"Die Bahn fährt generell auf Substanz, auf Verschleiß"

Teil 2 des Interviews mit Winfried Wolf

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Seit dem 24. September liegt ein Bericht der Bundesanstalt für Materialprüfung vor, der eine strukturelle Überstrapazierung des Materials bescheinigt. Sowohl die Bahn als auch das Verkehrsministerium hielten diesen sechs Wochen unter Verschluss. Was hatte ihrer Meinung nach der nun verschobene Börsengang der Bahn damit zu tun?

Winfried Wolf: Gut, ich sage nur "meine Meinung". Und die lautet: Das war und ist die Crux. Die Bahn sollte am 27.10.2008 an die Börse gehen. Wie bereits erwähnt: Jede Meldung der oben genannten Art, wonach es da ein systemisches Problem geben würde, wäre Gift für die Börsenstory gewesen. Auch heute noch ist die Bahnprivatisierung eine heilige Kuh. Die für das Thema maßgeblichen Journalisten – z.B. bei der Financial Times Deutschland oder bei der Süddeutschen Zeitung argumentieren seit Jahr und Tag, dass eine Bahnprivatisierung die Zukunft der Bahn sei. Warum sie dies tun, entzieht sich meiner Kenntnis. Der faktenresistente Glaube, die Privatisierung der Bahn senke Kosten und steigere die Qualität, mag maßgeblich sein. Aber im Fall der Bahn spricht hierfür kein einziges sachliches Argument. Auch spricht jede Erfahrung im Ausland gegen dieses Vorhaben. Das gilt nicht nur für die britische und die neuseeländische Erfahrung. Das gilt auch für das Beispiel USA und für das Beispiel Japan. Ich habe das ausführlich in einem gesonderten Kapitel in meinem Buch "Verkehr. Umwelt. Klima – Die Globalisierung des Tempowahns" belegt.1

Warum hat das Bundesamt den schwerwiegenden Befund nicht selbst veröffentlicht?

Winfried Wolf: Formal darf sie das nicht ohne Zustimmung des Auftraggebers, der Kölner Staatsanwaltschaft. Und die hat bislang nichts öffentlich verlauten lassen. Außerdem untersteht die BAM der Bundesregierung. Und die wiederum betreibt den Bahnbörsengang. Bzw. CDU/CSU und SPD wollen dieses Projekt spätestens nach der nächsten Bundestagswahl – Ende dieses neuen Jahres oder Anfang 2010 - schnell und möglichst geräuschlos durchziehen. Im Fall eines Regierungswechsels wollen CDU/CSU und FDP so verfahren.

Gegen geltendes Recht verstoßen

Dafür haben sie vom Parlament im Juni 2008 Blankoschecks erhalten. Aber sicherlich wäre die umfassende Unterrichtung der Öffentlichkeit möglich, wenn der politische Wille bei Bahn und/oder Bundesregierung vorhanden wäre.

Am 3. Juni 1998 kam es in Eschede ebenfalls durch Radwellenbruch zum bislang schwersten Eisenbahnunfall in der deutschen Geschichte mit 101 Toten und 88 Schwerverletzten. Die Hinterbliebenen wurden seinerzeit mit 30.000 Mark pro Opfer abgespeist und die Bundesbahn hat sich ansonsten den Opfern gegenüber auch recht knauserig gezeigt. Hatte dieser Unfall bereits etwas mit der Privatisierung des Schienennetzes zu tun, die 1994 einsetzte?

Winfried Wolf: Ja, er hatte damit bereits zu tun. Wobei ich natürlich die Zustände, die bei einer Staatsbahn herrschen können, nicht beschönigen will. Wir treten auch nicht für eine Staatsbahn als solche ein, sondern für eine Bahn in öffentlichem Eigentum, bei der dieses öffentliche Eigentum auch so dezentral wie möglich gehalten werden sollte – wie im Fall der schweizerischen Bahnen, bei denen rund 50 Prozent sich im Eigentum der Kantone befindet.

Zurück zu Eschede: Es ist belegt, dass der Austausch der Monoblockräder, mit denen der ICE-1 seit Ende der 1980er Jahre ursprünglich ausgestattet war, durch diese Räder mit Radkern, Gummiring und Radreifen, durch ein einzelnes Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbahn, später der Deutschen Bahn AG, durch Herrn Roland H., betrieben und durchgesetzt wurde. Dabei wurde gegen geltende Regeln verstoßen, wonach eine solche ungewöhnliche Neuerung zunächst mit Millionen Kilometern Fahrleistung hätte gestestet werden müssen. Doch man hat sich darüber hinweggesetzt – aus dem banalen Grund, dass ein so genanntes "Bistrobrummen" in den Bordrestaurants beseitigt werden sollte. Da hieß es faktisch: Komfort geht vor Sicherheit.

Versuch der Bahn die Ursachen der Katastrophe von Eschede zu vertuschen

Im übrigen hat Carl-Friedrich Waßmuth in unserer Bahn-für-Alle-Sonderzeitung vom 22.12.2008 eine Gegenüberstellung des Falls Eschede mit den aktuellen unzureichenden Radsatzwellen in den modernen ICE-3 vorgenommen. Es gibt in beiden Vorgängen und Vorgehensweisen enorme und frappante Parallelen. Das trifft beispielsweise zu auf den Einsatz des "neuartigen" Rades beim ICE-1 und dem Einsatz des "neuartigen Werkstoff" bei den ICE-3-Radsatzwellen.

Wurde ihrer Meinung nach seinerzeit von Seiten der Bahn AG Versuche unternommen, die Ursachen für das Unglück zu vertuschen?

Winfried Wolf: Ja, das war der Fall. Ich kenne den damals verantwortlichen Kollegen des Eisenbahn-Bundesamt, der in der ersten Nacht nach dem Unglück zusammen mit dem Bundesgrenzschutz verhinderte, dass die Deutsche Bahn AG den Unglückswagen, unter dem der Radreifen geborsten war, heimlich abtransportierte. Die kamen nachts mit einem Kranwagen und in Begleitung eines Vorstandsmitglieds an und sagten: "Der Wagen ist Eigentum der Deutschen Bahn AG." Glücklicherweise konnte das verhindert werden. Nur so konnte später – übrigens damals bereits u.a. durch Professsor Grubisic und das Fraunhofer-Institut, für das er tätig war - belegt werden, dass es diese spezifische Radkonstruktion war, die diese Eisenbahnkatastrophe verursacht hatte. Nach dem Kölner Unfall am 9.7.2008 war von der Staatsanwaltschaft zunächst eine Untersuchung durch die TU Aachen vorgesehen. Aber da hatte die Deutsche Bahn AG dieses entscheidende Beweisstück bereits nach Berlin "entführt" und so landete es bei der Bundesanstalt für Materialprüfung.

Kann es sein, dass ein solches Unglück die Bahn einfach billiger kommt als eine adäquate Wartung ihrer Züge und Instandhaltung des Schienennetzes und solche sowohl von der deutschen Bahn AG als auch vom Verkehrsministerium in Kauf genommen werden?

Winfried Wolf: Da begeben wir uns auf das Feld der Mutmaßungen. Aber sicher ist, dass das Top-Management der Deutschen Bahn AG seit 2002 alles, aber auch wirklich alles unternimmt, um die Bilanzen der Deutschen Bahn AG so zu gestalten, dass das Unternehmen Gewinne ausweist. Dafür fährt man generell auf Substanz, auf Verschleiß.

Keine Strafen im Fall von Sicherheitsmängeln

Man spart zehntausende Schalter und mehr als tausend Bahnhöfe ein, ja man baut auf Bahnsteigen und in Bahnhöfen die traditionelle Bahnhofsuhr ab – der Spruch "Pünktlich wie die Eisenbahn" erübrigt sich ohnehin - , immer alles nur, um Kosten zu sparen und zusätzliche Gewinne auszuweisen. Und natürlich wurde, wir haben es nachgewiesen, an der Wartung und beim Materialeinkauf enorm gespart.

Ist es eventuell generell für die Bahn günstiger, Strafen für eklatante Sicherheitsmängel zu bezahlen als für eine adäquate Wartung zu sorgen?

Winfried Wolf: Soweit ich weiß, gibt es gar keine Strafen im Fall von Sicherheitsmängeln. Es gibt die Strafe des Imageverlustes und des Verlustes an Fahrgästen. Diese Strafe wirkt bereits – die Bahn dürfte 2009 kaum mehr Gewinne einfahren und spätestens 2010 rote Zahlen ausweisen. Der aktuelle Kurs der kreativen Bilanzierung ist nicht mehr durchzuhalten. Eben deshalb soll alles getan werden, um die DB AG dennoch möglichst schnell zu privatisieren. Inzwischen bettelt der Bahnchef ja darum, dass ein "Investor" wenigstens mit drei oder fünf Prozent einsteigen möge.

Strafanzeige gegen Mehdorn

Das macht finanziell natürlich keinen Sinn – wie die gesamte Bahnprivatisierung darauf hinausläuft, dass die Steuerzahlenden am Ende mehr Subventionen für die Schiene zahlen als zuvor. In Großbritannien liegt dieser Betrag heute drei mal so hoch wie vor der Privatisierung (wie z.B. 1995). In Schweden, wo es eine Teilprivatisierung gab, doppelt so hoch. Dennoch machen auch drei Prozent private Beteiligung für die Privatisierer Sinn. Denn dann ist die seit rund 100 Jahren in öffentlichem Eigentum befindliche Bahn eben keine öffentliche Bahn, sondern eine privatisierte Bahn - mit gravierenden Folgen für Fahrgäste, Belegschaft und für die Finanzen.

Sie haben im Zusammenhang mit der Radsatzwellen-Problematik Strafanzeige gegen den Bahnvorstand erstattet. Wie ist hier der Sachstand?

Winfried Wolf: Bereits am 29. Juli 2008 reichten Prof. Karl-Dieter Bodack (vormals ein hoher Manager bei der Deutschen Bahn AG, heute u.a. als Berater im Bereich Schienenverkehr aktiv), Professor Heiner Monheim (bekannt im Bereich Verkehrspolitik und Städteplanung), der international sowohl als Hotelier wie als Eisenbahnfreund renommierte Andreas Kleber und ich bei der Kölner Staatsanwaltschaft über den Berliner Rechtsanwalt Hartmut Lierow eine Strafanzeige gegen Bahnchef Hartmut Mehdorn und drei weitere Top-Manager der DB AG wegen des "Verdachts des gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr, § 315 StGB" ein. In dem neunseitigen Schriftsatz sind alle Fachargumente für die Unvertretbarkeit des Einsatzes der genannten Radsatzwellen und die Tatsachen dargelegt, aus denen sich zumindest der Verdacht ergibt, dass der Vorstand der Deutschen Bahn AG all dies wusste oder zumindest bei der ihm obliegenden besonderen Sorgfaltspflicht hätte wissen können – und dennoch das Gegenteil des Erforderlichen tat: Anstatt eine größere Sorgfalt walten zu lassen, wurden die Wartungsinhalte ausgedünnt und die Wartungsintervalle ständig vergrößert.

Skandalöser Umgang mit der Strafanzeige

Die Erfahrung mit dieser Strafanzeige ist ein weiterer Beleg dafür, dass beim Thema Bahnprivatisierung höhere Kräfte walten. In den ersten sieben Wochen bestritt die Staatsanwaltschaft gegenüber Medienvertretern den Eingang der per Fax und eingeschriebenen Brief übermittelten Strafanzeige. Erst nach Erhebung einer Dienstaufsichtsbeschwerde und nachdem wir am 19. September auf einer Pressekonferenz im Düsseldorfer Landtag den skandalösen Umgang mit der Strafanzeige angeprangert hatten, räumte die Staatsanwaltschaft den Wochen zurückliegenden Eingang der Anzeige ein. Das Aktenzeichen lautet im übrigen 10 U Js 181/08. Die Dienstaufsichtsbeschwerde selbst ist bis heute nicht beantwortet. Unser Anwalt beantragte Akteneinsicht, die ihm bzw. uns als Mandanten bis zum heutigen Tag verwehrt wird. Die Begründung des zuständigen Staatsanwaltes Brück ist interessant; sie lautet wie folgt: "Zum einen ist die Verfahrensakte aufgrund der laufenden Ermittlungen nicht entbehrlich. Zum anderen ist ... die Gewährung von Akteneinsicht unter die Bedingung eines erkennbar dargelegten berechtigten Interesses gestellt. Ein solches wurde jedoch Ihrerseits nicht dargetan, zumal Sie (unser Anwalt) in Ihrem Schreiben vom 17.11.2008 mitteilten, Ihre Mandantschaft habe weder ein eigenes unmittelbares noch ein mittelbares Interesse an dem Ausgang des Strafverfahrens." (Brief der Kölner Staatsanwaltschaft vom 3.12.2008).

Tatsächlich war im Schreiben unseres Anwalts darauf verwiesen worden, dass wir nachvollziehbare allgemeine gesellschaftliche Interessen an der Strafanzeige haben. Diese Interessen sollten alle Fahrgäste der Bahn haben. Sie lauten – hier als Auszug aus dem Schreiben von Hartmut Lierow - unseres Anwalts - mit der Forderung nach Akteneinsicht: "Sie (die Mandanten) haben die Anzeige aufgrund eines zivilgesellschaftlichen Engagements gestellt. Sie wollen gewährleistet sehen, dass im Schienenverkehr nicht mögliche und notwendige Sicherheitsstandards privatwirtschaftlichen Profitorientierungen oder gar kurzfristigen merkantilen Interessen eines Managements geopfert werden, deren Vergütung teilweise an den Bilanzergebnissen orientiert ist und die im Fall eines Bahnbörsengangs mit zusätzlichen Boni belohnt werden sollten."

Der Interviewte legt wert auf die Feststellung, dass er kein Pkw-Fahrer ist und im motorisierten Verkehr so gut wie ausschließlich mit der Bahn verkehrt – und so allein im abgelaufenen Jahr 2008 mehr als 50.000 km im Schienenverkehr zurücklegte. Trotz des desaströsen Umgang des Bahnvorstands mit dem Elementargut Sicherheit ist die Schiene weiterhin das sicherste Verkehrsmittel unter den motorisierten Transportarten.