Rechtsstaatliche Prinzipien? Das muss nicht sein...

Die Film- und Musikindustrie will ihre Abschreckungskampagne in Form von Massenklagen einstellen. Ein Ende der "Schreckensherrschaft"? Eher der Anfang einer neuen, weitaus gefährlicheren Schreckensherrschaft

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Schon seit einiger Zeit setzen sich Lobbyisten von Film- und Musikindustrie (FI/MI) recht erfolgreich für eine neue Methode der Abschreckung ein. Statt auf langwierige Klagen zu bauen, sucht man den Schulterschluss mit den Providern. Ein Ende der Schreckensherrschaft ist in diesem Schritt allerdings nicht zu sehen, vielmehr ist das, was Film- und Musikindustrie nunmehr vorhaben, weitaus gefährlicher und soll ganz nebenbei auch rechtsstaatliche Prinzipien aushebeln.

Three Strikes and you are out/slow

Die Idee, dem Internetnutzer nach drei Verfehlungen den Zugang zum Netz zu kappen oder zu verlangsamen, orientiert sich an dem „Three-Strikes-and-you-are-out“-Verfahren im US-amerikanischen Strafrecht und ist erst vor kurzem sehr knapp am EU-Parlament gescheitert. Die FI/MI wünscht sich hier, dass Provider bei der ersten Verfehlung (Herunter- oder Hochladen von urheberrechtlich geschütztem Material ohne Genehmigung derjenigen, die die Monopolrechte innehaben) eine Warnmail versenden, welche auf die Tat aufmerksam macht und Sanktionen ankündigt. Die zweite Warnmail würde ähnliches enthalten, die dritte kündigt dann eine Verlangsamung des Internetzuganges oder gar eine Kappung an.

Wie Markus Beckedahl treffend auf Netzpolitik kommentiert, bringt diese „Lösung“ eine Vielzahl von Problemen mit sich. In seinem Kommentar weist er insbesondere darauf hin, dass auf diese Weise die Eskalationsschraube zwischen FI/MI und Internetnutzern weiter angezogen wird, der sanktionierte Nutzer keineswegs auch der Rechteverletzter sein muss, die IP-Adresse, die die FI/MI übermittelt, falsch sein kann usw. Gleich zu Beginn seiner Argumente gegen dieses „Three-Strikes“-System findet sich das wichtigste:

Hier wird eine Privatisierung der Rechtsdurchsetzung gefordert, ohne jegliche Überprüfung auf Rechtsstaatlichkeit und mit Umgehung jeglicher rechtsstaatlicher Instanzen.

Dass genau die Rechtsstaatlichkeit der FI/MI ein Dorn im Auge ist, hat erst jüngst einer der beiden Chef-Lobbyisten der Motion Pictures Association of America (MPAA), Bob Pisano, in einem Interview mit der Welt zugegeben. Auf die Frage, ob die Idee der Netzkappung/-verlangsamung nicht letztendlich bedeutet, dass hier der „Traum eines Staatsanwaltes“ erfüllt wird, weil es nur mehr einen Ankläger und eine "Verurteilung ohne Anhörung" gibt, antwortet Pisano:

Ich bin zuerst für den Versuch, Verhalten zu ändern. Aber das Konzept des "Prozesses mit Jury" war ein Konzept der analogen Welt. Ich bin nicht sicher, dass es auch für die digitale Welt geeignet ist, wo alles in Nanosekunden geschieht. Aber natürlich muss es eine Möglichkeit der Berufung geben.

Das Wort „Berufung“ zeigt deutlich die Reihenfolge auf, die der MPAA hier vorschwebt:

  1. der Provider erhält die IP-Adresse und eine Information über das Produkt, das heruntergeladen wurde
  2. der Provider handelt (Warnmails, Zugangsverlangsamung, Zugangsverhinderung)
  3. der Betroffene kann gegen diese Maßnahme „in Berufung gehen“

Wer haftet für entstandenen Schaden?

Spielt man dies so durch, dann stellt sich die Frage, gegen wen der Betroffene in Berufung gehen kann. Ist sein Ansprechpartner der Provider, der hier bei einer Kampagne von Privaten als Hilfssheriff fungiert, oder doch die FI/MI selbst, die quasi den „Auftrag“ zur Sanktionierung gab? Dies ist insbesondere hinsichtlich der Schadensersatzansprüche wichtig. Alle die Privatsphäre und Netzneutralität betreffenden Argumente einmal absichtlich außer Acht gelassen, ist der Internetzugang für viele heutzutage lebenswichtig.

Die Anzahl derjenigen, die online arbeiten, steigt. Gerade auch Selbständige sind somit oft darauf angewiesen, dass ein Provider möglichst wenig Ausfallzeiten und schnellen Service garantiert. Für diese Onlinearbeiter könnte eine Netzsperre, die sich ja aller Wahrscheinlichkeit nach solange auswirken würde, bis entweder ein neuer Provider gefunden oder aber durch die „Berufung“ die Sperre aufgehoben wurde, einen langfristigen Verdienstausfall bedeuten - von etwaigen Schadensersatzforderungen auf Grund verspäteter Abgabe von Projekten ganz zu schweigen. Auch birgt das System ein hohes Missbrauchspotential in sich. Zum einen auf Seiten der Spammer, die den ersten Brief der MPAA sicherlich gerne kopieren und als Entwurf für neuartige Spam-Mails verwenden würden; zum anderen auf Seiten der Saboteure, die einer missliebige Konkurrenz/Person beträchtlichen Schaden zufügen könnten, indem sie den Providern gefälschte Briefe schicken, auf dass es zu einer Netzsperre kommt.

Einmal Flatrate: 300 Euro?

Hier zeigt sich auch, welche Gefahr für die Provider entstünde. Entweder jeder Provider müsste eine riesige Rechtsabteilung allein für die Schreiben der FI/MI besitzen (für kleinere Provider das endgültige Aus), oder aber das Risiko durch die unschuldig Bestraften wäre so hoch, dass Schadensersatzforderungen in erheblicher Höhe zu erwarten wären. Jede dieser beiden Optionen wird letztendlich zu erhöhten Kosten für den Internetnutzer führen. Gerade für jene, die momentan bereits zunehmend von der Teilnahme am Internet ausgeschlossen werden (prekäre Arbeitsverhältnisse, ALGII-Empfänger usw.), würde dies eine weitere Behinderung bedeuten, was in Zeiten des One Laptop Per Child absurd anmutet. Denn während man zunehmend versucht, die ärmeren Länder in technischer Hinsicht weniger zu behindern, arbeitet man in der „westlichen Welt“ daran, diese Behinderungen weiter auszubauen.

Alle Macht der FI/MI?

Die Abkehr von den Massenklagen ist ohne Zweifel zu begrüßen, doch die neuen Ideen der FI/MI sind eine endgültige Abkehr vom rechtsstaatlichen Prinzip im Internet. Sollte sich diese Idee tatsächlich in Gesetzesform gießen lassen, so würde dies bedeuten, dass eine Macht in die Hände der FI/MI gelangt, die dieser die Möglichkeit gibt, jeden kurz- oder langfristig vom Internet abzukoppeln.

In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht die Bedeutung der IT für die Gesellschaft bereits erkannt und festgestellt. IT-Systeme seien "gewissermaßen allgegenwärtig" und "für die Lebensführung der Bürger von zentraler Bedeutung." Außerdem nehme die Bedeutung der IT für die Persönlichkeitsentfaltung durch die zum Normalfall werdende Vernetzung zu, urteilte Gerichtspräsident Papier während der Entscheidung zur Onlinedurchsuchung. Dass private Interessen hier dieser Bedeutung gegenüber höhergestellt sein sollen, bleibt weiterhin fragwürdig. Bedauerlich bleibt die Tatsache, dass die FI/MI sich hier Rechte herausnimmt, die nicht einmal ein Strafverfolger oder ein Geheimdienst besitzt.