Vollbremsung in Rumänien

Einstmals als neoliberaler Musterknabe Osteuropas gefeiert, droht nun Rumänien der ökonomische Absturz in die Rezession

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Es sind gerade mal drei Monate vergangenen, als Rumäniens Regierungschef Calin Popescu Tariceanu seine Mitbürger angesichts der um sich greifenden Finanzkrise zu beruhigen suchte: „Die Antwort ist ein klares nein,“ rekapitulierte kürzlich die rumänische Wirtschaftszeitung Standard die öffentlichen Beteuerungen des Premiers: „Die internationale Finanzkrise wird weder Rumäniens Wirtschaft, noch seine Bürger in Mitleidenschaft ziehen.“ In der Tat schienen die ersten, das internationale Finanzsystem Anfang 2008 erschütternden Schockwellen Rumänien – wie auch das gesamte Mittelosteuropa – zu verschonen. Doch nun habe sich laut dem Standard die Lage drastisch gewandelt. Rumäniens Arbeitsmarkt müsse bereits 50.000 neue Arbeitslose verkraften, da schon etliche Fabriken geschlossen hätten. Die rumänische Währung befinde sich in einem Vierjahrestief gegenüber dem Euro und die Börse des südosteuropäischen Landes sei de facto abgestürzt.

Dabei galt das Land vor kurzem noch als ein neoliberaler Musterknabe Osteuropas. Im Rahmen der von Tariceanu geführten, jüngst abgewählten rechtsliberalen Allianz „Wahrheit und Gerechtigkeit“ führten die Regierungsparteien eine Reihe von Reformen durch, die vor allem darauf abzielten, ausländische Investitionen anzulocken. Von besonderer Bedeutung war hierbei die Einführung einer so genannten Flat-Tax, eines einheitlichen Unternehmens- und Einkommenssteuersatzes von mageren 16 Prozent.

Im Wachstumsrausch

Tatsächlich entwickelte sich die rumänische Wirtschaft in den vergangenen Jahren sogar recht stürmisch. Schlicht beeindruckend scheint beispielsweise das Wirtschaftswachstum des südosteuropäischen Landes, das gemeinsam mit Bulgarien Anfang 2007 der Europäischen Union beitrat.

Brutosozialprodukt Rumänien, Veränderung gegenüber Vorjahreszeitraum. Grafik: romaniaeconomywatch.blogspot.com

In den letzten drei Jahren konnte Rumänien beim Wirtschaftswachstum fast schon in Dimensionen vordringen, die ansonsten nur aus China gemeldet werden. Zwischen knappen sechs und über acht Prozent wuchs das BNE des nahezu 22 Millionen Einwohner zählenden Landes in allen Quartalen seit Anfang 2006. Im zweiten Quartal 2008 erreichte diese stürmische Expansionsbewegung ihren Höhepunkt, als das Statistische Amt in Bukarest ein stolzes Wirtschaftswachstum von 9,3 Prozent vermelden konnte.

Zudem flossen dank niedriger Löhne, weitgehender Privatisierung und der „Flat-Tax“ tatsächlich ausländische Direktinvestitionen (FDI) nach Rumänien, so dass inzwischen ein Großteil des Bankensektors, des Einzelhandels oder der wichtigsten Großbetriebe von westlichen Konzernen dominiert wird. Die ausländischen Direktinvestitionen stiegen zwischen 2003 und 2006 von knappen zwei Milliarden US-Dollar jährlich auf nahezu 12 Milliarden explosionsartig an. Inzwischen ist diese Expansionsbewegung erlahmt, wie die jüngsten Zahlen der rumänischen Nationalbank belegen, die für 2007 einen FDI-Nettozufluss von ca. 7,2 Milliarden Euro feststellt. In 2008 sollen noch weniger neue Direktinvestitionen in Rumänien getätigt worden sein.

Ein Aushängeschild der rumänischen Volkswirtschaft ist selbstverständlich der Fahrzeughersteller Dacia, der schon 1999 vom französischen Konzern Renault übernommen wurde. Seit 2004 wird in den Werken Mioveni und Pitesti nur noch der von den Franzosen entwickelte Pkw-Typ Logan gebaut, der auf den osteuropäischen Märkten für rund 5.000 Euro verkauft wird. Ab 2005 wird er auch in Westeuropa ab ca. 7.200 Euro verkauft. An die 11.000 Arbeiter beschäftigt der Konzern in Rumänien, die in diesem Jahr 350.000 Fahrzeuge herstellen sollen. Für besondere Verbitterung in Deutschland sorgte auch der Standortwechsel des Handyherstellers Nokia, der sein Bochumer Werk abwickelte und stattdessen nahe der rumänischen Universitätsstadt Cluj das Nokia Village errichtete.

Doch die überwiegende Anzahl der Direktinvestitionen in Rumänien ging nicht in den Aufbau neuer Betriebe, sondern in den Aufkauf bereits bestehender Unternehmen. Die jüngst abgewählte wirtschaftsliberale Regierungskoalition startete eine umfangreiche Privatisierungsoffensive. Sie verkaufte sozusagen das „Tafelsilber“ Rumäniens. Die bis 2006 rapide steigenden – und jetzt langsam fallenden – FDI resultieren aus diesem Ausverkauf der rumänischen Industrie, der nun größtenteils abgeschlossen ist. Ein Blick auf die größten Auslandsinvestitionen in Rumänien enthüllt, dass hierbei Banken, Energiekonzerne und Energieversorger von westlichen Konzernen übernommen wurden.

Es verhält sich also keinesfalls so, dass in Rumänien massenhaft neue Fabriken und Betriebe gebaut würden, es werden bestehende Kapazitäten übernommen. Interessanterweise sind es österreichische Unternehmen, die bei diesem Ausverkauf der rumänischen Volkswirtschaft führend sind. Die Zeitung Die Presse gewährte ihren Lesern vor kurzem einen Überblick über das österreichische Engagement:

Mit einer energischen Geste, die an Louis de Funès erinnert, zählt Walter Friedl, der österreichische Handelsdelegierte in Bukarest, imaginäre Geldscheine herunter. In Rumänien, da stimmt das Geschäft. Und Österreicher machen mit einem Drittel aller Auslandsinvestitionen den großen Schnitt. 5000 Unternehmen sind mittlerweile in rot-weiß-roter Hand. Österreich ist die Nummer eins. Man sieht es an den Firmenlogos, die in ganz Bukarest leuchten: Erste, Raiffeisen, Billa, Wiener Städtische. Alle sind sie vertreten. Die österreichischen Geschäftsführer haben sich an diesem Abend bei Friedl zu Käsekrainer, Schnitzel, Bier und Weißwein eingefunden. Die Finanzkrise ist Thema Nummer eins. Doch anders als im Rest der Welt überwiegt hinter den Karpaten vorsichtiger Optimismus.

In einem weiteren Bericht der Zeitung erläutert der obig erwähnte österreichische Handelsdelegierte die Unterschiede zwischen Bulgarien und Rumänien, wie auch die Ausmaße der Privatisierung zwischen Transsilvanien und der Walachei:

Wie berichtet wurden Sofia Hunderte Millionen an EU-Förderungen gestrichen, weil zu viel davon dorthin versickert, wo es nicht hingehört. „Rumänien hat sich im Gegensatz zu seinen Nachbarn fast völlig privatisiert“, erklärte Friedl. „Wenn Sie einen Gasanschluss brauchen, sitzt der Entscheidungsträger bei der Gaz de France. Den Telefonanschluss bekommen Sie von Orange. Und wenn Sie ein Auto kaufen wollen, müssen nicht mehr wie früher den Dacia-Händler bestechen.“ Gewissermaßen gebe es „heute keine rumänische Wirtschaft mehr".

Dem EU-Neumitglied Bulgarien wurden somit die Fördergelder gestrichen, weil diese bei den dortigen mafiösen Seilschaften versickerten, und nicht dort, so sie „hingehören“ - bei den westlichen Konzernen, die in Rumäniens dafür sorgten, das es „heute keine rumänische Wirtschaft mehr“ gibt. Im Falle Rumäniens ist es somit obsolet, noch von einer „Volkswirtschaft“ zu sprechen.

Steigende Löhne und Schulden

Beachtlich ist auch das in den letzten Jahren stark angestiegene rumänische Lohnniveau. Der Durchschnittslohn konnte über weite Zeiträume um mehr als 20 Prozent im Jahresvergleich steigen, so dass dieser im Juli 2008 bereits umgerechnet 564 US-Dollar betrug.

Durchschnittslohn Rumänien, Veränderung gegenüber Vorjahreszeitraum. Grafik: romaniaeconomywatch.blogspot.com

Dennoch muss das sehr niedrige Niveau beachtet werden, von dem aus diese Aufholjagd gestartet wurde. Der rumänische Mindestlohn vervierfachte.htm sich zum Beispiel zwischen 2000 und 2008 – von 35 Euro auf 137 Euro! Die Bevölkerung Rumäniens verfügt immer noch über die niedrigste Kaufkraft innerhalb der EU. Zudem wird ein erheblicher Teil dieser nominellen Lohnzuwächse durch die enorme Inflation aufgezehrt, die im Juli bei neun Prozent lag.

Einen weiteren wichtigen Faktor, der die nominell rasch steigenden Gehälter begünstigte, stellt die Massenemigration rumänischer Arbeitskräfte dar, die insbesondere in Spanien und Italien Beschäftigungsmöglichkeiten fanden. Inzwischen leben an die 700 000 Rumänen in Spanien und ca. 350 000 in Italien . Der durch diese Massenauswanderung ausgelöste Arbeitskräftemangel in Rumänien beförderte zusätzlich den Anstieg der Löhne.

Das beeindruckende Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre beruhte auf dem Massenkonsum und einer regen Baukonjunktur, die durch beständig steigende Immobilienpreise angefeuert wurde. Der Konsum konnte in dem Land mit der niedrigsten Kaufkraft der EU nur deshalb zu einer derartig wichtigen Konjunkturstütze avancieren, weil das Land sich gnadenlos verschuldete. Hier, in dieser kreditfinanzierten „Defizitkonjunktur“, liegt das „Geheimnis“ der rumänischen Erfolges.

Kreditaufnahme rumänischer Privathaushalte gegenüber Vorjahr

Die Neuverschuldung der rumänischen Privathaushalte stieg in den letzten beiden Jahren zwischen 45 und 65 Prozent (jeweils gegenüber dem Vorjahreszeitraum) an. Es ist somit kein Wunder, dass durch diese wahnsinnige Kreditorgie die Wirtschaft angekurbelt wurde. Das Land sieht sich nun mit 58 Milliarden Euro Auslandsschulden konfrontiert. Gefördert wurde diese massive Kreditvergabe durch das Bankensystem des Landes, das längst durch westeuropäische Finasnzinstitute dominiert wird. Oft wurden den Rumänen auch noch Kredite in Euro, Franken oder US-Dollar aufgeschwatzt, weswegen sich jetzt viele Kreditnehmer sich in der Schuldenfalle wiederfinden.

Mit Ausbruch der Finanzkrise fließt massiv ausländisches Kapital aus Rumänien ab und lässt die einheimische Währung, den Leu, immer weiter gegenüber den westlichen Währungen abschmieren. Inzwischen hat das rumänische Zahlungsmittel ein gutes Viertel seines Wertes gegenüber dem Dollar verloren – und somit haben sich die in Dollar aufgenommenen Devisenkredite der Rumänen ebenfalls um 25 Prozent verteuert.

Die von westlichen Banken erteilten Kredite wurden größtenteils für den Konsum westlicher Waren aufgewendet. Das rumänische Handelsdefizit betrug in den ersten acht Monaten dieses Jahres stolze 14,8 Milliarden Euro, während das Leistungsbilanzdefizit inzwischen bei nahezu 14 Prozent des Bruttosozialprodukts liegt. Rumäniens Politiker riefen schon bei mehreren Gelegenheiten die Bevölkerung auf, mehr rumänische Waren einzukaufen.

Präsident Traian Basescu ging mit gutem Beispiel voran und tauschte seine deutsche Limousine gegen eine 70.000 Euro teure Sonderanfertigung von Dacia aus. Zudem will das rumänische Staatsoberhaupt künftig nur noch rumänische Produkte konsumieren. Am 21. November teilte Basescu der Öffentlichkeit seinen ersten diesbezüglichen Erfahrungsbericht mit: „Ich habe rumänische Produkte gekauft“, erklärte der Präsident, „und es war ganz einfach, sie zu finden. Es ist eine Lüge, was sie im Fernsehen erzählen, dass 80 Prozent aller Produkte in den Supermärkten aus dem Ausland kommen.“

Peripherie in der Krise

Die von Rumänien - wie auch von vielen anderen Volkswirtschaften in Osteuropa - eingenommene Stellung innerhalb des internationalen Wirtschaftssystems kann man zusammenfassend als peripher bezeichnen. Die Struktur der rumänischen Ökonomie wird den Interessen des – westlichen - Zentrums angepasst. Von den durch westeuropäische Banken vergebenen Konsum- und Baukrediten profitierten wiederum westeuropäische Konzerne, die diese zusätzliche, kreditfinanzierte Massennachfrage abschöpften.

Hier ist insbesondere – neben Österreich - der „Exportweltmeister Deutschland“ hervorzuheben, für dessen Konzerne die osteuropäische Peripherie nicht nur als Lieferant von billigen Arbeitskräften fungiert, sondern auch als Absatzmarkt eine ungemein wichtige Rolle spielt. Die Länder Ostmitteleuropas und Osteuropas haben im ersten Halbjahr 2008 für 84 Milliarden Euro deutsche Waren aufgenommen. Diese Region ist somit für die deutsche Exportwirtschaft bereits wichtiger als die USA (59,2 Milliarden Euro) oder China (43,6 Milliarden Euro).

Somit fließt das von westlichen Großbanken geliehene Geld wieder in den Westen. Übrig bleiben in Osteuropa nur der erstandene Elektroschrott, auf Raten erworbene, viel zu sprithungrige Autos, unzählige Immobilienruinen - und natürlich die Kredite mit variablen Zinsen, die dekadenlang abgestottert werden müssen. Rumänien gilt sozusagen als ein Paradebeispiel dieser Defizitkreisläufe zwischen (östlicher) europäischer Peripherie und (westlichen) europäischen Zentren. So kam Lettland 2007 sogar auf ein Leistungsbilanzdefizit von 22,9 Prozent des BNE. Ähnlich dramatische Werte wies Bulgarien mit 21,4 Prozent auf. Über ein ansehnliches negatives Leistungsbilanzsaldo verfügen noch Serbien (16,5 Prozent des BSP), Estland (16), und Litauen (13,3 Prozent).

Grafik: IMF

Doch diese auf Kreditaufnahme basierende „Defizitkonjunktur“ wird nun (nicht nur) in Rumänien angesichts der Finanzkrise zum Erliegen kommen, wo für 2009 nur noch eine Neuverschuldung von 15 Prozent prognostiziert wird. Überdies scheint auch der rumänische Bauboom sich langsam zu erschöpfen. Die ersten ambitionierten Immobilienprojekte rund um Bukarest verwandeln sich bereits in Investitionsruinen.

Rumänien wird nicht nur als Absatzmarkt für westeuropäische Waren ausfallen. Auch die Funktion des EU-Neumitglieds als Billiglohnland, als „verlängerte Werkbank“ europäischer Konzerne, scheint angesichts der Krise in Gefahr. Allein im Oktober und November haben 50 000 Rumänen bereits ihren Arbeitsplatz verloren. Unter den Unternehmen, die die ersten Entlassungswellen durchführten, befinden sich solch bekannte Namen wie Dacia, Kraft Rumänien oder Arcelor Mittal. Zudem kommen bald viele der Arbeitsmigranten zurück in ihr Heimatland, da angesichts der geplatzten Immobilienblase in Spanien die dortige Konjunktur zusammenbricht und die meisten rumänischen Wanderarbeiter kaum noch Beschäftigung finden. An die 200.000 Rumänen könnten so in Kürze auf den heimischen Arbeitsmarkt zurückströmen – und das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit erneut etablieren. Wiederum wird hier dem Land seine periphere Stellung zu Verhängnis, da die in Rumänien tätigen Konzerne den Rotstift zuerst in den arbeitsintensiven Tochtergesellschaften ansetzen.

2009 wird die rumänische Volkswirtschaft eine Vollbremsung erleben. Die Konjunktur soll von einem nahezu zweistelligen Wachstum in 2008 auf bestenfalls 2,6 Prozent fallen, oder sogar in eine Rezession übergehen, wie die Ratingagentur Moodys prognostizierte. Der einstmalige neoliberale „Musterschüler“ könnte sich so schnell in den „Kranken Mann“ Südosteuropas wandeln.