Europa guckt in die Röhre

Russland und die Ukraine streiten sich ums Gas und der Westen bangt um seine Energiesicherheit

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Deutschland fröstelt sich durch den Winter und vernimmt mit Sorge bedrohliche Nachrichten aus der fernen Ukraine. Der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine ist seit Neujahr eskaliert – heute versiegte erstmals die Gaslieferung in einigen osteuropäischen Ländern komplett und auch in Deutschland kommt bereits weniger Gas aus Russland an.

Der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine ist ein Streit um den Gaspreis und um den Gasdurchleitungspreis. Die Ukrainer bezahlten bisher relativ wenig für die Gaslieferungen aus Russland, jetzt wollen die Russen mehr Geld.

Umgekehrt wollen die Ukrainer mehr Geld von den Russen für den Gastransport nach Westen und nebenbei geht es auch noch um Zwischenhändler, die sich dank intransparenter Firmenkonstrukte eine goldene Nase am Gas aus dem Osten verdienen. 42% des in Europa verbrauchten Erdgases kommt aus Russland, 80% davon wird über Pipelines transportiert, die über das Staatsgebiet der Ukraine führen. Auch wenn es beim Streit nur um bilaterale Fragen geht, ist auch der Rest Europas betroffen, da das Transitland Ukraine offensichtlich größere Mengen des Gases, das für die Endkunden in Europa bestimmt ist, für den eigenen Bedarf abzweigt. Die EU ist alarmiert und wird wohl oder übel intervenieren müssen, wobei ein großzügiger Kredit an die zahlungsunfähige Ukraine die wahrscheinlichste Lösung für das Gasdilemma ist.

Die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland über eine Neuauflage des Silvester 2008 ausgelaufenen Gaslieferungsvertrages laufen bereits seit vielen Monaten. Im Oktober schien man sich bereits einig zu sein – ein neuer direkter Liefervertrag zwischen der russischen Gazprom und dem ukrainischen Staatskonzern Naftogaz war bereits unterschriftsreif, doch dann reiste die ukrainische Delegation aus Moskau ab und bis heute gab es auch keine ernsthaften Verhandlungsbemühungen mehr. Dies führte dazu, dass Russland am Neujahrstag den Druck in den Transportpipelines so weit verringerte, dass nur noch der Transitanteil durchgeleitet werden konnte und die Ukraine kein weiteres Gas mehr bekam.

Da die Ukraine stolze 16 Mrd. Kubikmeter Gas in unterirdischen Speichern bevorratet, ist dies wenig problematisch – der Winter ist für ukrainische Verhältnisse mild und durch die Finanzkrise läuft die Wirtschaft des Landes auf Sparflamme. Die Vorräte reichen daher für mehrere Monate. Zeit genug, um einen neuen Vertrag auszuhandeln, bei dem die Ukraine ein besseres Angebot durchsetzen kann als die von der Gazprom angebotenen 250 US$ pro 1.000 Kubikmeter – ein Preis, den der Energieexperte Simon Perani für „realistisch“ hält.

Das Gas versiegt

Die Ukraine scheint von einer Auszeit allerdings nicht all zu viel zu halten. Seit Neujahr hat die Gazprom die Lieferungen in das ukrainische Transitnetz um 65 Mio. Kubikmeter pro Tag verringert, dies ist der Anteil, den die Ukraine momentan abnehmen würde. An der anderen Seite der Transitpipelines kamen jedoch nach russischen Angaben rund 20 Mio. Kubikmeter weniger Gas an, als dies der Fall sein müsste. Die Ukraine erklärt diese Mindermenge mit der Unterstellung, Russland hätte sie gar nicht eingespeist – eine Erklärung, die weder die Vertreter europäischer Gaskonzerne noch Energieexperten für glaubhaft halten. So äußert etwa Alexander Rahr von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik eine andere Ansicht:

Es wird befürchtet, dass gewisse Kräfte in der Ukraine – dabei ist unklar, wer dort in Wirklichkeit die Transitpipeline kontrolliert –, sie illegal anzapfen, daraus Gas für den inneren Verbrauch entnehmen werden.

Russland und die Ukraine drehen an der Eskalationsschraube

Seit gestern hat die Gazprom diese Fehlmenge von den Lieferungen abgezogen und die Ukraine aufgefordert, sie durch Gas aus den eigenen Speichern zu decken. Die Ukraine hat daraufhin nach russischen Angaben mehrere Exportpipelines geschlossen, so dass sich die Transitliefermenge drastisch um rund 60% verringerte. Damit die europäischen Endkunden genügend Gas bekommen, will Russland die Mindermenge über zusätzliche Liefermengen, die über die Alternativrouten „Jamal-Pipeline“ durch Weißrussland und Polen, und über die „Blue-Stream-Pipeline“, die durch das Schwarze Meer in die Türkei geht, decken.

Auch Gasspeicher der Gazprom in West- und Südeuropa sollen die Mindermenge ausgleichen. Ob dies gelingt, ist fraglich. In einigen südosteuropäischen Ländern kam bereits heute kein Gas mehr aus Russland über ukrainische Transitpipelines an. Es existiert zwar ein Notversorgungsnetz, mit dem auch der Balkan über Alternativrouten „rückwärts versorgt“ werden kann, aber ob damit die volle Transportleistung gewährleistet werden kann, bleibt offen. Die Gasspeicher der europäischen Verbraucherländer sind allerdings noch gut gefüllt. Brancheninsider gehen davon aus, dass alleine die deutschen Reserven bei einem Komplettausfall der ukrainischen Transitleitungen rund 70 Tage reichen würden.

Ein bizarrer Rechtsstreit

Pünktlich zur Verschärfung des Gasstreits gab das Kiewer Wirtschaftsgericht einer Klage des ukrainischen Energieministeriums statt, das den aktuellen Transitvertrag für russisches Erdgas am Montag für nichtig erklärte. Der Vertrag aus dem Jahre 2006, der noch bis 2010 gültig ist, hat nach ukrainischer Lesart damit keine Gültigkeit, da der Vertreter des staatlichen ukrainischen Gasunternehmens Naftogaz, der ihn für die ukrainische Seite unterzeichnet hatte, nicht von der ukrainischen Regierung ermächtigt gewesen sei.

Nach russischer Version hat dieses Urteil allerdings keine Bedeutung, da der Vertrag nach schwedischem Recht abgeschlossen wurde und somit nur von einem schwedischen Gericht für nichtig erklärt werden könne. Der Zeitpunkt der Klage ist natürlich kein Zufall – die Ukraine versucht mit den Transitgebühren einen eigenen Joker auszuspielen, der Russland zu einem Einlenken im Preisstreit bewegen soll.

Die Strategie der Gazprom

Die Gazprom will die Ukraine mit aller Macht zu Verhandlungen zwingen. Für die Mindermengen, die die europäischen Endkunden nicht bekommen, werden der Ukraine europäische Preise in Rechnung gestellt – dies sind rund 450 US$ pro 1.000 Kubikmeter, mehr als das doppelte des aktuellen Sonderpreises, der nur für die Ukraine gilt. Da die Ukraine den „Rabattpreis“ von 250 US$ abgelehnt hat, soll sie nun für die abgezweigten Mengen voll in Haftung genommen werden. Jeder Kubikmeter, den die Ukraine aus dem Transitnetz „klaut“, kommt sie damit teuer zu stehen.

Ob und wie die kurz vorm Staatsbankrott stehende Ukraine diese Zahlungen überhaupt leisten kann, interessiert in Moskau nur am Rande – es wird eher damit gerechnet, dass der Westen die Schulden übernimmt und jeder Dollar Mehrkosten, der durch den „Gasklau“ entsteht, erhöht den Druck des Westens auf die Ukraine, sich zu einer Verhandlungslösung bereit zu erklären.

Die Strategie der Ukraine

Die Ukraine könnte dank ihrer gigantischen Gasreserven ohne Probleme über längere Zeit ohne russische Gaslieferungen auskommen. Der Umstand, dass sie dennoch täglich große Mengen aus dem Transitnetz entnimmt, hat also weniger etwas mit der eigenen Versorgungssicherheit zu tun, sondern eher etwas mit der beabsichtigen Wirkung auf den Westen. Der Westen übernimmt die Schulden der Ukraine um so eher, je größer die eigenen Sorgen sind, Opfer des Gasstreits zu werden. Diese Strategie scheint auch voll aufzugehen.

Die Spitzen der EU verurteilten zwar beide Staaten für ihre sture Haltung im Gasstreit, machten aber auch klar, dass man in Brüssel nicht tatenlos die Hände in den Schoß legen wird, sondern aktiv an einer Lösung des Konfliktes mitarbeiten will. Wenn man die leeren Devisenkassen der Ukraine betrachtet, kann die Lösung nur in einer teilweisen oder kompletten Übernahme der ukrainischen Gasschulden bestehen. Man könnte die ukrainische Strategie daher durchaus als Erpressung verstehen – wenn man in Brüssel über Energiesicherheit debattiert, sollte man fortan auch dem Risikotransitland Ukraine eine besondere Aufmerksamkeit zugute kommen lassen.

Dank „Schröders“ Ostseepipeline und der projektierten „South-Stream“, die den Balkan unter Umgehung der Ukraine versorgen wird, sinkt die Abhängigkeit Europas vom Transitland Ukraine allerdings bereits in den nächsten Jahren. Auch die Nabucco-Pipeline, die iranisches Erdgas über die Türkei bis nach Österreich liefern könnte, wird durch die Blockadepolitik der Ukraine neuen Aufwind bekommen.

Dunkle Machenschaften hinter den Kulissen

Der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine geht allerdings nicht nur um „offizielle“ Preise und Gebühren. Der ukrainische Gasmarkt ist seit jeher auch ein Dorado für windige Geschäftsleute – auch die aktuelle Premierministerin Julia Tymoschenko, die als reichste Frau der Ukraine gilt, hat ihren Beinamen „Gasprinzessin“ und ihren Reichtum dubiosen Energiegeschäften zu verdanken. Seit 2006 wird das russische Gas in der Ukraine exklusiv über das Unternehmen RusUkrEnergo verkauft. Dies ist ein lohnendes Geschäft – 2005 zahlte RusUkrEnergo 735 Mio. US$ an Dividenden aus.

Dabei ist RusUkrEnergo eine Briefkastenfirma, die im Schweizer Steuerparadies Zug ansässig ist. 50% des Unternehmens gehören der Gazprom, die andere Hälfte wird von der österreichischen Raiffeisen-Gruppe für russische und ukrainische „Geschäftsleute“ verwaltet.

Das Wall Street Journal fand heraus, dass 90% des ukrainischen Anteils dem dubiosen Geschäftsmann Dmitry Firtash gehören. Firtash steht wiederum in Verbindung mit dem russischen Mafiapaten Semion Mogilewitsch, der mittlerweile beim Kreml in Ungnade gefallen ist und verhaftet wurde.

Für wen Firtash arbeitet und wer letztendlich die millionenschweren Dividenden ausgezahlt bekommt, ist unbekannt – in der Gerüchteküche werden sowohl Geheimdienstkreise als auch „alte“ ukrainische Seilschaften um den ehemaligen Präsidenten Kutschma genannt.

Ein Ende der Korruption?

Warum es überhaupt eines Zwischenhändlers für den bilateralen Gashandel bedarf, ist schwer zu erklären. Offiziell gleicht die RusUkrEnergo den Endkundenpreis für die Ukraine durch Importe aus Turkmenistan aus, die günstiger sind, als das russische Gas. Dies allerdings ist eigentlich die Aufgabe des staatlichen ukrainischen Gaskonzerns Naftogaz. Julia Tymoschenko tritt daher auch vehement für eine Aufkündigung des Vertragsmodells mit dem Zwischenhändler RusUkrEnergo ein – und die „Gasprinzessin“ kennt sich in diesem Bereich aus.

Die im Oktober ausgehandelten Verträge zwischen Russland und der Ukraine sahen direkte Verträge unter Aussparung von Zwischenhändlern vor. Dies hat einigen Hintermännern offensichtlich nicht geschmeckt. Es gibt in der Ukraine Kräfte, die eine Versorgung über die Vermittlerfirmen zu erzwingen wollen. Es ist offensichtlich, dass diese Kräfte ihre Hände auch beim plötzlichen und unerwarteten Stopp der Verhandlungen und beim jetzigen Gasstreit im Spiel haben.

Wenn der Westen der Ukraine schon Kredite zur Begleichung der Gasschulden gewähren sollte, so sollte er auch darauf achten, dass die neuen Verträge ein Mindestmaß an Transparenz erfüllen. Damit würde man aktiv etwas gegen die Korruption unternehmen.