die Pharmakonzerne, wenn Nebenwirkungen ihrer Erzeugnisse bekannt werden?

Hans Weiss: Das ist schlecht für das Geschäft und deshalb versuchen Pharmakonzerne häufig, Nebenwirkungen zu vertuschen oder zu verharmlosen. Das zeigt sich auch deutlich an der irreführenden Werbung für Arzneimittel. In den USA werden die großen Konzerne von der Arzneimittelbehörde FDA immer wieder abgemahnt und in manchen Fällen sogar zu Strafen in der Höhe von Hunderten Millionen Dollar verurteilt. Zum Beispiel der Konzern Eli Lilly wegen der Vertuschung von Nebenwirkungen beim Neuroleptikum Zyprexa oder der Konzern Nerck Sharpe & Dohne beim Rheumamittel Vioxx, das im Jahr 2004 vom Markt gezogen wurde. In Deutschland hingegen bleiben die Arzneimittelbehörden tatenlos und lassen die Pharmakonzerne schalten und walten, wie es ihnen beliebt.

Gibt es noch andere Vergehen, die sich die Unternehmen ihrer Meinung nach schuldig machen?

Hans Weiss: Fast alle großen Pharmakonzerne sind notorische Gesetzesbrecher. Da geht es um illegale Vermarktungspraktiken im großen Stil, betrügerische Preismanipulationen, Bestechung und unerlaubte Beeinflussung von Ärzten, verbotene Werbung, Manipulation von Studien und um Schädigung von Patienten.

"Patienteninteressen kommen unter die Räder"

Mein Buch enthält Portraits von zehn großen Pharmakonzernen, in denen die Sündenregister detailliert aufgezählt sind.

Welche Kontrollinstanzen gibt es für Pharmaprodukte und haben Sie ein Erklärung, warum diese so ungenügend funktionieren?

Hans Weiss: Zur Kontrolle von Arzneimitteln gibt es international tätige Instanzen wie die US-Arzneimittelbehörde FDA und die europäische Zulassungsbehörde EMEA; und darüber in Deutschland das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zuständig. Die FDA wird zur Hälfte von der Pharmaindustrie finanziert, die EMEA zu zwei Dritteln. Die EU finanziert die EMEA also nur zu einem Drittel. Außerdem ist für die EMEA nicht das EU-Kommissariat für Verbraucherschutz zuständig, sondern das EU-Kommissariat für Wirtschaft. In der deutschen Sprache gibt es den treffenden Satz: Wer zahlt, schafft an. In Deutschland ist es so, dass die Pharmalobby traditionell einen extrem hohen Einfluss auf die Politik hat und deshalb Patienteninteressen unter die Räder kommen

Ist es wahr, dass sich Pharmakonzerne für die Testreihen zu ihren Produkten die Wirkung ihrer Medikamente an speziellen Personengruppen, die nicht repräsentativ ausgewählt wurden, testen dürfen und erst nach der Zulassung der Präparate in Erfahrung wie bringen, wie ihre Mittel tatsächlich funktionieren?

Hans Weiss: Ein zentrales Problem bei der Zulassung von Medikamenten besteht derzeit darin, dass die Konzerne alle notwendigen Studien von A bis Z finanzieren und kontrollieren. Bis zur Zulassung werden überhaupt keine industrieunabhängigen Studie durchgeführt. Die Firmen haben deshalb alle Möglichkeiten, Ergebnisse zu manipulieren oder auch zu verschweigen. Die Verwendung neuer Medikamente gilt deshalb generell als riskant, weil Nutzen und Risiken zum Zeitpunkt der Zulassung häufig nicht ausreichend bekannt ist.

"Versagen der Politik"

Erst nach und nach werden dann die tatsächlichen Risiken bekannt. Der Großteil aller Medikamente wird auch nicht an jenen Patientengruppen getestet, an denen sie dann tatsächlich angewendet werden, zum Beispiel an alten Menschen oder an Frauen oder an Kindern. Die übliche Testperson ist ein Mann im mittleren Alter.

Können Sie sich vorstellen, dass positive Gutachten zu Pharmapräparate der Karriere von Wissenschaftlern förderlich sind, während Autoren von unliebige Studien kaltgestellt werden?

Hans Weiss: Heutzutage wird fast die gesamte medizinische Forschung von der Pharmaindustrie finanziert und kontrolliert. Das ist auch ein Versagen der Politik, weil sie zu wenig Geld für industrieunabhängige Forschung zur Verfügung stellt. dass unter diesen Umständen positive Gutachten karrierefördernd sind und negative Gutachten karrierehinderlich, liegt auf der Hand.

Wie hoch schätzen Sie überhaupt die Abhängigkeit von Gutachtern und Fachpresse zur Pharmaindustrie ein?

Hans Weiss: Je hochrangiger ein Arzt ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er nebenbei im Sold der Pharmaindustrie tätig ist und sich als sogenannter Meinungsbildner für Marketingaufgaben einer Firma einsetzen lässt. Um Patienten einen Überblick zu geben, habe ich in meinem Buch eine Liste von 85 hochrangigen Medizinern und ihren konkreten finanziellen Verbindungen zu Pharmakonzernen im deutschsprachigen Raum aufgelistet. Die medizinische Fachpresse - vor allem die deutschsprachige - ist zum Großteil von der Pharmaindustrie und ihren Anzeigen abhängig. Auch hier gilt natürlich: Wer zahlt, schafft an. Dementsprechend unkritisch wird dann häufig über neue Arzneimittel berichtet.

"Bis zu 16.000 Ärzte pro Pharmakonzern"

Auch der Medizinjournalismus ist in weiten Bereichen durch die Pharmaindustrie korrumpiert. Journalisten werden häufig von Pharmakonzernen zu Symposien eingeladen, wo das begleitende Vergnügungsprogramm den Großteil der Zeit in Anspruch nimmt und wissenschaftliche Vorträge nur eine untergeordnete Rolle spielen. Vor zwei Jahren habe ich im Spiegel einen hymnischen, vollkommen unkritischen Artikel über das Schlankheitsmittel Acomplia gelesen, der sich von der Werbung der Herstellerfirma Sanofi Aventis kaum unterschied. Das Medikament wurde von der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA wegen der möglichen Risiken gar nicht zugelassen und wurde im Oktober 2008 vom Hersteller weltweit vom Markt gezogen.

Wie viele "Experten" sind nach ihren eigenen Erfahrungen ganz ordinär bestechlich?

Hans Weiss: Dazu gibt es keine genauen Zahlen. Je hochrangiger ein Arzt ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er von einem oder mehreren Pharmakonzernen für diverse Marketingaufgaben bezahlt wird. In Deutschland gibt es wahrscheinlich einige hundert ranghohe Mediziner, die im Sold von Pharmafirmen stehen.

Die Münchner Staatsanwaltschaft leitete im Jahr 1999 ein Verfahren gegen rund 3.500 Klinikärzte wegen Bestechung ein. Dabei ging es um "Zuwendungen" des Konzerns GlaxoSmithKline bis zu jeweils 26.000 Euro. 2004 wurden das Verfahren abgeschlossen. In 2.200 Fällen kam es zu keinen Verurteilungen, weil es sich entweder um kleine Werbegeschenke oder um Zuwendungen bis maximal 511 Euro handelte. In den restlichen Fällen mussten die Ärzte gerichtliche Geldauflagen bezahlen. Derzeit ermittelt die Münchner Staatsanwaltschaft wegen Korruption gegen die Konzerne BristolMyersSquibb, Servier, Fujisawa sowie mehrere tausend deutsche Klinikärzte. Laut pharmainternen Studien, die ich aufgrund meiner undercover-Recherchen als "Pharma-Consultant" erwerben konnte, werden weltweit bis zu 16.000 Ärzte pro Pharmakonzern dafür bezahlt, dass sie im Sinn der jeweiligen Firma tätig sind und Stimmung für bestimmte Medikamente machen.

"Die Arzneimittelbehörde schläft und schläft und schläft"

Weltweit handelt es sich insgesamt also um mehrere hunderttausend Ärzte, die nebenbei und klammheimlich im Sold der Pharmaindustrie stehen. Das gilt allerdings nicht als Bestechung, denn sie erbringen meist auch konkrete Gegenleistungen wie Werbevorträge und Firmenberatung. Derartige Beziehungen zwischen Pharmaindustrie und Ärzten werden von renommierten medizinischen Institutionen - etwa dem Verband medizinischer Universitäten in den USA - als "Bedrohung der Unabhängigkeit und Integrität der Medizin und als Bedrohung des Patientenwohls" bezeichnet.

Wie stark ist ihrer Meinung nach dabei die Verstrickung von Politik und Pharmaindustrie?

Hans Weiss: Sehr eng! Sie hat es beispielsweise immer wieder geschafft, eine sogenannte Positivliste - eine Liste positiv bewerteter Arzneimitteln - gesetzlich zu verhindern. Aus mir vorliegenden internen Unterlagen des US-Pharmakonzerns Eli Lilly geht zum Beispiel hervor, dass allein im Budgetplan des Medikaments Zyprexa im Jahr 2002 für Lobbying und Beeinflussung von Beamten 26 Millionen Dollar vorgesehen waren.

Generell kann man sich dem Eindruck nicht verschließen, als würden die Geschäfte der Pharmaindustrie vorzüglich nach den Gesetzen der Massensuggestion ablaufen. Haben Sie Zahlen, wie viel Geld die Unternehmen für PR ausgeben?

Hans Weiss: Zu den PR-Ausgaben der Pharmakonzerne habe ich nur Zahlen aus dem Jahr 2003 zur Verfügung: Für das Rheumamittel Vioxx, das im Jahr 2004 wegen der Nebenwirkungen verboten wurde, gab die Herstellerfirma Merck im Jahr 2003 422 Millionen Dollar allein für PR aus. Für den Cholesterinsenker Lipitor (in Deutschland unter dem Namen Sortis vermarktet) gab der Hersteller Pfizer im Jahr 2003 insgesamt 712 Millionen Dollar für Werbung aus.

"Einmal falsch zu parken wird in Deutschland höher bestraft als wenn ein Pharmakonzern einmal ordentlich Ärzte besticht"

Für das Magen-Darmmittel Nexium gab der Hersteller AstraZeneca im Jahr 2003 insgesamt 573 Millionen Dollar aus. Generell kann man sagen, dass hochrangige Mediziner für Pharmakonzerne die wichtigste Rolle spielen, um sowohl fachintern als auch in der Öffentlichkeit ein Medikament erfolgreich zu vermarkten. In einer mit zur Verfügung stehenden pharmainternen Studie der Consultingfirma Cutting Edge wird nachgewiesen, dass es möglich ist, mit entsprechenden Geldmitteln und dem Einsatz von Marketingmaßnahmen "aus einem zweitklassigen Medikament" einen "erstklassigen Verkaufserfolg" zu machen. Das geschieht meist dadurch, dass man mehr ärztliche Meinungsbildner einkauft und für diese mehr Geld ausgibt.

Werden hierzulande Verstöße des Pharmawesens gegen Gesundheitsauflagen so niedrig sanktioniert, dass sich die Unternehmen diese ganz lässig leisten können?

Hans Weiss: Hierzulande wird in der Regel gar nicht sanktioniert. Die Arzneimittelbehörde schläft und schläft und schläft. Es gibt die sogenannte "freiwillige Selbstkontrolle der forschenden Arzneimittelindustrie. Offiziell sind da Strafen von 50.000 Euro in erster Instanz bzw. 250.000 Euro in zweiter Instanz vorgesehen. In der Realität ist es allerdings so, dass beim ersten Verstoß gar keine Strafe vorgesehen ist. Das bedeutet: Einmal falsch zu parken wird in Deutschland höher bestraft als wenn ein Pharmakonzern einmal ordentlich Ärzte besticht.

Wie kann man diesem Lobbyismus Einhalt gebieten?

Hans Weiss: Da bin ich ratlos. Realistisch betrachtet wird sich da in nächster Zeit wohl nicht allzu viel ändern. Ich sehe meine Aufgabe als Journalist darin, aufzuklären und Missstände aufzuzeigen.

Wie kann man den eigenen Hausarzt daraufhin testen, ob er den hypokratischen Eid ernst nimmt oder nur eine Verkaufsdrohne der Pharmaindustrie ist?

Hans Weiss: Wenn er Ihnen enthusiastisch ein neues Medikament "schmackhaft" machen will, sollten Sie ihn fragen, was der Vorteil dieses Medikaments gegenüber den bereits bekannten Medikamenten ist? Sie sollten ihn genau nach den Nebenwirkungen fragen. Sie sollten ihn auch fragen, ob er das Medikament im Rahmen einer sogenannten "Anwendungsbeobachtung" verschreibt. "Anwendungsbeobachtungen" sind fast immer reine Marketingmaßnahmen von Firmen - da kriegt der Arzt Geld von der Firma, dass er das Medikament verschreibt und einen Fragebogen über die Wirkung und Verträglichkeit ausfüllt.