Die "Moral" von der Geschichte

Anmerkungen zum einseitigen Pro-Israelismus in der Politik

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Der Krieg, mit dem Israels Regierung seit Ende der Weihnachtsfeierlichkeiten die Menschen in Gaza terrorisiert, hat schon an seinen ersten Tagen die vorauseilende Zustimmung westlicher Politiker gefunden. Nicht nur George W. Bush, sondern auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Kanzlerin Angela Merkel beeilten sich, die Luftangriffe der israelischen Armee als legitime Akte der Selbstverteidigung zu qualifizieren und der Hamas die Alleinschuld zuzuweisen.

Der Wortlaut war fast deckungsgleich mit den Voten dieser Politiker zu Beginn des Libanon-Krieges im Juli 2006. Damals schrieben Pfarrer Uwe Weltzien und Dr. Willy Rellecke von Beirut aus an die Kanzlerin:

Zu der Frage nach Ursache und Wirkung können die Unterzeichner mit vielen Details und eigenen Erfahrungen beitragen: hier kommt jedoch niemand zu dem Schluss, dass der anhaltende Bomben-Terror der Selbstverteidigung Israels dienen könnte.

Man wird, nachdem das Ausmaß der Leiden in Gaza stündlich wächst, in den nächsten Tagen noch mehr ratlose Appelle zu "humanitärer Hilfe" vernehmen. Werden die voreiligen Fürsprecher des israelischen Krieges auch selbst Verantwortung für die Leiden der Palästinenser und für die Toten des Militäreinsatzes übernehmen?

Die Stunde der Bewährung?

Mit einer solchen Selbstbesinnung zum Jahresanfang ist wohl kaum zu rechnen. Die deutsche Linie der – vermeintlich pro-israelischen – Parteinahme beruht auf so genannter "Staatsräson". Sie ist doktrinärer und nicht moralischer Natur. Die Debatte darüber wird nach diesem Krieg nicht mehr aufzuhalten sein. Ein aktueller Kommentar im Mainstreaming-Medium ARD ist mit der Überschrift versehen: "Der Grundfehler ist die pro-israelische Schlagseite." In vielen bürgerlichen Zeitungen, die niemand des "Antizionismus" verdächtigt, ist von Sympathie für Israels Luft- und Bodenkrieg derzeit nichts zu lesen.

In ihrer Rede vor der Knesset hatte Angela Merkel am 18. März 2008 – mit Blick auf die Gefahr der Entwicklung einer iranischen Atombombe – gesagt:

Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar – und wenn das so ist, dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben.

Es drängt sich die Frage auf, ob Angela Merkel zum Jahresende 2008 eine solche "Stunde der Bewährung" als gekommen ansah. Ihr Vize-Regierungssprecher Thomas Steeg teilte der Öffentlichkeit am 29. Dezember mit, es sei das legitime Recht Israels, die eigene Bevölkerung zu schützen. Die Kanzlerin sei sich am Vortrag bei einem Telefonat mit Israels Ministerpräsident Ehud Olmert einig darin gewesen, dass die Verantwortung für die Eskalation "eindeutig und ausschließlich" bei der Hamas liege. Sie wünsche allerdings, dass zivile Opfer vermieden würden. Außenminister Steinmeier hatte Deckungsgleiches schon am 27. Dezember geäußert und außerdem an Israel appelliert, "das Gebot der Verhältnismäßigkeit zu respektieren".

Über welche Informationen und Sachkenntnisse verfügt die Bundesregierung?

Diese Verlautbarungen lassen Zweifel an Informationsstand und fachlichem Urteilvermögen der Bundesregierung aufkommen. Über viele Monate gab es 2008 ein funktionierendes Waffenstillstandsabkommen, während dessen die Hamas keine einzige selbstgebaute Rakete auf Südisrael abgefeuert hat. In dieser Zeit tat Israels Regierung rein gar nichts, um im Gegenzug die Blockade des Gaza-Streifens und die mit ihr verbundenen menschenunwürdigen Bedingungen zu beenden. Die Kassam-Raketen hatte Angela Merkel schon in ihrer Knesset-Rede vom März 2008 erwähnt, die damals bereits bestehende Blockade hingegen nicht.

Der Wiederaufnahme von Raketenabschüssen durch die Hamas ging am 5.11.2008 ein israelischer Militäreinsatz in Gaza voraus, bei dem sieben Palästinenser getötet wurden. Möglicherweise lässt sich derzeit aufgrund der Propaganda beider Kriegsparteien die Chronologie der Eskalation nicht einwandfrei rekonstruieren. Berichte der israelischen Presse über eine monatelange Vorbereitung der Operation "Gegossenes Blei" machen es aber mehr als fragwürdig, von einer spontanen Vergeltungsantwort auf Hamas-Angriffe zu sprechen.

Nach internationalem Rechtsstandard gilt es als legitim, wenn Palästinenser sich gegen die im 4. Jahrzehnt fortdauernde Besatzung der ihnen von der UNO zugewiesenen Gebiete zur Wehr setzen. Allerdings kann keine der von Hamas eingesetzten Raketen dem humanitären Völkerrecht Genüge leisten, denn dafür fehlt diesen primitiven Geschossen jegliche Zielgenauigkeit. Wie aber andererseits bei den israelischen Luftbombardements auf den abgeriegelten und dicht besiedelten kleinen Gaza-Streifen die vielen zivilen Opfer zu vermeiden gewesen wären, das hätte man am 28. Dezember gerne von der Bundeskanzlerin erfahren.

Dass Israels Krieg gegen Gaza auch mit innenpolitischem Wahlkampf zu tun hat und mit dem nur noch kurz geöffneten Zeitfenster der Ära Bush, pfeifen inzwischen die Spatzen von den Dächern. Die Indizien dafür sind nur schwer von der Hand zu weisen. Von einem moralisch einwandfreien Verteidigungskrieg sollte man auch deshalb nicht vorlaut reden. Es stellt sich vor allem die Frage, welchen Aussagewert der Begriff "Verhältnismäßigkeit" noch haben soll, wenn er als Attribut für Israels militärisches Vorgehen in Gaza verwendet wird.

Schließlich wüssten viele Bürger gerne, von welchem Rechtsbewusstsein die deutsche Bundesregierung bei ihren Voten geleitet wird. Die Besatzung der Palästinensergebiete, große Teile des Mauerbaus, kollektive Bestrafung der Bevölkerung durch die Blockade des Gaza-Streifens, als selbstverständlich geltende "gezielte Tötungen" bzw. außergerichtliche Hinrichtungen, Bombardierungen eines winzigen Areals, auf dem Menschen sich förmlich drängeln, die absehbaren Ausweglosigkeiten des am 3. Januar begonnenen Bodenkrieges für israelische Soldaten …, all das ist einzig und allein an den für die ganze Völkerwelt verbindlichen Rechtsnormen zu messen.

Die Ja-Sager gefährden die Zukunft Israels und das Leben von Juden

Ist ein halbes Jahrhundert voll endloser Gewalt und Gegengewalt nicht hinreichend genug, um jeden, der im Palästina-Konflikt zu den Waffen greift statt politische Lösungen anzugehen, für unzurechnungsfähig zu erklären? Das gilt eben nicht nur für die Hamas. Schlimmer als mit dem aktuellen Gaza-Krieg kann man Israel von innen heraus kaum schädigen. Die rücksichtslose Kriegspolitik der israelischen Regierung und deren Stützung durch die "westliche Welt" gefährden die Zukunft des Landes und das Leben von Juden auf der ganzen Welt.

Seit Dienstag lässt der Brandanschlag auf eine Synagoge in Toulouse die Angst vor einer neuen antijüdischen Gewaltwelle aufkommen. Wieder lernt eine palästinensische Generation, die länger leben wird als die derzeitige Regierungsriege von Ehud Olmert, den Hass. Die Gleichgültigkeit der gesamten Weltöffentlichkeit hält sie längst für eine ausgemachte Sache. Palästinenser in unserem Land fragen bei ihren Demonstrationen die Bundesregierung: "Warum müssen WIR für die Shoa büßen?" In arabischen Ländern schwillt der Zorn über die im internationalen Geschehen offenkundig geltenden "doppelten Standards" – und über eigene Regierungen – bedrohlich an. Neue Verletzungen, neue Martyriumsbereitschaft, neue Nahrung für Islamisten und Kulturkämpfer der Gegenseite.

Wer will ausschließen, dass sich daraus weitere Flächenbrände entwickeln? Und wenn es stimmen sollte, dass eine Zweistaatenlösung "Israel-Palästina" angesichts der bis heute geschaffenen "Fakten" gar nicht mehr zu realisieren ist, wie sollte dann ein gemeinsamer Staat angesichts des gegenwärtigen Geschehens auch nur gedacht werden?

Die Verantwortung liegt auch auf Seiten der europäischen und US-amerikanischen Politik. Freunde würden Israels Regierung nicht noch im Aberglauben bestärken, die eigene militärische Überlegenheit sei ein Trumpf. Freunde hätten zeitig zu Gesprächen mit der Hamas geraten, für die ja auch der israelische Staat einmal Geburtshilfe geleistet hat. Freunde hätten von dem Irrweg abgeraten, die eigene Sicherheit zu suchen, indem man die Gruppierungen der anderen Seite gegeneinander ausspielt. Man kann hehre Sonntagsreden über das "Existenzrecht Israels" halten. Für die Zukunft Israels wirklich etwas zu tun, das ist auf so billige Weise nicht zu bewerkstelligen.

Persönliche Erfahrungen und Gefühle sollten keine Tabus sein

Über "legitime und illegitime Kritik an Israel" gibt es zahlreiche Ratgeber und Verhaltensregeln. Wer Angst hat, als Judenfeind diffamiert zu werden, kann überprüfbare philosophische Argumentationen und Definitionen heranziehen. Die kritische Wachsamkeit gegenüber unkontrollierter Emotionalität hat – zumal hierzulande – alle Berechtigung. Niemand kann nach den Erfahrungen der Geschichte sagen, welche Umwege der Judenhass in der tieferen Psyche (auch der eigenen) noch ausfindig machen kann. Keiner kann leugnen, dass der Antijudaismus sich nicht selten auch als "Israelkritik" verkleidet.

Indessen birgt diese Wachsamkeit auch die Gefahr der "Sterilität", die am Ende das genaue Gegenteil von dem erzeugen könnte, was vermieden werden soll. Wer beim Palästina-Konflikt immer und ausschließlich nur "sachlich" bleibt, der ist entweder herzlos oder feige. Auch Unsicherheit bezogen auf eigene oder familiäre Untergründe, die den Judenhass betreffen, kann Ursache für eine ängstlich eingehaltene "Sachlichkeit" beim Sprechen über palästinensische Leiden sein.

Nach meinen persönlichen Erfahrungen ist es aber viel hilfreicher, Gefühle nicht zu tabuisieren. Einer meiner besten Freunde ist Israeli. Uns beide verbindet eine inzwischen mehr als zwanzigjährige Freundschaftsgeschichte mit Höhen und Tiefen. Am Anfang war ich für ihn vor allem auch der pro-jüdische Christ (ich warte immer noch auf die versprochene "Mesuse"), der "philosemitische" Gutmensch und der regionale "Antisemitismusforscher". Er hat nicht an Provokationen gespart, um herauszubekommen, ob ich ihn als Mensch oder – ganz vordergründig – nur als "Jude" liebe. Es hat länger gedauert, bis ich z.B. bestimmte Formulierungen aus seinem Provokationsarsenal als rassistisch beschimpft habe.

Früher sind bei uns auch schon Tränen geflossen, wenn wir auf das Thema "Israel" zu sprechen kamen. 2006 waren wir allerdings längst weiser. Nach meiner aktiven Teilnahme an Protesten gegen den Libanon-Krieg hat David mich in seiner Wohnung – wie schon oft – bekocht. Nach dem Essen haben wir ohne jede Schonung – aber freundschaftlich – über Israels Politik gestritten. Wir werden in dieser Sache wohl nie einig werden, und ich suche mir Freunde auch nicht nach weltanschaulichem oder politischem Konsens aus. David weiß seinerseits, dass ich als Pazifist keine "unbedingte Israel-Solidarität" üben kann. Er würde mich deshalb nie als "Antisemiten" beleidigen.

Möglicherweise wären Außenstehende entsetzt, wenn sie uns beide bei einer "politisch unkorrekten" Unterhaltung belauschen würden. Was unsere Freundschaft immer wieder belebt, sind Ungestelztheit, direkte Wortwahl und das Fehlen von Zensur. Ich vermag auch aufgrund dieser persönlichen Freundschaftserfahrung nicht zu erkennen, wie eine deutsch-israelische Freundschaft ohne offenen Widerspruch möglich sein sollte.

Die schmerzhaften Erfahrungen werden bleiben. Auf der Silvesterparty in meiner Wohnung war ich heilfroh, dass niemand zu vorgerückter Stunde politisiert hat. Sehr leicht wird David bei solchen Gelegenheiten nämlich in eine Ecke gestellt, in der man vom ihm eine "Verteidigung Israels" erwartet. Womöglich gibt sich am Ende noch die ganze Last der Geschichte ein Stelldichein, und alle treten bedrückt den Heimweg an.

Wer wie ich am vergangenen Samstag linke Antifa-Mitglieder, die zum sehr "geschichtsbewussten" Teil der Jugend gehören, auf einer Demonstration gegen die Kriegspolitik der israelischen Regierung beobachtet hat, konnte unglückliche Gesichter sehen. Es zerreißt diesen jungen Antifaschisten das Herz, sich zur Teilnahme an einem solchen Protest durchringen zu "müssen". Auch über solche Gefühle muss gesprochen werden.

Geschichtsbewusste Parteinnahme oder deutscher Narzissmus?

In diesem Jahr wird die Bundesrepublik Deutschland ihren 60. Geburttag feiern. Es steht zu befürchten, dass sich die Republik in lauter Selbstlob ergeht – und ihre Schatten vergisst: das Heer jener Täter, die sehr bald wieder politische Ämter bekleiden durften; eine von den Nazi-Universitäten übernommene Justiz, die Massenmörder von Juden als "bloße Ausführende" mit einer nirgendwo im Strafrecht vorgesehenen Milde behandelt hat; eine bis in die 80er Jahre währende Verdrängungsgeschichte und einen neuerlichen Geschichtsrevisionismus, der die Unvergleichbarkeit der von Deutschen begangenen Verbrechen zu relativieren sucht; eine Aushöhlung des Asylrechtes und des in der Verfassung verankerten Völkerrechtspazifismus; die (auch im Inneren wirksame) Remilitarisierung; eine soziale Wirklichkeit, die für neue Nazis vielerorts den Boden bereitet …

Wird auch noch in einer Generation jemand behaupten können, das Land gedenke seiner Geschichte – im Großen und Ganzen gesehen – zumindest auf offene und fruchtbare Weise? Wo sind heute Visionen, die das Gedenken an die Shoa und an sechs Millionen jüdische Mordopfer zu etwas Glaubwürdigem oder sogar Hoffnungsvollem führen? Eine vordergründige und kritiklose Pro-Israel-Doktrin kann wohl kaum Antwort auf diese Frage sein. Sie stünde auch leicht unter dem Verdacht, ein bequemer Weg zu sein, auf dem sich der "deutsche Narzissmus" schließlich zu neuen Höhen aufschwingen kann.

Ein jüdischer Israel-Kritiker wie Rolf Verleger beruft sich auf die hohe Sittlichkeit der jüdischen Religion und des jüdischen Humanismus (Hebräischer Humanismus). Von hier aus gelangt er zu der Überzeugung, dass neben dem Gedächtnis des Konkreten und mit nichts Vergleichbaren die Antwort auf Auschwitz ein – im Leben der Menschheitsfamilie verankerter – ethischer Universalismus sein muss (wie anders sollten wir das Moralniveau pubertierender und selbstverliebter "Antideutscher" wirklich hinter uns lassen?). Auch Angela Merkels oben zitierte Rede vor der Knesset enthält den zentralen Kern einer am Wohl aller Menschen ausgerichteten Moral, und es ist nie zu spät, damit ernst zu machen:

Sie ist das kostbarste Gut, das wir haben: die unveräußerliche und unteilbare Würde jedes einzelnen Menschen – ungeachtet seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Sprache, seines Glaubens, seiner Heimat und Herkunft.