Goethe ist was für Versager

Warum wird von den Schulfächern Mathematik und den Naturwissenschaften Anwendungsbezug verlangt, nicht jedoch vom Deutschunterricht?

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Bei der ersten PISA-Untersuchung waren die deutschen Schülerinnen und Schüler am schwächsten in der Kategorie Lesekompetenz. Dennoch gab es keine grundlegenden Änderungen für das Fach Deutsch. Am deutlichsten hingegen wurden die Inhalte des Faches Mathematik überarbeitet. In beiden Fächern liegt Deutschland weiterhin nur im Mittelfeld. Warum wurde nur der Mathematikunterricht besonders intensiv reformiert? Es scheint sich um einen bisher unbekannten Kulturkampf zu handeln.

Zur Erinnerung. Die Veröffentlichung der PISA-2000-Ergebnisse hatte in Deutschland zu einem Schock geführt, dessen Verwerfungen bis heute andauern. Zum Entsetzen aller fanden sich deutsche Schüler im unteren Mittelfeld der untersuchten Nationen wieder (Zusammenfassung der Kultusministerkonferenz; tabellarische Übersicht). Die deutschen Schüler erreichten in Mathematik und Naturwissenschaften jeweils den 21. von 32 Plätzen. Bei der Lesekompetenz schafften sie es sogar bloß auf Platz 22. Mit PISA 2006 hatten sich die Situation bekanntlich verbessert. Allerdings wird nur in den Naturwissenschaften ein überdurchschnittlicher Rang erreicht. In Mathematik und Lesekompetenz haben sich die deutschen Schüler zwar auch aufgerappelt, finden sich jedoch bloß im Mittelfeld wieder.

In den bildungspolitischen Reaktionen auf PISA waren zwei Grundstrategien zu erkennen gewesen. In Mathematik und Naturwissenschaften hieß das Zauberwort „Anwendungsbezug“, während Lesekompetenz vor allem durch verstärktes „klassisches Lesen“ generiert werden sollte. Das sind zwei Strategien, wie sie konträrer nicht hätten sein können. Während konkreter Anwendungsbezug Schüler mit konkretem Nutzen für die technisierte Realität motivieren will, versucht die Lesestrategie genau das Gegenteil. Sie schottet von der hektischen, unübersichtlichen medialen Gegenwart weitgehend ab und behauptet, die Zukunft sei zu meistern durch Rückbesinnung auf vermeintliche kulturelle Kernfertigkeiten. Allen Ernstes wurde von manchem Kommentator sogar die kleinkarierte Ansicht vertreten, wer nicht wisse, was der Unterschied sei zwischen einer „Novelle“ und einem „Roman“, der habe das Abitur nicht verdient.

Jetzt drängen sich zwei Fragen auf. Erstens, warum sind, trotz gleicher Strategie, die Werte in den Naturwissenschaften inzwischen besser, als in Mathematik? Zweitens, wieso galt der Bezug zum wirklichen Leben nur für die Mathematik und die Naturwissenschaften als motivationsfördernd? Da seinerzeit die Lesekompetenz das Schlusslicht gebildet hatte, hätte gerade hier ein radikaler Wandel in den pädagogischen Konzepten erwartet werden können.

Die Gesamtsituation ist unübersichtlich, wie immer im föderal atomisierten Deutschland. Denn es ist ja nicht so, dass die pädagogischen Anstrengungen der letzten Jahre einzig und allein dem Ziel gedient hätten, die deutsche Position im PISA-Ranking zu verbessern. In den alten Ländern stand die immer noch nicht abgeschlossene Umstellung auf G8 im Vordergrund, also das Erlangen der Allgemeinen Hochschulreife schon nach 12, nicht erst nach 13 Jahren Schule. Weitere zentrale Stichworte sind das Zentralabitur, Abschlussprüfungen am Ende der gymnasialen Mittelstufe, Qualitätssicherung und Lernstandserhebungen. Dass ausgerechnet die neuen Bundesländer, bei denen G8 naturgemäß kein Thema ist, inzwischen sehr gut abschneiden, ist nebenbei bemerkt ausgesprochen erfreulich. Es straft die Ewiggestrigen Lügen, die in der Verkürzung der Schulzeit den Untergang des Abendlandes sahen.

Kognitiv fokussiert zum Erfolg

Das besonders gute Abschneiden in den Naturwissenschaften ist nicht zuletzt deshalb erstaunlich, weil in vielen Bundesländern die entsprechenden Lehrbücher immer noch nicht erneuert worden sind. Daher verzichten beispielsweise manche Chemielehrer der G8-Jahrgänge in Nordrhein-Westfalen auf die Verwendung alter Bücher. Sie stellen ihren Schülern Unterrichtsmaterialien lieber selbst zusammen. Besonders erfolgreich bei PISA sind diesmal die Schulen gewesen, die Naturwissenschaften durch sogenannte „kognitiv fokussierte Aktivitäten“ vermitteln (PISA 2006, S. 14). Darunter werden Maßnahmen verstanden, die die eigenständige theoretische Begriffsbildung und theoretische Durchdringung naturwissenschaftlicher Sachverhalte fördern - auf Kosten des eigenen Experimentierens.

Fragt man allerdings Physik- und Chemielehrer, so wird man erfahren, sie würden es bevorzugen, Schüler würden selbst eigenständig experimentieren und forschen. Leider übersehen sie dabei, dass selbst eine Doppelstunde nicht ausreicht, wirklich eigenständig zu experimentieren oder gar zu „forschen“. Denn Zeit, aus Fehlern zu lernen, ist einfach nicht gegeben. Aber genau das wäre es, was Forschen ausmacht. Werden die Experimente jedoch vor allem durch den Lehrer vorgeführt, die Schüler aber ermutigt, sie begrifflich zu hinterfragen, so wird die Unterrichtszeit offensichtlich weitaus effektiver und für die Schüler sinnvoller genutzt.

Vielleicht haben sich viele Schulen gar nicht bewusst für die „kognitiv fokussierten Aktivitäten“ entschieden, sondern nur infolge materieller und personeller Engpässe. Wenn dem so sein sollte – und ich vermute es – dann sollte aus der Not bundesweit eine Tugend gemacht werden!

Jenseits der Sprache: Mathematik

Während die naturwissenschaftlichen Schulbücher teilweise immer noch antiquiert sind, sind die Mathematikbücher schon mehrfach konzeptionell erneuert worden. Der Zugang zu den einzelnen Themenbereichen soll dadurch erleichtert werden, dass eifrig wortreich geschilderte Beispiele aus dem täglichen Leben verwendet werden. Dennoch hat sich die deutsche Ranking-Position im Mittelfeld festgefressen.

Zwar sind viele mathematische Themen durch Fragen des alltäglichen Lebens entstanden, wie etwa die Statistik. Aber die Mathematik folgt ihren eigenen Regeln und sie hat sich immer schnell von rein praktischen Fragen abgekoppelt. Sie ist inhärent abstrakt und hat einen völlig eigenen Formalismus entwickelt, der notwendig ist, weil gewöhnliche Sprache für die Beschreibung mathematischer Zusammenhänge schlichtweg unzureichend ist.

Der erzwungene Anwendungsbezug hat für die Vermittlung von Mathematik ausgesprochene Nachteile. So berichtete mir eine Oberstufenschülerin, die Nachhilfestunden gibt, wie schwer sie es gehabt hätte, als sie einer ihrer Schülerinnen lineare Funktionen erklären sollte. Das Eingangsbeispiel, das der schwachen Schülerin zu schaffen machte, war eine Aufgabe, in der Autos aufgetankt werden. Wie kommt man nun von diesem für beide Schülerinnen völlig aus der Luft gegriffenen Einzelfall zu allgemeinen linearen Funktionen? Übertriebener Anwendungsbezug erwies sich hier für das Verständnis von Mathematik als hinderlich.

Wie der Erfolg des kognitiv fokussierten Ansatzes vermuten lässt, wäre in diesem Fall eine kritische Auseinandersetzung und eigenständige Entwicklung der Begrifflichkeiten wohl wesentlich sinnvoller gewesen. Jedoch ist der Formalismus, der in der Mathematik dafür vonnöten ist, in der Schule unter die Räder gekommen: die Kinder und Jugendlichen lernen ihn heute nicht mehr.

Ein kleiner, nicht repräsentativer Test, den ich hierzu durchführte, ist ein weiteres Indiz für den mathematischen Analphabetismus, der sich an den Schulen breit macht. Selbst der Schüler einer gymnasialen neunten Klasse in NRW, der zu den Besten seiner Klasse gehört und der bei der landesweiten Lernstandserhebung in seiner Stufe den führenden Platz belegt hatte, war trotz intensiven Bemühens nicht in der Lage, die vierte Aufgabe des aktuellen Bundeswettbewerb Mathematik zum Dezimal-Palindrom auch nur zu verstehen.

Somit hat die eingangs gestellte erste Frage, warum das Abschneiden in Naturwissenschaften besser ist, als in Mathematik, eine mögliche Antwort gefunden. Um Mathematik zu vermitteln, eignet sich der Bezug zur realen Umwelt nur bedingt, während er, mit solider theoretischer Begriffsbildung unterfüttert, in den Naturwissenschaften sinnvoll ist.

Und Deutsch?

Auf dem Cover finden mediale Aktivitäten statt, im Innern eher nicht. Deutschbuch für die 8. Klasse, Cornelsen Verlag

Obwohl die deutschen Schüler bei PISA 2000 in Lesekompetenz am schlechtesten abgeschnitten hatten, war nur die Mathematik ins Zentrum radikaler Reformbemühungen geraten. Mit mäßigem Erfolg, wie wir gesehen haben. Im Deutschunterricht hat sich praktisch nichts geändert, abgesehen davon, dass der Lernstoff durch G8 komprimiert werden musste. Vielleicht lag es daran, dass im Deutschunterricht immer schon Themen aus dem Alltag bearbeitet wurden. „Helden und Vorbilder“, „Menschen in der Stadt“ und „Werbung – Anzeigen und Filmspots untersuchen und gestalten“ sind Beispiele für typische Kapitel aus einem aktuellen G8-Deutschbuch1, wie sie so ähnlich schon seit Jahrzehnten in Schulbüchern zu finden sind. Dies ist eine möglich Antwort auf die zweite Frage, warum nach PISA 2000 vom Deutschunterricht kein Anwendungsbezug verlangt wurde, jedoch vom Mathematik- und dem naturwissenschaftlichen Unterricht.

Dass die Lesekompetenz in Deutschland weiterhin unzureichend ist, könnte daran liegen, dass die Art und Weise, in der die Themen den Schülern nahegebracht werden, bei ihnen kein Interesse wecken. Auf jeden Fall ist es an der Zeit, grundsätzlich zu erörtern, mit welchen Methoden die Lesekompetenz deutlich verbessert werden könnte.

Der unbekannte Kulturkampf: die Versprachlichung der Mathematik

Als Ursache hinter dem starken Druck zum Anwendungsbezug ausgerechnet ihres Faches, vermuten Mathematiklehrer nicht selten einen starken Einfluss der Industrie auf die Bildungspolitiker. Wäre dies jedoch so, so müsste dieser Einfluss in allen Fächern sichtbar werden, ist er aber nicht. Obwohl Lobbyisten auch über mangelnde Sprachfertigkeiten von Bewerbern klagen, hat sich am Deutschunterricht fast nichts geändert. Während im Matheunterricht der grundlegende Formalismus fast nicht mehr vorkommt, sind klassische Epizentren wie Goethe und Schiller weiterhin Teil des Deutschunterrichts. Eine praxisbezogene Lobbykampagne, etwa nach dem Motto „Goethe ist was für Versager“, hat es nie gegeben. Was im Mathematikunterricht stattgefunden hat, ist nur oberflächlich betrachtet eine Hinwendung zu mehr Praxisbezug. Viel wichtiger ist, dass der mathematische Formalismus durch Texte verdrängt wurde.

Hinter dieser Entwicklung steckt wohl kaum die profitgierige Industrie. Wahrscheinlicher erscheint die Hypothese eines bisher unbekannten, versteckten Kulturkampfes. Die Mathematik unterscheidet sich von allen anderen Fächern durch ihre inhärent abstrakten Inhalte. Sprachliche Vermittelbarkeit stößt hier an ihre Grenzen, die ohne mathematische Formalismen nicht überwunden werden können. Die Bildungspolitik wird jedoch vor allem von sprachbegabten Bürokraten gemacht, denen diese typische Eigenschaft der Mathematik wesensfremd ist. Sie haben daher den Trend initiiert zur Versprachlichung der Mathematik. Der Anwendungsbezug galt nur als Deckmäntelchen. Es ist sogar durchaus möglich, dass dieser Prozess im Wesentlichen unbewusst abgelaufen ist. Dennoch gibt es Indizien für diesen Kulturkampf. Beispielsweise erklärte der Kinderarzt und Buchautor Remo Largo vor Kurzem in einem Interview, seiner Ansicht nach könnten 30 bis 50 Prozent der Mathematikstunden gestrichen werden. Dinge wie die Mengenlehre hätten ihre Nachhaltigkeit nicht beweisen.

Wenn sich der Mathematikunterricht darauf beschränkt, nur die wenigen Themen zu unterrichten, die der durchschnittliche Erwachsene später einmal braucht, so wird die Chance vertan, die Schüler für wirkliche Mathematik zu begeistern. Jetzt schon gibt es Kollegien, die sich gegen die Teilnahme ihrer Schüler an Wettbewerben wie der Mathematik Olympiade aussprechen, weil das formale Rüstzeug fehlt. Der Preis des Verzichts auf mathematische Formalismen ist somit schon zu erkennen: die Entkernung der Schulmathematik.