Gespaltene Herzen bei Palästinensern

Die Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland hat sich hinter das Vorgehen Israels gegen die Hamas im Gazastreifen gestellt und damit die Bevölkerung gegen sich aufgebracht

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Die israelischen Luftangriffe auf Ziele im Gazastreifen werden weniger, nachdem nun fast die gesamte Infrastruktur der Hamas in dem dicht bevölkerten Landstrich zerstört zu sein scheint. Trotzdem feuern Kämpfer der Hamas weiterhin Raketen auf den Süden Israels ab. Deshalb scheint eine Bodenoffensive kurz bevor zu stehen: Man müsse sich auf einen langen und harten Kampf einstellen, sagen Sprecher des Militärs. Einen Waffenstillstand, wie er von der Hamas und der internationalen Gemeinschaft gefordert wird, lehnte Premierminister Ehud Olmert am Dienstag erneut ab.

Getötete Kinder, Bild von al-Dschasira

Die Bilder, die die arabischen Nachrichtensender, die zu den wenigen Medien mit Korrespondenten im für Journalisten geschlossenen Gazastreifen zählen, liefern, haben auch ihre Wirkung auf die Menschen im Westjordanland und im arabischen Ost-Jerusalem nicht verfehlt: Dort ist man wütend. Auf Israel. Aber auch auf die Palästinensische Autonomiebehörde, und auf die Fatah, die sie anführt. Denn die mit der Hamas verfeindete Fraktion, die zur Dachorganisation PLO gehört, hat der Hamas die Schuld für die Eskalation gegeben und macht kaum einen Hehl daraus, dass ihr das israelische Vorgehen gegen die Radikalislamisten ganz recht ist. Man hofft darauf, dass Israel einen Schlussstrich unter die Herrschaft der Hamas im Gazastreifen zieht und die Region wieder Teil der Palästinensischen Autonomiegebiete wird. Die Bevölkerung sieht diese Haltung höchst kritisch und fordert eine klare Abgrenzung der Fatah von den israelischen Angriffen.

Am Montagabend, Punkt sechs, haben sie sich, wieder einmal, vor dem Damaskus-Tor in Ost-Jerusalem versammelt, bewaffnet mit Plakaten, und palästinensischen Fahnen, um zu demonstrieren. Es ist kalt, es regnet, und die schwarz gekleideten israelischen Elite-Polizisten, die die Demonstration mit ausdruckslose Gesichtern verfolgen, geben sich gelassen: "Nein, hier wird heute nichts passieren", erklärt einer von ihnen einigen der wenigen Journalisten, die sich an diesem Jerusalemer Winterabend her bemüht haben. "Heute regnet es und da haben die Leute keine Lust auf Ausschreitungen."

Im Fernsehen in einem Café in der Nähe ist derweil CNN eingeschaltet, wo sich eine aufgeregt wirkende Korrespondentin bemüht, dem Zuschauer zu den Live-Bildern ("Breaking News") von einer Demonstration in London zu erklären, was "Free Palestine" eigentlich bedeutet. Ein paar der arabischen Demonstranten in Ost-Jerusalem kaufen Kaffee, schön süß, bitte, und lachen herzhaft: "Meine Güte - was soll Free Palestine schon bedeuten? Die sollen lieber über Gaza berichten, oder über das, was in der Palästinensischen Autonomiebehörde abläuft", sagt der 26jährige Amdschad, Student an der Al Kuds-Universität in Jerusalem. Auf die Autonomiebehörde ist er sauer, sehr sauer, und steht damit nicht allein: Sobald das Gespräch auf die palästinensische Führung unter Leitung von Präsident Mahmud Abbas kommt, kann es aller Orten sehr laut werden. Abbas und seine Leute seien Verräter, sagt Amdschad: "Die verbergen doch nicht einmal, dass sie von Israel gekauft sind."

Es ist eine Meinung, die von vielen Palästinensern im Westjordanland und in Ost-Jerusalem geteilt wird: Die arabischen Nachrichtensender, deren Programme in diesen Tagen nahezu allgegenwärtig sind, liefern fast 24 Stunden am Tag dramatische Bilder, begleitet von ebenso dramtischen Kommentaren und manchmal auch Musik, die tote oder verletzte Kinder, am Boden liegende Männer mit oft furchtbar aussehenden Wunden und viele zerstörte Gebäude zeigen. Es sind Aufnahmen wie diese, die die öffentliche Meinung in vielen arabischen Staaten und vor allem im Westjordanland geprägt haben: "Der Angriff Israels auf Gaza ist ein Angriff auf das gesamte palästinensische Volk", sagt Amdschad wütend. "Hamas, Fatah, Israel - was weiß schon ein Kind davon?" In der Nähe sind Lautgranaten zu hören - die Demonstration, zu der rund 1000 Leute gekommen sind, ist doch nicht so friedlich geblieben, wie der Polizist vorhergesagt hatte: Es werden Steine und auch ein Molotow-Cocktail geworfen. Die Polizei wird am Ende des Abends in Jerusalem rund 100 meist jugendliche Demonstranten festgenommen haben.

Wenig Zuspruch für die Hamas, wütend auf die Fatah

Im Westjordanland bietet sich ein ähnliches Bild: In vielen palästinensischen Städten wird nahezu täglich demonstriert, und immer öfter werden dabei auch palästinensische Polizisten angegriffen, denen es eher schlecht als recht gelingt, die Demonstranten, die oft mehr Parolen gegen die Autonomiebehörde als gegen Israel skandieren, in Schach zu halten. Anders als viele arabische Regierungen, die auf die öffentliche Meinung eingehen und sich klar gegen die Militärschläge gegen die Hamas gestellt haben, auch wenn man dort die Hamas an und für sich nicht besonders mag, hat die palästinensische Regierung unter Führung von Präsident Mahmud Abbas sich bisher nicht klar distanziert. Zwar bedauerte man die vielen Toten, an die 400 bisher, gab aber gleichzeitig der Hamas die Schuld an der Eskalation: Die Hamas habe damit rechnen müssen, dass Israel auf die Raketenangriffe reagieren würde.

Zudem macht man kaum einen Hehl daraus, dass man eigentlich ganz froh darüber ist, dass Israels Militär etwas gegen die Radikalislamisten unternimmt, weil die der Fatah-Fraktion von Abbas die Herrschaft in den Palästinensischen Gebieten streitig machen. Für die Führung der Fatah ist die israelische Operation eine willkommene Gelegenheit, sich einen lästigen Rivalen vom Hals zu schaffen. Denn Verhandlungen unter ägyptischer Vermittlung über eine Neuauflage der Einheitsregierung sind gescheitert; nahezu unversöhnlich stehen sich die beiden Parteien gegenüber:

Die Hamas nimmt für sich das Recht in Anspruch, die Regierung anzuführen, weil sie seit den Parlamentswahlen im Januar 2006 die absolute Mehrheit erreichte. Die Fatah will dies nicht zugestehen, weil dann wieder die Einstellung der ausländischen Finanzhilfen droht und außerdem die Systemfrage im Raum steht: Die Hamas strebt ein Gesellschaftssystem nach islamischer Art an (Träume ohne Grenzen); die Fatah möchte bei dem derzeitigen säkularen System bleiben, in dem Religion nicht die Leitschnur allen Handelns ist.

In der Theorie stimmt dem ein Großteil der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland zu: Man will sich nicht vorschreiben lassen, wie man zu leben hat; die Wahl der Hamas 2006 war vor allem eine Protestwahl gegen die Fatah, die nach 40 Jahren, in denen sie nahezu unangefochten die Geschicke der Palästinenser lenkte, von vielen Palästinensern als arrogant und korrupt gesehen wurde. Es ist auch dieser Widerspruch, der die Herzen der Palästinenser jetzt, in den Tagen der Gaza-Operation, tief gespalten hat: Nein, für die Hamas hat man nichts übrig, wäre sie am Liebsten wieder los, nachdem sie den Gazastreifen in einen Mini-Iran verwandelt und gezeigt hat, was sie am liebsten mit dem Westjordanland machen würde. Aber ja, man ist wütend darüber, dass Israel genau das jetzt macht und dabei viele Menschen sterben. Wütend ist man aber auch auf die Fatah, die sich über den Wählerwillen gestellt hat, und jetzt auch noch kaum ein Wort des Mitgefühls für die Toten übrig hat, die den gesamten Tag lang im Fernsehen zu sehen ist.

Für viele ist sie nur noch eine Marionette Israels, die kaum einen Hehl daraus macht, dass sie es am Liebsten hätte, wenn der Gazastreifen wieder Teil der Autonomiegebiete werden würde. "Es wäre sicherlich sehr hilfreich für die Menschen in Gaza, wenn der Gazastreifen wieder Teil der Autonomiegebiete werden würde", so die Mitarbeiter: "Die Lebensumstände würden sich drastisch verbessern; die Check Points würden wieder geöffnet werden." Und natürlich wünscht man sich, dass diese Rückkehr in die Arme der Autonomiebehörde unter der Führung der Fatah geschieht - eine Haltung, die übrigens auch Ägyptens Regierung einnimmt: Dort erklärte Präsident Hosni Mubarak am Dienstag, der Grenzübergang Rafah nach Ägypten werde nur dann wieder vollständig geöffnet, wenn sich der Gazastreifen wieder unter der Herrschaft der Autonomiebehörde befindet.

Nur ob das das passieren wird, ist derzeit völlig offen: Israels Außenministerin Zippi Livni erklärte am Dienstag einmal mehr, man habe nicht vor, die Hamas in Gaza zu stürzen; das Ziel der Operation sei es, ihr die Fähigkeit zu nehmen, Israel anzugreifen. Allerdings könnte dies ein Ergebnis der Lehren des zweiten Libanon-Krieges sein. Damals hatte man von Anfang an die Ziele sehr hoch gesteckt und war in der öffentlichen Meinung tief gefallen (Drei Napoleone), weil man sie nicht erreichte. Dieses Mal hat man der Armee deshalb sehr moderate Zielsetzungen gegeben und ist deshalb bereits jetzt in der Lage zu sagen, dass die Luftangriffe mehr erreicht haben, als man erwartet hatte. Nach israelischen Angaben liegt die gesamte Infrastruktur der Hamas lahm, was auch der Grund dafür sei, dass nicht mehr Raketen abgefeuert werden, obwohl die Kämpfer der Hamas mehrere Tausend davon haben müssten.

"Die Kämpfer sind nicht mehr in der Lage miteinander zu kommunizieren; viele der Raketen sind unerreichbar, weil die Gebäude, in denen sie lagern, zerstört sind", sagt ein Mitarbeiter von Verteidigungsminister Ehud Barak. Ob das allerdings wirklich zutrifft, lässt sich nicht zuverlässig sagen: Der Gazastreifen ist für Journalisten geschlossen; unabhängige Informationen über die Situation dort sind deshalb rar.

Eine dritte Intifada?

Mittlerweile macht die Befürchtung die Runde, dass eine weitere Intifada bevor stehen könnte, die sich dann möglicherweise auch gegen die Autonomiebehörde richten könnte. In der Tat gibt es nicht nur in Ost-Jerusalem und im Westjordanland Demonstrationen und Ausschreitungen, sondern auch in jenen Gebieten im Norden Israels, die überwiegend von Arabern bewohnt werden. Aufforderungen der Hamas-Regierung im Gazastreifen an die Menschen im Gazastreifen, gegen die Autonomiebehörde zu revoltieren, sind allerdings bislang ohne große Resonanz geblieben. "Ich denke, dass die palästinensische Regierung zwar nicht besonders beliebt ist, aber am Ende des Tages von den Meisten der Hamas vorgezogen wird", sagt der Soziologe Mahmud Saed: "Die Menschen sind einfach nur wütend, dass die Regierung nichts tut, um auf ein Ende der Gewalt in Gaza hin zu arbeiten."

Die Haltung der palästinensischen Regierung ist auch innerhalb der Fatah umstritten: Man solle die Verhandlungen mit Israel abbrechen, sagen einige. Andere fordern sogar, die Fatah solle selber zu einer neuen Intifada gegen Israel aufrufen, um der Hamas den Wind aus den Segeln zu nehmen, und nicht die Kontrolle zu verlieren. Doch Israels Regierung und Polizei sind fest entschlossen, dabei nicht mitzuspielen. Zwar habe jeder das Recht zu demonstrieren, hatte Israels Polizeichef Dudi Cohen am Montag gesagt, aber Gewalt werde man unter keinen Umständen zulassen, und die Polizei werde sich auch nicht auf Straßenschlachten mit Demonstranten einlassen. Gewalttäter müssten mit "Null Toleranz" und hohen Gefängnisstrafen rechnen; friedliche Proteste hingegen werde man zulassen. Man habe aus den Erfahrungen der ersten Tage der zweiten Intifada im Oktober 2000 gelernt - damals war es gerade das gewaltsame Vorgehen der Polizei gewesen, die die Proteste eskaliert hatten.

Und so ist es auch am Montagabend: Die meisten Polizisten halten sich in Seitenstraßen zum Eingreifen bereit; direkten Kontakt mit den Demonstranten haben nur einige wenige, die anders als sonst üblich in Overalls gekleidet sind, unter denen die martialisch aussehenden kugelsicheren Westen verborgen sind. Statt mit Schlagstöcken und einem Arsenal, das normalerweise unter anderem aus Tränengas-Granaten und Gewehren für Gummipatronen besteht, ist diese Vorhut mit Gewehren ausgestattet. Man wolle Präsenz zeigen, um abzuschrecken, aber auch deeskalieren, sagt einer der Polizisten: "Wir möchten den Demonstranten nicht das Gefühl geben, von uns bedroht zu werden, aber dennoch vorbereitet sein, falls sie aggressiv werden. Am Ende sind das dann doch nur ein paar wenige."