"Ich habe keinen Supercomputer in meinem Kopf"

Ein autistischer Savant erklärt, wie sein Denken funktioniert - und was Normalbegabte davon lernen können

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Wissenschaftler rätseln seit langem über das Phänomen der sogenannten Savants. Diese weisen in einigen Bereichen übermenschlich erscheinende Fähigkeiten auf, scheitern aber meist bei ganz alltäglich erscheinenden Handlungen. Neue Einsichten liefert Daniel Tammet: Denn der Brite kann als einziger der partiell Hochbegabten über die Besonderheiten seines Denkens selbst Auskunft geben.

Für Daniel Tammet ist die Sache klar: "Savants sind keine Freaks, die vom Rest der Menschheit abgeschnitten sind. Das Denken der Savants ist eine extreme Form dessen, was jeder hat", sagte er dem Wissenschaftsmagazin New Scientist. Tammet ist ein sogenannter Savant (franz. Wissender) oder auch Inselbegabter. Er ist in einigen Bereichen hochbegabt, weist aber in anderen enorme Defizite auf, vor allem bei zwischenmenschlichen Handlungen. So kann Tammet einerseits mehr als 22.000 Kommastellen der mathematischen Konstante Pi aus dem Gedächtnis aufsagen und lernte innerhalb einer Woche Isländisch. Andererseits merkt er sich Gesichter nur schlecht und weiß in einem Gespräch oft nicht, wann sein Gegenüber eine Reaktion von ihm erwartet, und welche.

Menschen wie Tammet stellen die Wissenschaft vor Rätsel: Wie können die Inselbegabten in einzelnen Bereichen so erstaunliche Denkleistungen vollbringen – und in anderen völlig versagen? Sind ihre Fähigkeiten angeboren oder erlernt? Stehen ihre Begabungen völlig jenseits der Kategorien des üblichen Denkens – oder stecken in jedem Menschen extreme Fähigkeiten, die bloß geweckt werden müssen?

Weltweit soll es derzeit etwa hundert Savants geben. Der wohl bekannteste ist der US-Amerikaner Kim Peek, der als reales Vorbild für die Rolle Dustin Hoffmans im Film Rain Man diente. Außer der Fähigkeit des Savant-typischen Kalenderrechnens und dem Interesse an historischen Daten und Telefonbucheinträgen weiß Peek den Inhalt Tausender Bücher auswendig – und das nach nur einmaligem Überfliegen der Buchseiten. Doch in seinem alltäglichen Leben wird er immer auf Hilfe angewiesen sein.

Entmenschlichende Vorstellungen

Wie Peek, dessen Gehirnhälften kaum miteinander verbunden sind, weisen Menschen mit Savant-Syndrom häufig deutliche Hirnanomalien oder schwere Hirnschäden auf. Etwa die Hälfte von ihnen leidet unter Autismus, so auch Tammet. Die Inselbegabten leben im Allgemeinen in ihrer eigenen, inneren Welt. Denn da sie häufig eine körperliche und/oder geistige Behinderung haben, können keine Auskunft darüber geben, wie sie ihre außergewöhnlichen Leistungen vollbringen – mit einer Ausnahme: Daniel Tammet.

Der Brite, der Ende Januar 30 Jahre alt wird, leidet nach eigenem Bekunden nur unter einer leichten Form von Autismus, dem Asperger-Syndrom. Da Tammet acht Geschwister hat, konnte und musste er zudem seine kommunikativen Fähigkeiten in einem für Autisten sonst nicht üblichen Maß trainieren, wie er in seinem autobiografischen Buch erläuterte, das 2008 auf deutsch unter dem Titel "Elf ist freundlich und Fünf ist laut" erschien. Im Gegensatz zu anderen Extrembegabten ist es ihm daher möglich, seine Denkweisen zu vermitteln – und gängigen Klischeevorstellungen entgegenzutreten.

Savants haben häufig eine verblüffende Merkfähigkeit und können die schwierigste Berechnungen scheinbar mühelos in kurzer Zeit im Kopf durchführen. In der Vergangenheit wurden sie daher häufig mit Computern verglichen. So wurde beispielsweise "Rain Man" Kim Peek aufgrund seines fotografischen Gedächtnisses und seiner Rechenkünste als "Kimputer" bezeichnet.

Doch die Analogie geht nicht auf – sagen Tammet und Darold Treffert, einer der bekanntesten Erforscher des Phänomens. Der Wissenschaftler von der Universität Wisconsin, der während seiner Laufbahn zahlreiche Inselbegabte kennengelernt und ihre Fähigkeiten untersucht hat, wendet sich gegen den "andauernden Mythos", diese könnten Informationen nur speichern und replizieren, jedoch selbst nicht kreativ damit umgehen.

"Zahlen sind meine Freunde"

Auch Tammet stellt sich enthumanisierenden Vorstellungen entgegen, nach denen die Gehirne der Savants entweder als bessere Maschinen angesehen oder Wunder von ihnen erwarten werden: "Ich habe keinen Supercomputer in meinem Kopf und auch nicht die Fähigkeit, die Lottogewinnzahlen der kommenden Woche vorherzusagen", stellt der 29-Jährige mit verhaltenem Spott im etwas selbstgestrickt wirkenden Promo-Video. für sein neues Buch Embracing the wide sky fest. In dem Buch, das dieser Tage in Großbritannien erschienen ist, untersucht Tammet anhand eigener Erfahrungen und aktueller Forschungen Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Denkens von Savants und anderen Menschen. Auszüge veröffentliche Tammet vorab in seinem Blog.

In seinen Büchern, aber auch in Interviews macht Tammet immer wieder deutlich, dass seine Fähigkeiten ganz im Gegenteil zur Computervorstellung das Resultat eines komplexen, stark assoziativen Denkens seien. "Ich habe abstrakte Informationen – beispielsweise Zahlen – immer in visueller, dynamischer Weise gedacht", berichtete Tammet dem Wissenschaftsmagazin Scientific American. Zahlen und Wörter sind für den Briten nicht einfach dürre schwarze Zahlengerippe und Buchstabenfolgen, sondern sie haben eigene Formen und Farben, sogar eigene Persönlichkeiten, wandeln sich, sind lebendig. "Zahlen sind meine Freunde... Jede ist einzigartig und hat ihre ganz eigene 'Persönlichkeit'. Elf ist freundlich und Fünf ist laut, während Vier still und schüchtern ist...", führte Tammet in seiner Autobiografie aus. Wenn er zähle, bildeten die Zahlen Bilder und Muster vor seinem inneren Auge.

Das mag abgehoben klingen, doch Tammets Anliegen ist es zu zeigen, dass die mentalen Vorgänge der Savants eben gerade nicht völlig außerhalb der Bahnen üblichen Denkens liegen, sondern nur eine extreme Variante davon darstellen – und dass jeder vom Denken der Savants lernen kann. Dieser Ansicht ist auch Allan Snyder.

Der Direktor des Centre for the Mind an der Universität von Syndey geht davon aus, dass Savant-Fähigkeiten in allen Menschen angelegt sind und die meisten sie nur niemals erschließen. Wie auch andere Wissenschaftler nimmt Snyder an, dass die Extrembegabten einen besseren Zugang zu ungefilterten Daten in ihrem Gehirn haben. Den Grund dafür sieht er in einer Besonderheit der Gehirnfunktionen: Snyder vermutet, dass in den Gehirnen der Savants bestimmte höhere kortikale Funktionen quasi ausgeschaltet sind, die normalerweise dafür sorgen, dass Zusammenhänge hergestellt und Details darüber vernachlässigt werden.

Suchtartiges Training

Snyder sieht sich in seiner These durch Versuche am lebenden Objekt bestätigt: Der Forscher schaltete bei Freiwilligen mittels magnetischer Impulse vorübergehend bestimmte Areale des Gehirns aus. Das Ergebnis der Versuche war Synder zufolge, dass alle Versuchspersonen nach der Behandlung genauer zeichneten oder schwierige Kalkulationen besser durchführen konnten als zuvor.

Doch stellt sich die Frage, was besser ist: Daniel Tammet ist sich jedenfalls der Schwierigkeiten bewusst, die daraus erwachsen, wenn über der Wahrnehmung zahlreicher Details das Allgemeinbild verloren geht. So kann er selbst zwar sehr gut Korrektur lesen, hat aber gelegentlich Probleme, in Gesprächen die wesentliche Aussage zu erfassen. Aber auch er erkennt die hinderlichen Seiten der mentalen Filterfunktionen: Erwachsene tendierten dazu, in Begriffen zu denken, stellt Tammet in seinem Video fest. "Eine Folge davon ist, dass Lerninhalte durch diese Vorstellungen gefiltert werden und die Lernfähigkeit eingeschränkt wird."

Eine im Vergleich zur fehlenden Filterfunktion geradezu banal wirkende Ursache für die Besonderheiten des Savant-Denkens will Marc Thioux von der Universität Groningen ausgemacht haben: exzessives Training. Er ist überzeugt, dass den Savants ihre erstaunlichen Fähigkeiten nicht einfach zufliegen, sondern dass sie sie erst erwerben – durch ein großes Maß an Lernen und Üben. Der Forscher hat sich intensiv mit dem Phänomen der sogenannten Kalenderrechner auseinandergesetzt, die scheinbar mühelos unterschiedlichsten Daten in der Vergangenheit oder Zukunft Wochentage zuordnen können. Nach seinen Forschungen führt erst die geradezu suchtartige Beschäftigung mancher Savants mit Kalendern zu ihren besonderen Fähigkeiten. Wenn diese behindert werden – wie bei einem inselbegabten Mädchen, das er untersuchte -, blieben die Fähigkeiten hingegen unterentwickelt.

Im Kontinuum des menschlichen Denkens

Die Schlussfolgerungen des Wissenschaftlers aus Groningen werden zwar nicht von allen Forschern geteilt – Darold Treffert ist überzeugt, dass einige Savants tatsächlich "etwas wissen, das sie nie gelernt haben". Trotzdem stützen sie die Behauptung Tammets, dass Savant-Denken vielleicht nicht immer, aber doch häufig "innerhalb des natürlichen Kontinuums menschlichen Denkens" geschieht, wie er es im New Scientist ausdrückte.

Das gilt nach Tammets Studien auch für synästhetische Vorgänge, bei denen unterschiedliche Wahrnehmungbereiche aneinander gekoppelt sind, also Töne als Farben erlebt werden oder eben Zahlen als Persönlichkeiten. Diese mögen bei Savants besonders ausgeprägt sein, doch auch dem üblichen Denken seien sie keineswegs fremd, meint Tammet. So gebe es eine Art von latenter Sprachsynästhesie bei praktisch allen Menschen. Sprachforschungen hätten erwiesen, dass bestimmte Klänge eine aussagekräftige Beziehung zu den Dingen hätten, die sie beschrieben, erläuterte Tammet im Scientific American. "In vielen Sprachen wird der Vokalklang 'i' mit Kleinheit assoziiert..., während die Klänge 'a' oder 'o' mit Größe assoziiert werden...", sagte er weiter.

"Jeder Mensch besitzt ein immenses geistiges Potential und Instinkt für Sprache und Zahlen", schließt Tammet aus diesem und ähnlichen Beispielen. Und er ist überzeugt: "Wir können diese Intuitionen trainieren – vor allem in jungen Jahren, aber auch in späteren – und lernen, wie wir vorgefasste Ansichten darüber durchbrechen, wie man über Zahlen denken sollte oder wie Sprache funktioniert", sagte er dem New Scientist weiter. Dann würden die Menschen vielleicht nicht all das tun können, was er tue, aber sie würden sich mit Sprachen und Mathematik wohler fühlen – und mit dem Lernen an sich.