Angriff auf terroristische Ziele oder Terrorisierung der Bevölkerung?

Die Ziele des israelischen Krieges gegen den Gaza-Streifen und die erstaunliche Kooperation der arabischen Regime

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Am 27. Dezember hat die israelische Armee den Krieg gegen den Gaza-Streifen begonnen. Nach sieben Tagen massiven Bombardements begann am 3.Januar 2009 die Bodenoffensive. Israel wendet im Kern dieselbe Militärstrategie an wie 2006 im Krieg gegen den Libanon: fortgesetzte massive Bombardierung aus der Luft und von der See als Auftakt des Krieges, der keineswegs nur gegen militärische Ziele von Hamas gerichtet ist, sondern offenbar auch die Bevölkerung terrorisieren soll, um deren Willen zu brechen.

Israel besteht darauf, dass es nur die "Infrastruktur des Terrors" angreife. Grundsätzlich wird alles, was von der israelischen Luftwaffe zerbombt wird als "terroristisches Ziel" bezeichnet.

Das mag bei Regierungsgebäuden, Tunneln und Polizisten noch einleuchten, aber die Islamische Universität von Gaza nebst angeschlossenem Schlafsaal für Studentinnen, Schulen, Moscheen, Krankenwagen, Apotheken, Kliniken und das Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt, ein Waisenhaus, Trinkwasser- und Treibstofftanks, das Abwassersystem, eine Hühnerfarm und eine zur linken PFLP gehörende landwirtschaftliche Kooperative wurden ebenfalls durch Luftangriffe teilweise oder vollständig zerstört. Vermutlich gezielt bombardiert wurden auch Ansammlungen von Menschen, seien es Gläubige, die die Moschee verlassen, oder ein Markt in Gaza-Stadt. Zudem wurden bisher mindestens 55 Wohnhäuser komplett zerstört, hunderte beschädigt. Das zeigt, dass die Bombardierung wie 2006 im Libanonkrieg vor allem auf die Zerstörung der Infrastruktur zielt. In den ersten acht Tagen wurden 509 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet, 2450 verletzt, davon mindestens 350 schwer. Nach Angaben der Ärzte sind mindestens 25% der Toten und 40% der Verwundeten Frauen und Kinder.

Der Krieg gegen den Gaza-Streifen hat vier Ziele:

  1. er soll die Hamas-Regierung stürzen oder zumindest ihre Unterwerfung unter israelische Bedingungen erzwingen;
  2. er soll die dort lebende palästinensische Zivilbevölkerung für ihren hartnäckigen Widerstand bestrafen;
  3. er soll die Abschreckungsmacht des israelischen Militärs in der arabischen Welt wiederherstellen und
  4. er soll das regionale Kräfteverhältnis zugunsten Israels und seiner westlichen und arabischen Verbündeten verschieben.

Seit dem Wahlsieg der Hamas im Sommer 2006 arbeitet Israel mit Unterstützung der USA und der EU am Sturz dieser Regierung. Wie von der Zeitschrift "Vanity fair" im April 2008 berichtet, wurden Truppen der Abbas/Dahlan-Fraktion zu diesem Zweck von den USA mit Geld und Waffen unterstützt. Diese Fraktion versuchte dann u.a. durch Angriffe auf Christen oder Internetcafes die Situation im Gaza-Streifen zu destabilisieren, bis die Hamas sie im Sommer 2007 angriff und aus dem Gebiet auswies. Daraufhin verhängte Israel eine verschärfte Blockade über den Gaza-Streifen, die die dortige Bevölkerung von 1,5 Millionen Menschen der UN zufolge an den Rande des Hungers brachte. 70% der Kinder dort litten schon vor dem Beginn des Krieges unter Mangelernährung und psychischen Traumata aufgrund der wiederholten Einmärsche und Luftangriffe der israelischen Armee.

Der Gaza-Streifen ist seit der israelischen Besetzung 1967 eine Hochburg der radikalsten Teile des palästinensischen Widerstands. Das hängt wesentlich mit der Zusammensetzung der Bevölkerung zusammen: 80% der 1,5 Millionen Menschen, die dort leben, sind Flüchtlinge, Opfer der von zionistischen Milizen – die Vorläufer der israelischen Armee – begangenen ethnischen Säuberung. Diese Menschen haben 1948 ihr Land, ihr Häuser, ihren Besitz, ihren Lebenszusammenhang und ihre Perspektiven verloren. Seit 60 Jahren leben sie unter elenden Bedingungen auf engstem Raum in den vielen Flüchtlingslagern des Gaza-Streifens. Das Gebiet ist das dichtbesiedelste der Welt. Auf ihrem Land, in ihren Häusern, sofern sie nicht zerstört wurden, leben heute größtenteils aus Europa stammende israelische Siedler. Der britische Journalist Robert Fisk hat darauf hingewiesen, dass die von den Kämpfern der Hamas und anderen Widerstandsorganisationen beschossenen Städte genau die Städte sind, aus denen viele der in Gaza lebenden Menschen 1948 vertrieben worden sind.

Die Wiederherstellung der Abschreckungsmacht der israelischen Armee in der arabischen Welt ist notwendig geworden, weil diese während des katastrophalen Feldzugs gegen den Libanon im Sommer 2006 ihren Nimbus als "unbesiegbare Armee" verloren hat und sogar zum Gespött der arabischen Welt geworden ist. Ob das gelingt ist allerdings fraglich. Der palästinensische Politiker Azmi Bischara hat den Krieg bereits als "den feigsten Krieg Israels" bezeichnet.

In der arabischen Welt wird dieser Krieg im Zusammenhang mit der Strategie zur Neuordnung und Kontrolle der Region gesehen, als eine Fortsetzung des Krieges gegen die widerständige Bevölkerung im Irak, Palästina und dem Libanon. Nachdem Israel im Juli 2006 eine Niederlage im Krieg gegen die Hizbollah und ihre Verbündeten im Libanon hat einstecken müssen und es der israelischen Regierung nicht gelungen ist, die US-Administration für einen Krieg gegen den Iran zu gewinnen, versucht es nun durch die Ausschaltung der Hamas das Kräfteverhältnis in der Region zugunsten der eigenen und der seiner westlichen Verbündeten zu verändern.

Der Zeitpunkt des Angriffs zeigt zwei weitere kurzfristige Ziele: Seine Instrumentalisierung für den laufenden israelischen Wahlkampf, da hartes Vorgehen gegen und Tötung von Palästinensern die Siegeschancen israelischer Politiker erhöht. Benjamin Netanyahus rechtsradikaler Likud lag vor dem Beginn des Krieges den Umfragen zufolge vorne. Durch den Krieg hat die regierende Kadima-Partei unter Ehud Olmert und Zivi Lipni aufholen und sich an die Spitze setzen können, ebenso gewonnen hat die Arbeiterpartei von Verteidigungsminister Barack. Der Zeitpunkt war auch so gewählt, dass er noch in die Regierungszeit George Bushs fällt und die im Januar antretende neue Administration unter Barak Obama vor vollendete Tatsachen stellt.

Wie immer hat Israel in seinem Krieg gegen die Palästinenser bislang die volle politische und materielle Unterstützung der USA und Europas. Diese reicht von der Legitimierung des Krieges gegen die seit Monaten belagerte, ausgehungerte und wehrlose Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen als Akt der Selbstverteidigung Israels über die Weigerung, Israel zu einem Waffenstillstand zu veranlassen, bis zur Verhinderung der Verurteilung Israels in der UNO durch das Veto der USA. Das Geld und die Waffen für die israelische Kriegspolitik stellen die USA und Europa zu Verfügung.

Kooperation der arabischen Regierungen

All das ist nicht neu. Neu ist jedoch das Ausmaß der Komplizenschaft arabischer Regime, die in diesem Krieg offenbar wird. Die Regierungen Ägyptens und Saudi-Arabiens sowie die palästinensische Autonomiebehörde unter Führung von Mahmud Abbas haben diesen Krieg gleich zu Anfang politisch-propagandistisch legitimiert, indem sie in trauter Einigkeit mit der israelischen Regierung die Hamas dafür verantwortlich machten. Vieles deutet darauf hin, dass Israel den Krieg mit dem ägyptischen Regime und Mahmud Abbas abgesprochen hat.

Ägypten beteiligt sich an der Blockade des Gaza-Streifen, indem es dem Übergang Rafah nach Ägypten geschlossen hält. Der ägyptische Präsident hat nach dem Beginn des Krieges erklärt, dass er den Übergang erst öffnen werde, wenn die Autonomiebehörde unter Mahmud Abbas dort regiert. Abbas hat seine Bereitschaft erklärt, die Regierungsgewalt in Gaza zu übernehmen, falls die Hamas gestürzt würde. Bereits in den ersten Tagen des Krieges hat er seine Polizei angewiesen, im Westjordanland Proteste gegen den Krieg zu unterbinden. Bei den Demonstrationen in zahlreichen Städten und Dörfern gingen sowohl israelische Soldaten wie auch palästinensische Polizisten gegen die Demonstranten vor. So hat sich Israel seit der Unterzeichnung des Oslo-Abkommens die eigentliche Aufgabe der Autonomiebehörde vorgestellt. Die Hamas beschuldigt Angehörige der Abbas-Fraktion, schon vor dem Krieg im Gaza-Streifen Informationen für Israel gesammelt und versucht zu haben, die Verstecke der Hamas-Führung ausfindig zu machen. Der palästinensisch-amerikanische Professor Joseph Massad bezeichnet die Palästinensische Autonomiebehörde "Palästinensische Kollaborationistische Autonomiebehörde" und vergleicht ihre Funktion mit der des Judenrates im Warschauer Ghetto.

Wie dieser Krieg ausgehen wird, hängt vom Verlauf der Bodenoffensive ab. Eines jedoch steht jetzt schon fest: die arabischen Verbündeten Israels und der USA werden innenpolitisch geschwächt, während die Feindschaft gegen die USA und Israel neue Höhen erreicht. Die Kluft zwischen Herrschern und Beherrschten in der arabischen Welt war noch nie so groß wie heute. Der Krieg gegen den Gaza-Sreifen vermehrt und radikalisiert die Opposition gegen die einheimischen Regimes und die imperialistisch-zionistische Kriegspolitik.

Von Mauretanien bis Kuwait und von der Türkei bis Indonesien erlebt die arabisch-islamische Welt eine beispiellose Mobilisierung. Millionen gehen seit Kriegsbeginn täglich auf die Straßen, und es kommt zunehmend zu militanten Auseinandersetzungen mit der Polizei. Allein in Marokko demonstrierten am 4. Januar 2009 zwei Millionen Menschen. Die durch den Krieg gegen Gaza in Gang gesetzte Dynamik wird in ihren Konsequenzen nicht im Interesse Israels, der USA und der EU sein.