Vorratsdaten - für alle Fälle

Teil 1: Schwere Straftaten - ein zweckdienlicher Kunstbegriff

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In ihrer fast 120 Seiten umfassenden Stellungnahme zur Vorratsdatenspeicherung hat die Bundesregierung sich nur allzu deutlich demaskiert. Es lohnt sich, einigen Aspekten besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

Was sind eigentlich "serious crimes"?

Am 14.12.2005 nahmen die Abgeordneten des EU-Parlamentes die bis zum Schluss umstrittene EU-Richtlinie an, welche die Vorratsdatenspeicherung (VDS) nicht mehr auf freiwilliger Ebene regelte. Die Richtlinie schrieb vielmehr die Umsetzung der VDS für die EU-Staaten vor. Bereits im Vorfeld der Entscheidung war eine heftige Diskussion darüber entbrannt, ob die VDS verhältnismäßig sei und mit der Menschenrechtscharta vereinbar. Ein wichtiger Kritikpunkt war weiterhin die Tatsache, dass die Verwendung der durch die VDS entstandenen Daten auf die Aufklärung von "serious crimes" begrenzt wurde, ohne diese abschließend zu definieren.

Auf die Kritik reagierte im Januar 2006 der Mehrheitsführer der Europäischen Volkspartei, Herbert Reul. Er wies darauf hin, dass die Daten nur zur Aufklärung von schweren Straftaten genutzt werden würden, eine Argumentation, der sich in der nächsten Zeit viele Politiker, gerade auch in Deutschland, anschlossen. Da zunehmend die organisierte Kriminalität, der Terrorismus, sowie Kinderpornographie als Begründung für die VDS genutzt wurden, entstand so der Eindruck, es ginge hier tatsächlich nur um die Bekämpfung und Aufklärung von "schweren Straftaten", unter denen man eher Mord, Totschlag, Vergewaltigung usw. versteht. Schon hier begann aber die Begriffsverwirrung, die den Apologeten der VDS recht willkommen war. Denn in der Richtlinie war durchaus auch ein kleines Hintertürchen eingebaut, das, zusammen mit dem Kunstbegriff "schwere Straftaten", durchaus wichtig war.

Das kleine Hintertürchen

In Artikel 15(1) fand sich nämlich folgende Möglichkeit, die Klausel "schwere Straftaten" aufzubohren:

Die Mitgliedsstaaten können Rechtsvorschriften erlassen, die die Rechte und Pflichten gemäß Artikel 5, Artikel 6, Artikel 8 Absätze 1, 2, 3 und 4 sowie Artikel 9 dieser Richtlinie beschränken, sofern eine solche Beschränkung gemäß Artikel 13 Absatz 1 der Richtlinie 95/46/EG für die nationale Sicherheit, (d. h. die Sicherheit des Staates), die Landesverteidigung, die öffentliche Sicherheit sowie die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten oder des unzulässigen Gebrauchs von elektronischen Kommunikationssystemen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, angemessen und verhältnismäßig ist.

Der Begriff "schwere Straftaten" (der letztendlich nicht einmal wirklich aussagekräftig ist) wurde somit zur Standardberuhigung für Kritiker, die meinten, dass die Daten aus der VDS insbesondere auch demnächst der Musikindustrie zur Verfügung stehen würden. Die deutsche Umsetzung der VDS führte dann den kleinen Passus mit sich, der die Daten auch bei der Verfolgung von mittels Telekommunikation begangener Straftaten ermöglichte. Dieser Regelung wurde vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mittlerweile ein Riegel vorgeschoben.

Schwere Straftaten – das kann alles sein

In der Stellungnahme hat die Bundesregierung nun sehr deutlich mitgeteilt, dass sie den Begriff "serious crimes"/"schwere Straftaten" selbst für einen solchen Kunstbegriff hält, der keinen Rechtsbegriff darstellt, der in identischer Form im deutschen Strafrecht zu finden ist.

In der Stellungnahme heißt es:

[...]Formulierung "schwere Straftaten" ist kein terminus technicus des deutschen Strafrechts. Mit dem Begriff, englisch "serious crimes" soll klargestellt werden, dass die Einführung von Speicherungspflichten einem erheblichen Gemeinwohlbelang dient, nämlich der Verfolgung und Bekämpfung gewichtiger Straftaten. Schon mangels einer gemeinsamen rechtlichen Grundlage in den Strafrechtsordnungen der Mitgliedsstaaten ist damit kein Rechtsbegriff bezeichnet, der sich mit identischer Bedeutung im deutschen Strafrecht wiederfinden lassen würde. Bei der Zwecksetzung handelt es sich nicht um eine juristische Definition, sondern nur um eine gemeinsame Formulierung der Mitgliedsstaaten, die dem Speicherungszweck keine spezifische Grenze ziehen soll.

Die Richtlinie steht einer ergänzenden Zweckbestimmung der Datenspeicherung grundsätzlich offen, heißt es schließlich in der Stellungnahme. EU-rechtliche Hindernisse, die Daten "in den Dienst der qualifizierten polizeilichen und der nachrichtendienstlichen Aufgabenerfüllung" zur "Verhütung" von Straftaten zu stellen seien somit nicht vorhanden.

Die Tatsache, dass der Begriff "schwere Straftaten" im allgemeinen mit Mord, Totschlag, Vergewaltigung und ähnlichen Kapitalverbrechen. in Verbindung gebracht wird und somit eine Verwendung der VDS-Daten zu Präventivzwecken für viele durch die beruhigenden Worte der Politik schon ausgeschlossen schien, hat man sich lange zunutze gemacht. In der bisherigen Diskussion hatte sich keiner der Politiker einmal dazu geäußert, dass der Begriff "schwere Straftaten" keine juristische Definition sei, sondern lediglich eine Formulierung, die letztendlich "offen für alles" ist, sofern es um einen "erheblichen Gemeinwohlbelang" und "gewichtige Straftaten" geht. In der Stellungnahme hat die Bundesregierung somit nicht nur mit einem Mythos aufgeräumt, sie hat auch deutlich aufgezeigt, mit welchen Tricks man bisher arbeitete, um die VDS in den Augen der Öffentlichkeit zu verharmlosen.

So die Bundesregierung von der offensichtlichen Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und Richtigkeit der VDS überzeugt ist, hätte man sich dieses rhetorischen Kniffes nicht bedienen müssen. Doch man suggerierte stattdessen, dass "schwere Straftaten" tatsächlich ein Begriff ist, der die Datenspeicherungszwecke eingrenzt – entweder wussten alle Politiker, die diesen Trick übernahmen, es tatsächlich nicht besser (was von Inkompetenz zeugen würde) oder aber sie haben schlichtweg hier ganz gezielt Nebelkerzen gezündet, um die Kritik ins Leere laufen zu lassen. Welche Möglichkeit zutrifft, kann jeder für sich selbst entscheiden. Beruhigend sind beide nicht.