Genug ist genug

Während Israels Militäroperationen im Gazastreifen und der Raketenbeschuss der jüdischen Städte in der Nachbarschaft weiter gehen, wird auch die Frage diskutiert, wer angefangen hat

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Es ist eine Militäroperation (siehe Zündeln im Sturm) in einer Intensität, die es so seit den 80er Jahren nicht mehr gegeben hat. Es ist auch eine Einsatzbereitschaft der Hamas-Kämpfer, die seit Gründung der Organisation zu Beginn der ersten Intifada im Dezember 1987, nicht erkennbar gewesen ist. Seit dem Ende des Waffenstillstandes zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen gingen auf die Städte und Gemeinden in der Nachbarschaft Dutzende von Raketen nieder, die mittlerweile auch die Großstädte Aschkelon und Aschdod erreichen; zwei Menschen starben, rund 20 wurden verletzt. Bei den Luftschlägen, mit denen Israels Luftwaffe seit Samstag Morgen Ziele der Hamas, alles von Bürogebäuden bis hin zu Polizeistationen, im Norden des dicht bevölkerten Landstrichs angreift, kamen nach Angaben des palästinensischen Roten Halbmondes mindestens 200 Menschen, darunter auch zivile Opfer ums Leben; Hunderte wurden oft schwer verletzt. Doch das Ende des Waffenstillstandes war nicht der Beginn der Eskalation: Sie hatte sich bereits seit dem Beginn der Waffenruhe abgezeichnet.

Es hatte Wochen gedauert, bis der Raketenbeschuss Israels einigermaßen aufhörte; es passierte nie, dass Israel, wie eigentlich vereinbart, die Übergänge für Personen und Warentransporte öffnete; nur Hilfsgüter wurden hinein gelassen. Und am Ende seit November nicht einmal mehr sie. "Genug ist genug", begründete Außenministerin Zippi Livni die Militärschläge. "Jetzt erst recht", hält die Hamas dagegen: Die Bevölkerung habe lange genug gelitten. Die sei doch selber Schuld, antworten israelische Rechte. Die Blockade des Gazastreifen habe die Bevölkerung doch erst in die Arme der Hamas getrieben, die die humanitäre Lage nun dazu nutze, zu ihrem militanten Kurs zurückzukehren und ihren Rückhalt in der palästinensischen Bevölkerung auch im Westjordanland auszubauen, sagen hingegen israelische Linke.

Wer Recht hat, wird wohl niemals abschließend zu klären sein. Mittlerweile mehren sich in Israel die Stimmen, die die Ansicht äußern, dass es wohl besser gewesen wäre, von Anfang an aus alten Denkweisen auszubrechen und den Ausgleich mit der Hamas zu suchen. Doch das ist immer noch schwer, weil die Menschen hierzulande die Organisation überwiegend mit Terror und Todesopfern in Bussen und Einkaufszentren in Verbindung bringen.

Wie die Region sich auf eine größere Konfrontation zubewegt

Sonntag Mittag, kurz nach Zwei Uhr Ortszeit. Die Schule ist aus. Vor dem Damaskus-Tor in der Jerusalemer Altstadtmauer haben sich Gruppen von arabischen Jugendlichen versammelt, die Parolen gegen Israels Regierung skandieren. Direkt daneben: israelische Elite-Polizisten in martialischen Uniformen. Auf einer Mauer beobachten einige unerschrockene Touristen das Treiben, während in einer Seitenstraße Wasserwerfer auffahren und sich berittene Polizei versammelt.

Eigentlich sollte der Autor dieses Textes jetzt in Gaza sein, sich die Lage vor Ort anzuschauen, aber die Grenze ist hermetisch zu, auch für Journalisten, für die die Einreise normalerweise möglich ist. Reisen ins Westjordanland sind zwar möglich, aber schwierig: Mehrere Stunden dauern Ein- und Ausreise nach Ramallah, Nablus, Hebron und selbst Jericho im Moment, berichten Kollegen.

Aber auch im Osten Jerusalems ist in diesen Stunden sehr gut zu beobachten, wie die Region sich auf eine größere Konfrontation zubewegt. Die arabischen Nachrichtensender, die ständig Korrespondenten in Gaza stationiert haben, haben mit dramatischen Bildern, die derzeit nahezu 24 Stunden am Tag von den Menschen in Ost-Jerusalem, dem von vielen Arabern bewohnten Norden Israels und im Westjordanland verfolgt werden, für eine Vielzahl von Emotionen gesorgt. "Zippi Livni hat gesagt, genug ist genug, aber jetzt ist es für uns genug," sagt Mohammad, 17, einer der Jugendlichen, die auf der Straße gegenüber des Damaskus-Tores demonstrieren: "Wie können wir weiterhin zusehen, wie unsere Brüder am Verhungern sind, und dann auch noch getötet werden - das ist ein Massaker." Die umstehenden Jugendlichen rufen "Freiheit für Gaza", ein Polizist nähert sich in drohender Pose.

"Genug ist genug", das ist ein Ausspruch, der auch am Samstag abend in Sderot vielfach zu hören gewesen war: "Meine achtjährige Tochter hat Panikattacken; ich kann nicht mehr arbeiten, meine Familie nicht mehr ernähren, weil wir ständig in den Luftschutzraum müssen und deshalb nicht mehr aus dem Haus kommen", brüllte der 38jährige Familienvater Jossi Misrachi regelrecht an, während in der Nähe die Luftschutzsirene ertönte und den vielen Journalisten, die in diesen Tagen Sderot in den Mittelpunkt des Interesses der israelischen Medien stellen, einen Geschmack davon gab, wie es ist, wenn man sich mit vielen Unbekannten in einen kahlen Betonraum drängt und auf den Knall wartet, den eine einschlagene Rakete erzeugt. Dieses Mal blieb der Einschlag aus - die Rakete ging außerhalb der Stadt auf einem Feld nieder.

Israel sagt, die Hamas hat angefangen; die Hamas sagt, Israel hat angefangen

Es ist jetzt 14.30. Gerade hat sich ein Kollege aus Gaza gemeldet, nur wenige Minuten lang, bis die Telefonverbindung zusammen brach. "Die Straßen sind leer, kaum jemand traut sich noch aus dem Haus," hat er berichtet: "Gerade waren in der Ferne wieder Explosionen zu hören; was getroffen wurde, wissen wir nicht. Es ist zu gefährlich, dort vorbei zu schauen."

Jeder, der im Gazastreifen eine Uniform trage, sei ein Ziel, hatten Israels Militärsprecher am Samstag immer wieder gesagt. Und die Gefahr, sich zur falschen Zeit in der Nähe eines solchen Uniformträgers aufzuhalten, sei einfach zu groß. Ob das seiner Meinung nach bedeute, dass die Menschen in Gaza von der Hamas abrücken? "Ich denke nicht. Alle mit denen ich gesprochen habe, sind für die Hamas. Sie glauben, dass die Hamas für ein besseres Leben kämpft. Sie wollen nur nicht sterben."

An der Grenze nördlich des Gazastreifen fahren derweil Panzer auf; Reservisten wurden bereits am Samstag abend mobilisiert - die Vorbereitung auf eine mögliche Bodenoffensive. Das Ziel der Operation sei es der Hamas "den Kopf abzuschlagen", sie "unschädlich" zu machen, sagen israelische Regierungssprecher. Man kämpfe für die Freiheit der Palästinenser und der Menschen im Gazastreifen im Besonderen, sagen hingegen Sprecher der Hamas und betonen, dass man im Recht sei:

Israel hat sich an keinen internationalen Vertrag gehalten, verletzt internationales Recht, wo es nur kann. Niemand kann uns verlangen, dass wir uns dagegen nicht zur Wehr setzen.

Israel sagt also, die Hamas hat angefangen; die Hamas sagt, Israel hat angefangen. Die Frage nach dem biblischen ersten Steinwurf ist eigentlich nur eine Frage. Nur heutzutage hat sie politische Dimensionen, denn sie schafft Legitimität, die den internationalen Druck nimmt. Israels Außenministerium hat dafür bereits kurz nach dem Ende des Waffenstillstandes eine internationale PR-Kampagne gestartet, die den Regierungen, aber vor allem den Menschen im Ausland erklären soll, warum eine massives Vorgehen gegen die Hamas nun so ungemein wichtig ist, denn die Meinung der Menschen ist wichtig, um in westlichen Medien-Demokratien Regierungen auf die eine oder andere Seite zu drängen. Dabei hat Israel, wie sich nun heraus stellt, einen schwierigen Stand: In der arabischen Welt kann die Hamas die Nachrichtensender auf ihrer Seit wähnen, und auch in der westlichen Hemisphäre punktet der Verweis auf die schlechte Lage im Gazastreifen.

"Eine mächtige Armee hat im Vergleich zum Bild des unterbewaffneten Freiheitskämpfer im menschlichen Bewusstsein immer den schlechteren Stand", schreibt Amos Harel in der israelischen Tageszeitung HaAretz. Das werde Israel nun zum Verhängnis: Viele Regierungen und die Vereinten Nationen haben Israel zur Einstellung der Kampfhandlungen aufgefordert; selbst viele Israelis kritisieren das Vorgehen der Armee.

Die Meinung, dass Israel die Konfrontation selbst herauf beschworen hat, indem es den Gazastreifen abriegelte und Gespräche mit der Hamas verweigerte, wird mittlerweile auch von einigen Kommentatoren vertreten, die noch vor Monaten jeden Kontakt zur Hamas verteufelten: "Die Sorge, dass es jetzt wieder Krieg gibt, hat vor allem viele Journalisten zum Umdenken bewogen," sagt Jonathan Weiss vom ersten israelischen Fernsehen:

Eigentlich hätten wir diese Einsicht von Anfang an haben können. Ich denke, dass es nun Zeit ist, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen und neue Wege zu gehen, den Ausgleich mit der Hamas zu suchen. Nur eine deutliche Verbesserung der Lebensbedingungen im Gazastreifen kann den Israelis im Süden Frieden bringen.

Was wäre passiert, wenn Israel mit dem Beginn des Waffenstillstandes die Grenzen geöffnet und Gefangene ausgetauscht hätte? Das ist umstritten. Israels Armeeführung und rechte Israelis sind der Überzeugung, dass die Hamas das als Sieg gefeiert, damit ihre Position gestärkt und ausserdem ihre Waffenlager aufgefüllt hätte. Letzteres sei ohnehin passiert, hält die Linke dagegen:

Durch eine Vielzahl von mittlerweile sehr gut ausgebauten Schmuggel-Tunneln unter der ägyptischen Grenze hindurch sei in den vergangenen Monaten von Waffen und Sprengstoffen bis hin zu Coca Cola (die dann zu heftigen Preisen weiter verkauft wird) so gut wie alles in den Gazastreifen gelangt; nur hätten sich die meisten Palästinenser dort die Schmuggelwaren nicht leisten können, weil mehr als 70 Prozent unterhalb der Armutsgrenze existieren.

"Das sind eben auch jene Leute, die sich hinter die Hamas stellen, weil sie von ihr eine Verbesserung der Lebensumstände erhoffen", sagt Ali Waked, Korrespondent für die palästinensischen Gebiete bei der israelischen Zeitung Jedioth Ahronoth: "Durch eine frühzeitige Öffnung der Grenzen hätte man der Hamas sehr viel Wind aus den Segeln nehmen können." Und Kontakte innerhalb der Hamas bestätigen das: "Warum sollten wir kämpfen, wenn wir leben können?"

Politiker wie Arijeh Eldad von der neuen rechten Partei "HaTikwah" halten dagegen, für diese Einsicht sei es nun zu spät; niemand habe die Hamas (siehe Totale Verneinung) davon abgehalten, gleich nach der Parlamentswahl (siehe "Wenn es nicht anders geht, müssen wir eben ohne die palästinensische Seite weitermachen") im Januar 2006 ihre Rufe nach der Zerstörung Israels aufzugeben: "Der Weg für Kontakte wäre damit offen gewesen. Warum sollten wir auf jemanden zugehen, der uns ins Meer treiben will?" (siehe Unsicherheit auf beiden Seiten) Nach Ansicht des Journalisten Waked greift diese Sichtweise allerdings zu kurz:

Die Hamas war damals nicht reif dafür. Die Wahlliste der Partei erkannte sehr schnell, dass sie reale Politik machen muss, um regieren zu können, aber die Führung in Damaskus sperrte sich dagegen. Es war der Hamas einfach nicht möglich, auf Israel zuzugehen, denn sonst hätte es einen Bruch innerhalb der Organisation gegeben.

Die Panzer warten auf ihren Einsatzbefehl

15:30 Uhr, immer noch Sonntag. In Jerusalem hat sich die Lage wieder beruhigt, dieses Mal noch ohne dass Jugendliche Steine warfen und Polizisten Tränengas und Gummigeschosse einsetzten. Im Westjordanland und in vielen arabischen Staaten wird derweil weiter demonstriert, während die Nachrichtensender unaufhörlich die neuesten Bilder aus Gaza auf den Bildschirm liefern.

An der Grenze zu Gaza warten die Panzer auf ihren Einsatzbefehl, von dem niemand weiß, ob er kommen wird. Das hängt wohl vor allem davon ab, ob es Ägypten oder einem anderen Vermittler gelingen wird, einen Deal auszuhandeln.