Zeitungszeugen erscheint zensiert

Die dritte Ausgabe des Geschichtsprojekts "Zeitungszeugen" kostet statt 3,90 Euro nur einen, kommt dafür aber völlig ohne Faksimile-Ausgaben historischer Zeitungen

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Grund dafür ist eine Beschlagnahmeaktion, welche die bayerische Staatsregierung initiierte. Ob der Verlag die Reaktionen des Freistaats nicht bewusst provoziert habe, um damit Aufmerksamkeit zu erregen und so die Auflage zu steigern, war eine von drei Fragen, die bei einer gestern abgehaltenen Pressekonferenz in München zwei Stunden lang wieder und wieder in verschiedenen Formulierungen gestellt wurden. Dagegen sprechen jedoch nicht nur die Dementis der Chefredakteurin, des Verlegers und mehrerer Beirats-Wissenschaftler, sondern auch die Tatsache, dass das Projekt in acht anderen europäischen Ländern ohne entsprechende Aufmerksamkeitserregungsstrategien durchgezogen und in Deutschland mit einer großen, traditionellen Werbekampagne gestartet wurde.

Aus den Antworten des Zeitungszeugen-Teams ging hervor, dass es zwar mit der Möglichkeit einer zivilrechtlichen Klage rechnete, nicht aber mit einem Strafverfahren wegen "Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen in Tateinheit mit gewerbsmäßig unerlaubter Verwertung gemäß §§ 86a, 86 StGB, §§ 108 Abs. 1, 106 Abs. 1 UrhG" und einer groß angelegten Beschlagnahmeaktion. Die scheint deutliche größere Maßstäbe angenommen zu haben, als nach den zögerlichen Anfängen Ende letzter Woche zu vermuten war. Nicht nur bayern-, sondern bundesweit. Betroffen waren allerdings weniger Einzel- als Großhändler. Bei 80 bis 90 Prozent von ihnen tauchte nach Angaben des Verlegers Peter McGee mittlerweile die Polizei auf und beschlagnahmte die noch vorhandenen Hefte.

Zudem sollen auch in mehreren hundert Kiosken und Buchhandlungen Razzien durchgeführt worden sein. Darüber, wie viele Polizeibeamte durch diese Arbeit gebunden wurden, mochte man weder bei Dienststellen, noch bei Ministerien Auskunft geben. Pikant: Genau in der Woche, in der diese Beschlagnahmen stattfanden, beklagten alle Parteien im bayerischen Landtag die katastrophal schlechte personelle Ausstattung der Polizei, die zunehmend dazu führe, dass Gewalttaten nicht verhindert werden könnten beziehungsweise unaufgeklärt blieben.

Während die Nummer 2 von Zeitungszeugen (deren Besitz nicht strafbar ist) nach dem Verbotswirbel offenbar auch als Kapitalanlage gekauft wurde, dürfte sich die ohne historische Faksimile-Drucke ausgelieferte Nummer 3, die nach Angaben des Verlages nur deshalb produziert wurde, um die "Kontinuität" aufrechtzuerhalten, nicht nur nach dessen Erwartungen deutlich schlechter verkaufen, als die beiden ersten Nummern. Sie enthält statt der historischen Zeitungen einen Gutschein, mit dem Leser diese nach Beendigung des Rechtsstreits kostenlos erhalten sollen. Das Geschäft könnte sich für den Verlag allein deshalb lohnen, weil er auf diese Weise potentiell an weitaus mehr Adressdaten kommt, als über Abonnements. Für Leser ist es aus Datenschutzaspekten heraus weit weniger attraktiv: Eine möglicherweise nach britischem Recht handelbare Sammlung von Adressen einer fest umrissenen Zielgruppe historisch interessierter Deutscher könnte dem Albertas-Verlag nicht nur als Basis für neue Projekte dienen, sondern auch bei Verkäufen bares Geld wert sein.

Legales und kostenloses Leseerlebnis

Eigentlich hätte die Nummer 3 der Zeitungszeugen eine Ausgabe des FAZ-Vorläufers Frankfurter Zeitung vom 6. März 1933 und einer des von Joseph Goebbels herausgegebenen Angriff vom 24. März 1933 enthalten. Außerdem das KPD-Plakat "Ein deutscher Bauer". Übergreifendes Thema des Hefts wäre das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 gewesen, das, wie es auf dem mit einem großen, roten "zensiert" versehenem Titel heißt, "Ende der Demokratie".

Man kann sich das Leseerlebnis mit dem Mantel auch ohne die Beilagen ganz legal zusammenstellen, zum Beispiel in der Münchener Staatsbibliothek. Dort gibt es sowohl den Angriff als auch die Frankfurter Zeitung. Auch die in der beschlagnahmten Nummer 2 enthaltenen Zeitungen lassen sich hier ohne weiteres finden, vom Völkischen Beobachter über die im Ullstein-Verlag erschienene Vossische Zeitung bis hin zum sozialdemokratischen Vorwärts (mit dem Katalogzusatz "Sicherungsverfilmung im Auftrag des Vorstandes der SPD").

Interessant ist solch eine Zusammenstellung unter anderem als Korrektiv zur knoppisierten Aufbereitung der Selbstdarstellung des Nationalsozialismus, die ein deutlich anderes Bild als eine Direktschau in die Quellen liefert: Das fängt bei ganz trivialen Sachen an, wie etwa der, dass die Nationalsozialisten keineswegs ausschließlich die heute als Inbegriff dieser Ära geltende Frakturschrift verwendeten, sondern häufig auch schon vor dem Schrifterlass von 1941 die "modernere" lateinische. Und so ist in der Nummer 2 einzig der Titel des Völkischen Beobachters in lateinischer Schrift gesetzt, die des Vorwärts und der Vossischen Zeitung dagegen in Frakturschrift, wie heute noch bei der Frankfurter Allgemeinen. Auch der Eifer, mit dem nach dem Reichstagsbrand Pornographieverbotsverschärfungen und höhere Strafen für Propagandadelikte als "Durchgreifen" verkauft wurden, findet sich nicht unbedingt in den Geschichtsbüchern, ist aber gerade deshalb von aufklärerischem Wert. Und dass Hitler den Abgeordneten in einer Rede zum Ermächtigungsgesetz zusicherte, "nur bei lebensnotwendigen Maßnahmen [davon] Gebrauch zu machen", ist ein (im Mantel der Ausgabe 3 angesprochenes) "Detail", das die Zustimmung der Zentrumspartei, der Bayerischen Volkspartei und der liberalen Deutschen Staatspartei ein wenig besser erklärt, als dies in Feuilletonartikeln oder Fernsehserien meist der Fall ist.

Ebenfalls könnte den durchschnittlichen Leser überraschen, dass in der Reichstagsbrand-Ausgabe des Völkischen Beobachters dem Antikommunismus weit mehr Platz eingeräumt wird als dem Antisemitismus. Während Kommunisten Pläne zum massenhaften Anzünden von Bauernhöfen und Museen (sic!) sowie zur Erschießung von Geiseln als Signal zur Einleitung eines Umsturzes unterstellt werden, sind Vorwürfe gegen Juden eher im hinteren Teil der Artikel und der ganzen Zeitung zu finden und nehmen sich demgegenüber fast schon zurückhaltend aus: Man wolle keine jüdischen Vertrauensärzte, heißt es beispielsweise, weil man ihnen nicht trauen würde. Möglich ist, dass diese Zurückhaltung auch daraus resultiert, dass nationalsozialistische Zeitungen in den 1920er und frühen 1930er Jahren mehrfach verboten wurden – was freilich die Frage aufwirft, was eine Zensur bewirkte, welche zur möglichen Milderung der Worte bei der Machtergreifung führte, aber einen später folgenden Holocaust gerade nicht verhindern konnte.

Eine weitere, allerdings eher für die darauf folgenden Monate und Jahre greifende Erklärung bietet der Journalistikprofessor Horst Pöttker im Mantel von Heft 3: "Wer weiß schon […] dass die Goebbels'schen Presseanweisungen bis zum Kriegsbeginn häufig dazu dienten, außenpolitische Schwierigkeiten zu vermeiden, und dass den von Goebbels oft auch gebauchpinselten Journalisten in diesen ersten Jahren nur selten mehr Rassismus anempfohlen wurde […]." Noch weniger bekannt ist eine Praxis, die Gabriele Töpser-Ziegert ebenfalls in dieser Ausgabe schildert: Danach setzte der Propagandaminister den nicht hundertprozentig gleichgeschalteten FAZ-Vorläufer "als Vehikel für seine Informationspolitik ein, indem er Artikel in das Blatt lancierte, die er anschließend verbieten ließ, um die Aufmerksamkeit ausländischer Beobachter und Regierungen auf die darin enthaltene Thematik zu lenken."

Die Zensur spielt auch in den der zweiten Nummer der Zeitungszeugen beigelegten Zeitungen eine wichtige Rolle. Tatsächlich ist sie so präsent, dass man fast meinen könnte, die Redaktion hätte vor allem den Vorwärts auch deshalb ausgewählt, um dem bayerischen Finanzministerium ein kleines historisches Lehrstück über solche Maßnahmen vor Augen zu führen. Schade ist allerdings, dass im Mantelteil dieser Ausgabe nicht näher auf die Begründungen der aufgelisteten verbotenen Zeitungen eingegangen wird. Vielleicht hätte es auch die Staatsregierung interessiert, warum 1933 der Altöttinger Liebfrauenbote vier Wochen lang nicht erscheinen durfte.

Nicht zuletzt ist auch die Themengewichtung in den einzelnen Zeitungen durchaus interessant: Während sich der Völkische Beobachter ganz der Terror-Hysterie hingibt, ist in der Vossischen Zeitung viel über eine Bankenkrise und US-Staatsgelder zu lesen, was mit ein paar Änderungen und einigen zusätzlichen Nullen fast als aktuell durchgehen könnte. Der sozialdemokratische Vorwärts pflegte dagegen kurz vor seinem Verbot teilweise einen ähnlich beleidigt-empörten Tonfall, wie ihn der Leser heute aus manchen politischen Blogs kennt. Und dann gibt es noch die Artikel zu Themen, von denen heute kaum bekannt ist, dass sie damals welche waren: Etwa Luftabrüstungsverhandlungen und – die Höhe von Managergehältern.

Trotz Beschlagnahme: Alle Rechtsfragen offen

Obwohl das bayerische Finanzministerium Urheberrechte am Völkischen Beobachter und am Angriff beansprucht, ist bisher noch nicht einmal klar, von welchen Personen diese genau stammen sollen. Dazu schweigt die Staatsregierung nicht nur gegenüber der Presse, sondern auch gegenüber dem Albertas-Verlag. Und im Gegensatz zu Adolf Hitler, der ein Haus am Obersalzberg hatte, lässt sich beim Autor und Herausgeber Joseph Goebbels kein offensichtlicher Wohnortbezug zu Bayern erkennen – womit auch offen bleibt, wie die Staatsregierung durch die Artikel 15 des Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 sowie eine Direktive des alliierten Kontrollrats an seine Urheberrechte gekommen sein will. Ungeklärt ist bisher ebenfalls, ob lediglich Urheberrechte aus von Hauptbelasteten selbst verfassten Texten beansprucht werden, oder ob man der Herausgeberschaft von Joseph Goebbels eine Schöpfungshöhe zubilligen will, die bis zu 70 Jahre nach dem Tode währende Rechte generiert hat.

Dadurch, dass das Finanzministerium keine Namen nennt, lässt es offen, welche Urheberrechte von Autoren des Eher-Verlages seiner Ansicht nach bei ihm ruhen. Aus diesem Grund ist auch der verbreitete Glaube, dass der Verbotsspuk am 1. Januar 2016 ohnehin ein Ende habe, nicht unbedingt zutreffend: Geht man davon aus, dass im Jahre 1945 keiner der Autoren, der für die Publikationen schrieb, jünger als 15 war, und dass eine Lebensdauer von mehr als 110 Jahren so ungewöhnlich ist, dass sie biographisches Aufsehen erregt, so könnte das Bundesland Bayern solche Ansprüche ohne konkrete Namensnennungen noch bis ins Jahre 2110 geltend machen, bevor sie wahrscheinlich auch das letzte Gericht als "lebensfern" verwerfen müsste. Deshalb scheint es mittlerweile sogar möglich, dass das Finanzministerium dem Münchener Institut für Zeitgeschichte seine für 2016 geplante kommentierten Ausgabe von Hitlers Mein Kampf über angebliche "Ghostwriter"-Urheberrechte von Rudolf Hess und anderen später verstorbene Personen zu verbieten versucht.

In einem 12-seitigen Rechtsgutachten, das der Berliner Straf- und Urheberrechtsprofessor Bernd Heinrich für den Albertas-Verlag anfertigte und das gestern der Presse ausgehändigt wurde, werden all diese Fragen als "ungeklärt" ausgeklammert. Stattdessen konzentriert sich Heinrich auf die Zitierfreiheit für "ganze Werke" nach § 51 Satz 2 Nr. 1 des Urheberrechtsgesetzes, die auch im dem Falle greifen soll, dass die bayerische Staatsregierung tatsächlich eine lückenlose Rechtsübertragungskette nachweisen kann. Eine mögliche Schwachstelle in der urheberrechtlichen Argumentation des Verlages könnte sein, dass er sich praktisch ausschließlich auf die finanzielle Verwertungskonkurrenz konzentriert und meint, es sei "unvorstellbar", dass sich die bayerische Staatsregierung "auf die Urheberpersönlichkeitsrechte von Hitler oder Goebbels beruft […]." Genau das aber könnte die Absicht der Staatsregierung sein.

Hinsichtlich der Vorwürfe der Verbreitung von Propagandamaterial (§ 86 StGB) und der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB) geht Heinrich dagegen auf eine breitere Palette von Argumenten ein und macht nicht nur eine grundsätzliche Legalität "vorkonstitutioneller Schriften" geltend, sondern auch Ausnahmetatbestände wie die der Aufklärung und der Wissenschaftlichkeit. Die Vorwürfe könnten durch das 1956 erneuerte Parteiverbot nicht nur nationalsozialistische Zeitungen betreffen, sondern auch den Kämpfer (ein KPD-Organ, das der ersten Ausgabe beilag) oder das kommunistische Plakat zur Reichstagswahl am 5. März 1933, das in der aktuellen Ausgabe enthalten sein sollte. Hier wurden allerdings von der bayerischen Staatsregierung weder "geistige Eigentumsrechte" noch andere Verbotsvorbehalte geltend gemacht.