"Ein deutliches Zeichen der Ablehnung setzen"

Marius Reiser über die Entscheidung, seine Professur aus Protest gegen die Veränderungen der Universitäten durch den Bologna-Prozess niederzulegen

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Marius Reiser, seit 1991 Lehrstuhlinhaber für Neues Testament an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz, legt zum Ende des laufenden Semesters seine Professur nieder. Damit reagiert er auf die Veränderungen im Hochschulwesen in Folge des "Bologna-Prozesses", wie er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb.

Professor Reiser, was bewegt Sie dazu, Ihren Lehrstuhl zu räumen?

Marius Reiser: Ich bin nicht bereit, innerhalb des Systems mit dem Etikett "Bologna" zu arbeiten. Außerdem möchte ich mit meinem Schritt ein deutliches Zeichen der Ablehnung setzen.

Was war für Sie der konkrete Punkt, an dem Sie entschieden haben, Ihre Professur aufzugeben?

Marius Reiser: Meine Entscheidung hat eine längere Vorgeschichte. Ich war schon einmal nahe daran, diesen Schritt zu tun, habe ihn aber dann auf Zureden von Kollegen und weil ich mir selbst noch nicht ganz sicher war, zunächst unterlassen. Als ich aber sah, worauf alles hinausläuft und wie eine Absurdität zur anderen gefügt wurde, war für mich die Sache klar. Ab dem nächsten Semester müsste ich mich an einem modularisierten Studiengang beteiligen und das hat mit meinem Verständnis von Universität nichts mehr zu tun.

Sie kritisieren in Ihrem Artikel, dass die Bedürfnisse des "Geistes" nach Bildung keine Beachtung mehr fänden und an ihre Stelle eine materialistisch-utilitaristische Ausrichtung der Bildung getreten sei. Wie definieren Sie die Aufgabe der Universität?

Marius Reiser: Im 16. Jahrhundert wurde ein Professor für Altes Testament, Gaspar de Grajal (1530-1575), in Salamanca von der Inquisition verhaftet. Er erklärte den Richtern der Inquisition, was die Aufgabe der Universität sei, nämlich: "Das Gewisse vom Ungewissen zu scheiden und das Wahrscheinliche von dem, was keinerlei Wahrscheinlichkeit hat." Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, und diese hat sie auch heute noch. Ihr Ziel ist es, selbständig denkende, urteilende und handelnde Menschen heranzubilden. Übrigens wurde Gaspar de Grajal nach drei Jahren freigesprochen. Aber da war er schon tot.

Schon Friedrich Nietzsche forderte die Abschirmung einiger junger Menschen von der brauchbaren Durchschnittsbildung der Universitäten. Was halten Sie von der Idee, neben der Bildungsanstalt für die brauchbare Bildung eine andere für die "freie" Bildung zu gründen?

Marius Reiser: Wozu etwas neu gründen, was wir doch eigentlich schon haben? Natürlich muss es einige Universitäten geben, die wie bisher eine akademische Bildung und Ausbildung vermitteln. Aber viel einfacher wäre es doch, den bestehenden Universitäten die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die ihr heute für diese Aufgabe im Weg stehen. Das Haupthindernis sehe ich in der übergroßen Zahl von Studierenden, die angelockt werden. Wenn man 40 % eines Abiturientenjahrgangs an die Universitäten bringt, können diese ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen.

Stellen die Veränderungen, die in den letzten Jahren stattgefunden haben, nicht eine notwendige Anpassung an eine veränderte Lebenswelt dar?

Marius Reiser: Nein. Natürlich muss das Niveau einer akademischen Bildung sinken, wenn die Studierenden die nötigen Voraussetzungen nicht mehr mitbringen. Aber dann muss man das gesamte Schulsystem entsprechend reformieren. Diese Reform sollte aber so erfolgen, dass die Spitze des Schulsystems nicht gekappt, sondern erhalten bleibt.

Was können Sie den Neuerungen positiv abgewinnen?

Marius Reiser: Nichts. Alle sind sich einig, dass am alten System gewisse Reformen nötig gewesen wären, aber diese Reformen hätten ohne großen Aufwand jederzeit durchgeführt werden können.

Wenn die Unzufriedenheit mit den Reformen annähernd allumfassend ist, wie Sie schreiben, stellen sich zwei Fragen: Wer hat überhaupt Interesse an ihnen und wer ist für sie verantwortlich?

Soweit ich sehe, haben das Hauptinteresse Politik und Wirtschaft, die, wie es scheint, immer mehr eins werden. Diejenigen, die das neue System gewünscht und vorangetrieben haben, wissen aber entweder nicht, worin die Aufgabe einer Universität besteht, oder sie lehnen das, was man bisher unter akademischer Bildung verstanden hat, einfach ab.

Wenn sich die Veränderungen der Hochschullandschaft derartig negativ auswirken, warum ist der Widerstand – sowohl von studentischer Seite, als auch von den Lehrenden – gegen sie derart gering?

Marius Reiser: Professoren haben wenig Alternativen zu ihrem Beruf. Viele haben eine Familie zu versorgen. Und vielen fehlt die Phantasie, um sich richtig auszumalen, was das neue System tatsächlich mit sich bringt und welche Folgen es auch gesamtkulturell nach sich ziehen muss. Wer wird in dem neuen System noch viele Bücher kaufen wollen? Und wozu brauchen wir dann noch eine Universitätsbibliothek? Bei den Studierenden ist vermutlich der Leidensdruck noch nicht hoch genug.

Was müsste an der gegenwärtigen Situation geändert werden, um Sie davon zu überzeugen, Ihre Professur nicht aufzugeben?

Marius Reiser: Der Bologna-Prozeß müsste gestoppt werden. Statt dessen müssten mäßige Reformen des alten und bewährten Systems anvisiert werden.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?

Marius Reiser: Gemüse ziehen und forschen.