Mind the Gapp

Eine geharnischte Antwort auf Christian Gapps bildungspolitische Thesen zum Deutschunterricht nach PISA

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Christian Gapp beschäftigt sich in einem Text, der unter der unpassend-reißerischen Überschrift Goethe ist was für Versager erschien, u. a. mit der Förderung von Lesekompetenz und der Veränderung des Deutschunterrichts nach PISA. Im Folgenden soll gezeigt werden, warum Gapps Thesen unhaltbar sind.

I. Ein bildungspolitisches Zerrbild

Gapp glaubt, zwei unterschiedliche bildungspolitische Reaktionen auf PISA ausmachen zu können: Während in Mathematik und den Naturwissenschaften auf Anwendungsbezug gesetzt wurde, sollte - so Gapp - die Lesekompetenz im Fach Deutsch vor allem durch verstärktes "klassisches Lesen" gefördert werden.

Selbst bei wohlwollender Lesart fragt sich ein kritischer Rezipient an dieser Stelle, was genau der Begriff "klassisches Lesen" bedeuten mag. Handelt es sich beim klassischen Lesen um das Gegenteil von modernem Lesen? Und was genau sind die Charakteristika des klassischen Lesens? Leider führt Gapp für seine These, dass Leseförderung nach PISA verstärkt auf klassisches Lesen setzt, keine Belege an, die hier Klarheit bringen könnten. Die beiden o. g. unterschiedlichen bildungspolitischen Strategien (hie: Anwendungsbezug, dort: verstärktes klassisches Lesen) kontrastiert Gapp dann folgendermaßen:

Während konkreter Anwendungsbezug Schüler mit konkretem Nutzen für die technisierte Realität motivieren will, versucht die Lesestrategie genau das Gegenteil. Sie schottet von der hektischen, unübersichtlichen medialen Gegenwart weitgehend ab und behauptet, die Zukunft sei zu meistern durch Rückbesinnung auf vermeintliche kulturelle Kernfertigkeiten.

Diese Passage lässt zunächst einmal erahnen, was Gapp mit seinem Terminus "klassisches Lesen" wahrscheinlich meint: Goethe, Schiller und Heine lesen, "kulturelle Kernfertigkeiten" einüben, also: Klassisches lesen, nicht klassisches Lesen. Wenn diese Deutung korrekt ist, dann ergibt sich nach Gapp folgendes Szenario: Während man die Schüler(innen) in Mathematik und in den Naturwissenschaften durch einen konkreten Anwendungsbezug des Unterrichts auf die komplexe Welt außerhalb der Schule vorbereiten will, versucht man in Deutsch, den irritierenden medialen Alltag auszusperren und stattdessen z.B. Goethe und Schiller zu lesen, um dadurch die Lesekompetenz zu fördern.

Das ist natürlich ein absurdes Zerrbild der bildungspolitischen bzw. deutschdidaktischen Wirklichkeit und es ist bezeichnend, dass Gapp auch an dieser Stelle einschlägige Belege für seine heiklen Thesen schuldig bleibt. Zwar wird es fraglos Texte geben, in denen dafür argumentiert wird, den Deutschunterricht als "mediale Schutzzone" und Bollwerk wider die ach! so unübersichtliche Lebenswelt anzusehen, doch das sind bestenfalls realitätsferne und exotische Einzelmeinungen, die keineswegs die opinio communis innerhalb der Deutschdidaktik wiedergeben. Und es gibt selbstredend auch keine bildungspolitischen Direktiven, die Deutschlehrer(innen) dazu verpflichten würden, in der von Gapp beschriebenen Weise zu handeln und die Schüler(innen) von der medialen Welt abzuschotten.1 Mit anderen Worten: Die bildungspolitische Strategie des "klassischen Lesens", die hier so vehement kritisiert wird, ist ein hanebüchenes Hirngespinst und Gapp kämpft gegen argumentative Windmühlen.

Dabei genügt bereits ein flüchtiger Blick in die aktuelle deutschdidaktische Literatur, um zu erkennen, welchen Stellenwert gerade Fragen der Integration alter und neuer Medien in den Deutschunterricht besitzen.2 Und dass sich insbesondere Publikationen zur Lesekompetenz und zur Leseförderung sehr ausgiebig mit den Veränderungen des Lesens und Schreibens im Zeitalter der Medialisierung beschäftigen3, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass Gapp völlig falsch liegt, wenn er glaubt, nach PISA versuche man im Deutschunterricht vor allem durch verstärktes "klassisches Lesen" Leseförderung zu betreiben. Insbesondere Computer und Internet gelten mittlerweile als "natürliche Verbündete des Deutschunterrichts bzw. einer zeitgemäßen, der Mediensozialisation von Kindern und Jugendlichen entsprechenden Form der Lese- und Sprachförderung"4, die auch für die PISA-Problemgruppe der Jungen enorme Potenziale birgt.

Dass Gapp die aktuellen Debatten um die Leseförderung nach PISA nicht einmal ansatzweise zur Kenntnis genommen hat und dennoch die Chuzpe besitzt, sich mit großem bildungspolitischen Gestus zu äußern, beweist sein mahnender Hinweis, dass es an der Zeit sei, "grundsätzlich zu erörtern, mit welchen Methoden die Lesekompetenz deutlich verbessert werden könnte." Das wirkt angesichts der verfügbaren Literatur und empirisch erprobten Konzepte nachgerade komisch.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass bislang nur gezeigt wurde, dass Gapps These, Leseförderung werde im Deutschunterricht medienfeindlich als "klassisches Lesen" inszeniert, unhaltbar ist und dass es inzwischen zahlreiche Konzepte einer "medienfreundlichen" Förderung der Lesekompetenz gibt. Doch das Vorliegen theoretischer Konzepte sagt natürlich noch nichts über die konkrete Unterrichtspraxis aus. Bedauerlicherweise fristet beispielsweise das Internet, das im privaten Bereich sowohl von Lehrer(inne)n als auch von Schüler(inne)n inzwischen ganz selbstverständlich genutzt wird, in der bundesdeutschen Unterrichtspraxis immer noch eine Randexistenz, was auch darauf zurückzuführen ist, dass die technische Ausstattung an den Schulen häufig skandalös schlecht ist. 5

II. Deutschunterricht im Zeichen der Output-Orientierung

Gapps (syntaktisch inkorrekte) Leitfrage "Warum wird von den Schulfächern Mathematik und den Naturwissenschaften Anwendungsbezug verlangt, nicht jedoch vom Deutschunterricht?" wird von ihm auf höchst sonderbare Weise beantwortet: Er schaut zunächst in ein aktuelles Lehrbuch und stellt - welch Überraschung! - fest, dass "im Deutschunterricht immer schon Themen aus dem Alltag bearbeitet wurden", dass es also immer schon einen Anwendungsbezug gab. Das hält er dann für "eine mögliche Antwort auf die [...] Frage, warum nach PISA 2000 vom Deutschunterricht kein Anwendungsbezug verlangt wurde".

Nimmt man Gapp beim Wort, dann laufen seine Behauptungen auf die These hinaus, dass vom Deutschunterricht kein Anwendungsbezug verlangt wird, weil Deutschunterricht einen Anwendungsbezug hat. Das ist jedoch offensichtlich unsinnig. Man darf Gapp hier also nicht wörtlich verstehen. Möglicherweise meint er, dass man nach PISA keinen verstärkten oder besonders betonten Anwendungsbezug vom Deutschunterricht verlangte, weil der bestehende ausreichend erschien.

Gapps These, dass sich nach PISA 2000 im Deutschunterricht "praktisch nichts geändert hat" ist hingegen durch keine noch so wohlmeinende Lesart zu retten. In Wahrheit war der Deutschunterricht nach PISA 2000 in ganz besonderer Weise zu einer didaktischen und programmatischen Neuorientierung gezwungen. Kaspar H. Spinner sprach schon 2004 von aufkommenden didaktischen Denk- und Verhaltensstrukturen, "die von vielen Lehrerinnen und Lehrern bereits als eine massive Veränderung ihres Handelns im Unterricht und ihrer Einstellung gegenüber dem Lernprozess der Schülerinnen und Schüler empfunden werden."6

Geschuldet sind diese tiefgreifenden Veränderungen vor allem der Tatsache, dass sich der Deutschunterricht nach PISA zunehmend an Bildungsstandards zu orientieren hat und immer stärker auf die empirische sowie möglichst objektive Überprüfbarkeit des "Outputs" der Schüler(innen) zugeschnitten wird7:

Der Schüler wird im standardisierten Unterrichtsprozess zurechtgestutzt. Entfaltung von Individualität und das Ernstnehmen von Subjektivität werden - z. T. ohne dass man das will und sich dessen bewusst ist - durch Standardisierungsprozesse zurückgedrängt.

Natürlich braucht der Deutschunterricht den Anwendungsbezug, der sich vor allem durch Sachtexte unterschiedlichster Art herstellen lässt. Doch "Lesen ist [...] auch Begegnung mit der Welt der Literatur, also mit einer ästhetischen Ausdrucksform."8 Und gerade dann, wenn es um das Verstehen literarischer Texte geht, wenn Geschmacksurteile, ästhetischer Genuss und Subjektivität gefragt sind, geraten die empirischen Messmethoden der Psychometriker sehr rasch an ihre Grenzen.9 Wenn also einerseits für den Deutschunterricht nur noch das bedeutsam ist, was empirisch und Output-orientiert gemessen, quantifiziert und verglichen werden kann, und wenn sich insbesondere die ästhetische Bildung, ästhetisches Genießen, das Lesen von Literatur etc. dieser empirischen Vereinnahmung widersetzen, dann besteht die Gefahr, dass ein Kernbereich des Deutschunterrichts mittelfristig an Bedeutung verliert.

Vor diesem Hintergrund, der hier nur grob skizziert werden kann, wird deutlich, wie weit Gapps Thesen an der bildungspolitischen und schulischen Realität vorbeigehen. Denn das wahre Problem besteht nicht darin, dass es - wie Gapp behauptet - im Deutschunterricht im Gegensatz z.B. zum Mathematikunterricht zu wenig Anwendungsbezug gibt und dass durch ein Zuviel an "klassischem Lesen" die mediale Lebenswelt der Schüler(innen) verdrängt wird. Die wahren Probleme - die Gapp nicht erkennt - bestehen u. a. in der schleichenden Standardisierung der Schüler und des Unterrichts, einem unreflektierten "teaching to the test" und darin, dass der ästhetischen Bildung - die in Gapps Text an keiner Stelle auch nur erwähnt wird - die Marginalisierung droht, wenn es keine Möglichkeit gibt, sie empirisch zu erfassen.

Literatur