"Bis die Regierung stürzt"

Mit der letzten Demonstration von Schülern und Studierenden am 23. Dezember ging auch der Aufstand in Griechenland in die Weihnachtsferien

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Die bis vor wenigen Tagen besetzten Schulen sind leer und geschlossen. Für die Weihnachtsferien haben auch die meisten der protestierenden Schüler mit ihren Eltern die Stadt verlassen und sind in „ihr Dorf gefahren“. Ebenso wie die meisten Studierenden aus den ebenfalls bis vor kurzem besetzten Hochschulen. Nur die traditionellen Hochburgen studentischer Erhebungen, die Juristische Fakultät, die Wirtschaftsuni und natürlich das Athener Polytechnikum sind noch besetzt. Aber auch hier werden die Besetzer in Kürze nach Hause fahren. Mit der letzten großen Demonstration am Tag vor Heiligabend ging auch der Aufstand in Griechenland in die Weihnachtsferien.

In der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember krachte es jedoch erneut in Athen. Unbekannte warfen Brandsätze gegen die Filiale einer Bank, einer Zweigstelle des Agrarministeriums sowie zwei Autohäuser. In allen Fällen wurden Sachschäden verursacht. Sorgen bereitet den Behörden dagegen ein anderer, nicht einzuordnender Anschlag. Bereits in der Nacht zum 24. Dezember hatten Unbekannte, offensichtlich mit einer Kalaschnikow, Schüsse auf einen Polizeibus abgefeuert. Verletzt wurde niemand.

Bild: H. Schrader

Impressionen aus Athen

Die Auftaktkundgebung zur letzten Massenmanifestation des Jahres verzögert sich. Auf dem Athener Internetportal von Indymedia war zunächst 14:00 als Beginn angegeben worden. Erst am Morgen des 23. Dezember war die Zeit auf 12:00 geändert worden. Und so sind um 12:30 nur eine Handvoll Anhänger der „Sozialistischen Arbeiterpartei (SEK), Schwesterorganisation des deutschen Linksruck auf dem Kundgebungsplatz vor den historischen Gebäuden der Athener Universität. Aber die von SEK sind sowieso immer die ersten. Doch bis 14:30 hat sich der Platz gut gefüllt. Zwar sind es nicht mehr so viele, wie auf der Demo letzte Woche, aber das war zu erwarten. Viele Studierende und auch die Familien vieler Schüler haben Athen bereits verlassen.

Eine Gruppe von Studierenden der Kunsthochschule singt die Weihnachts-Kalada, eine Art orthodoxes Pendant zum katholischen Sternsingen am 6. Januar. Natürlich mit einem anderen Text. „Der Protest verändert sich, angefangen hat er mit Zerstörungen, jetzt geht es mit Liedern weiter“, meint Nikolaos, auch er Student an der Athener Kunsthochschule. Diese Protestform liegt ihm eher, doch verurteilen will er andere nicht. „Steine schmeißen ist nicht mein Ding, ich kann nichts zerschlagen. Aber jeder kämpft eben auf seine Weise.“ In Anspielung auf den vor einigen Tagen abgefackelten Weihnachtsbaum Athens singt die Gruppe auch noch ihre Version von „Oh Tannenbaum“. Für den Heiligmorgen werden die Hiergebliebenen aufgefordert, sich um 11:00 Uhr zum Kalada-Singen am Syntagmaplatz, vor dem Parlament zu treffen. Meinen Einwand, die Parlamentarier seien doch ebenfalls schon in den Ferien, lässt Nikolaos nicht gelten. „Wir singen für die Vorbeigehenden.“

Plötzlich kommt Unruhe auf. Eine Menge Leute verlassen den Platz und laufen den Boulevard hinauf zur nächsten Kreuzung. 100 Meter weiter ist die Straße mit einem Band abgesperrt, doch der davor ursprünglich quer gestellte Streifenwagen liegt auf der Seite. Sofort lassen die Banken die Rollläden runter, Polizei der Sondereinheiten stellt sich vor den umgekippten Streifenwagen. Gegenüber dem grünen Block der Sondereinheiten formiert sich der schwarze Block der Demonstranten. Für einige Minuten bleibt die Situation angespannt. Dann drehen Polizisten den Streifenwagen wieder auf die Räder und fahren ihn aus der Sicht. Grüner und schwarzer Block gehen auseinander.

Bevor sich der Zug auf dem Boulevard formiert, wird über Lautsprecher bekanntgegeben, dass auch diese Demonstration – sicher ist sicher – von einer Gruppe von Rechtsanwälten begleitet wird. Einen Überblick darüber, wie viele in den vergangenen Tagen bei Demonstrationen oder Auseinandersetzungen festgenommen wurden haben die bekannten Anwälte jedoch nicht. „Was wir wissen ist, das eine ganze Reihe von Migranten vor dem Schnellrichter wegen kleiner Delikte zu horrenden Strafen verurteilt wurden“, erklärt Rechtsanwältin Aleka Tsorbala. So wurde zum Beispiel ein beim Klauen eines Mobiltelefons aus einem zerstörten Laden erwischter Ausländer zu 18 Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Und wer immer ohne Papiere aufgegriffen wurde, sitzt in Abschiebehaft. „Die meisten Migranten standen ohne Anwalt vor den Schnellrichter.“ Aber auch von den Griechen haben sich die wenigsten an die bekannten politischen Anwälte gewandt. „Viele haben den ‚Familienanwalt’ zu Rate gezogen. Das zeigt auch, wie breit die Proteste sind“, erläutert die Anwältin. Denn in der anarchistischen Szene in Exarcheia kennt man die Namen und Nummern der linken Politanwälte.

Die Uhr zeigt 15:30 und es ist – für Athener Verhältnisse – eisig kalt, als sich der Zug endlich in Bewegung setzt. Im Gegensatz zu den von jungen Gymnasiasten dominierten Demonstrationen der letzten Tage ist heute eher der „harte Kern“ aus den Universitätsbesetzungen auf der Straße. Doch die Hauptforderung ist die selbe, wie seit Tagen: Die Regierung muss weg (Verletzte Demokratie). Dafür demonstrieren auch drei junge angehende Pädagoginnen. Sofia, Eleni und Vasso wollen weitermachen, „bis die Regierung fällt“. Zwar wissen sie nicht, wie das Ergebnis von Neuwahlen aussehen würde, ihre Hoffnungen liegen aber bei einer Koalition aus der sozialdemokratischen PASOK und der Linksallianz SYRIZA. „Doch wenn wir es schaffen, die Regierung zu stürzen, können wir auch mit Veränderungen rechnen“, meint Eleni. „Vielen Menschen werden dann sicher ihre Forderungen einbringen“, ergänzt Sofia. Natürlich sei die pädagogische Hochschule besetzt gewesen, erklärt sie stolz. „Und zwar nicht von Anarchisten, sondern auf Beschluss unserer Vollversammlung der Studierenden.“

Der Zug marschiert in loser Formation, nur in wenigen Blöcken hat man Ketten gebildet. Doch die Stimmung ist angespannt. An jeder Straßenkreuzung stehen die martialisch ausgerüsteten "Robocops" der griechischen Sondereinheiten. Weitere „begleiten“ die Demonstration an beiden Seiten. Aus dem Zug wird die Wut über die als provozierend empfundene Präsenz der Polizei geäußert. Weil diese sich trotz mehrfacher Aufforderung seitens der Demonstranten über Megafon nicht etwas zurückzieht, müssen sich die Polizeibeamten die seit Tagen sattsam bekannten Parolen anhören: „Vorsicht, passt auf, Mörder in Uniform“. Und auf den Tod des jungen Alexis bezogen: „Diese Kugel war kein Zufall, Hände weg von der Jugend“.

Jemand verteilt OP-Masken an seine Freunde. Ob die besser sind, als die aus dem Baumarkt, will ich wissen. „Ich glaube nicht, aber ich bin Zahnarzt“, meint der junge Mann. „Ein Paket habe ich für die Demo gekauft und eines für die Praxis. Willst du auch eine?“ Ich nehme dankend an. Wer weiß, ob es nicht doch noch knallt und das in Griechenland eingesetzte CS-Tränengas ist wesentlich „umwerfender“ als das deutsche Pfefferspray.

Abweichend von der sonst üblichen Demoroute wird eine Runde um den Syntagmaplatz gedreht. In dessen Mitte steht der wohl am besten bewachte Weihnachtsbaum der Welt. Seit sein Vorgänger am ersten Tag der Massendemonstrationen abgefackelt wurde, bewachte eine eigene Einheit Sonderpolizei den in den Rang eines nationalen Symbols erhoben Plastikbaum.

Vor dem Parlament angekommen wird der im Zug mitgeführte riesige Schweinekopf aus Pappmasche mit Polizeimütze (das griechische Pendant zum deutschen „Bullen“ lautet „Gourouni – Schwein“) vor die Polizeiabsperrung geschoben und in Brand gesetzt. Dazu noch ein paar letzte Parolen und dann zieht die Demo zurück zum Kundgebungsplatz am Unigelände.

Kein Stein ist geflogen, kein Molotow hat gebrannt und kein Tränengas wurde versprüht. Bleibt zu hoffen, dass Nikolaus dennoch recht behalten wird und die Proteste zunehmend weniger gewalttätige und mehr fantasievolle Formen annehmen. Für Griechenland jedoch ist eines sicher: dieses Weihnachten ist anders. Und auch im neuen Jahr wird es weitergehen. Die erste Massendemonstration wurde bereits für den 9. Januar angekündigt. „Bis die Regierung stürzt.“