Da geht was

Das neue Bild der Migranten

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Meldungen über die Integration von Migranten waren in den letzten Jahren oft Schreckensmeldungen, die Integrationsbemühungen wurden als defizitär beschrieben. Zwar fand im letzten Jahrzehnt ein Umdenken dahingehend statt, dass Deutschland von vielen als Einwanderungsland akzeptiert wird (2005 gab das Statistische Bundesamt erstmals bekannt, dass jeder fünfte Bewohner der Bundesrepublik Deutschland einen Migrationshintergrund hat). Gleichwohl stimmen Politiker, Journalisten und Bürger immer wieder in den Chor der Entrüsteten ein und beschwören das Ende von Multikulti. Angela Merkel, Schriftsteller wie Ralph Giordano und Migranten selbst, unter ihnen die Autoren Bassam Tibi oder Seyran Ates, konnten es sich nicht verkneifen, immer wieder von gescheiterter Integration in Deutschland zu sprechen.

Ende Januar ist eine ethnografische Studie des bekannten Unternehmens Sinus Sociovision erschienen und hat auf vielbeachtete Weise mit Vorurteilen und Klischeezuschreibungen gegenüber Migranten und ihren Lebensweisen sowie ihren Integrationsbemühungen aufgeräumt.

Getragen von einem Auftraggebergremium aus Politik, Medien und Verbänden hat die Sinus Sociovision im Zeitraum von 2006 bis 2008 eine qualitative Leitstudie und eine Quantifizierung auf repräsentativer Basis zu den Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland durchgeführt. Die Ergebnisse demonstrieren ein durchaus facettenreiches Bild der Migranten-Population. Die "Ressourcen an kulturellem Kapital von Migranten", ihre "Anpassungsleistungen und der Stand ihrer Etablierung in der Mitte der Gesellschaft" würden meist unterschätzt, heißt es in der Sinus-Studie.

Milieu wichtiger als Herkunft - der Einfluss religiöser Traditionen wird meist überschätzt

Ein anderes zentrales Ergebnis lautet, dass die Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland keine "soziokulturell homogene Gruppe" sind. Vielmehr zeigt sich – wie in der Restbevölkerung auch – eine "vielfältige und differenzierte Milieulandschaft". Die Migranten-Milieus unterscheiden sich weniger nach ethnischer Herkunft und sozialer Lage als nach ihren Wertvorstellungen, Lebensstilen und ästhetischen Vorlieben. Dabei finden sich gemeinsame lebensweltliche Muster bei Migranten aus unterschiedlichen Herkunftskulturen - der Einfluss religiöser Traditionen wird meist überschätzt.

So zeigen drei Viertel der Befragten eine starke Aversion gegenüber fundamentalistischen Einstellungen und Gruppierungen jeder Couleur. 84 Prozent sind sogar der Meinung, Religion sei reine Privatsache. Insgesamt bezeichnen sich 56 Prozent der Befragten als Angehörige einer der großen christlichen Konfessionen, 22 Prozent als Muslime. Im Ergebnis wird deutlich: Menschen des gleichen Milieus mit unterschiedlichem Migrationshintergrund verbindet heute mehr miteinander als mit dem Rest ihrer Landsleute aus anderen Milieus, Faktoren wie ethnische Zugehörigkeit, Religion und Zuwanderungsgeschichte beeinflussen zwar die Alltagskultur, sind aber nicht milieuprägend und auf Dauer nicht identitätsstiftend.

Bereitschaft zur Leistung und der Wille zum gesellschaftlichen Aufstieg größer als in der autochthonen deutschen Bevölkerung

Eine weitere zentrale Erkenntnis der Studie ist, dass viele Migranten, insbesondere junge Frauen, einen entsprechend ausgeprägten "Bildungsoptimismus" haben. Die erfolgreiche Etablierung in der Aufnahmegesellschaft ist bildungsabhängig, das wissen heute auch viele Migranten. Je höher das Bildungsniveau und je urbaner die Herkunftsregion, desto leichter und besser gelingt Integration, lautet ein Resultat der Studie.

Allerdings mündet der Optimismus vieler Migranten aufgrund von strukturellen Hürden, Informationsdefiziten und Fehleinschätzungen nicht immer in adäquaten Abschlüssen und Berufspositionen. Gleichwohl ist die "Bereitschaft zur Leistung und der Wille zum gesellschaftlichen Aufstieg" größer als in der autochthonen deutschen Bevölkerung: Mehr als zwei Drittel zeigen ein modernes, individualisiertes Leistungsethos. 69 Prozent sind der Meinung, dass jeder, der sich anstrengt, sich auch hocharbeiten kann. In der Gesamtbevölkerung stimmen dieser Aussage nur 57 Prozent zu.

Ist das ein Fortschritt?

Ein ausgeprägter Bildungsoptimismus darf keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass Jugendliche ohne den deutschen Pass heute doppelt so häufig wie deutsche eine allgemeinbildende Schule verlassen, ohne zumindest den Hauptschulabschluss zu erreichen, Deutsche erwerben hingegen dreimal so häufig die Hochschulreife, so das Ergebnis des nationalen Bildungsberichts 2008. Und selbst wenn für den Übergang ins Erwerbsleben der Migrationsstatus offenbar heute kaum relevant ist, sofern ein Abschluss in Deutschland erworben wurde, befinden sich 60 Prozent aller ausländischen Jugendlichen heute im Übergangssystem, deutsche zu 40 Prozent.

Die Unterschiede haben sich im letzten Jahrzehnt vergrößert. Das Bildungssystem produziert zunehmend eine Kluft zwischen Auslese und Erwerbsbeteiligung: Die Arbeitslosenquote ist bei Menschen ohne den deutschen Pass heute mehr als doppelt so hoch wie unter Deutschen, daran ändert ein ausgeprägter Bildungsoptimismus herzlich wenig.

Drei Lager

Gleichwohl bringt die Sinus-Studie eine Menge Licht ins Dunkel im Migrationsdiskurs, bei dem in den letzten Jahren allzu oft Versäumnisse statt Errungenschaften unter Migrierenden diskutiert wurden. In der Diskussion um Integration hatten sich im Laufe der Jahre drei Lager herausgebildet: Ein erstes beschwört das Scheitern von Integration, Parallelgesellschaften hätten sich herauskristallisiert, archaisches Stammesrecht diktiere den Alltag in Problembezirken anstelle eines soziokulturellen Miteinanders. Migranten seien zudem selbst Schuld an der Misere - oder hätten zumindest große Teilschuld - da sie sich nicht integrieren mögen und darum auch schlechte Bildungsleistungen erzielen.

Ein zweites Lager wog sich hingegen in sozialromantischer Bequemlichkeit; Parallelgesellschaften seien normal und kämen in jeder Einwanderungsgesellschaft vor – so beispielsweise in den USA. Immigrationskolonien seien Anlaufstellen sozialer Solidarität und des sozialen Rückhalts und keine Ausstiegsorte der Migrierenden.

Ein drittes Lager, darunter viele Wissenschaftler, kritisierte wiederum die Einseitigkeit und Polarisierungstendenzen in den Diskursen und wog die Defizite von Migranten mit den Integrationsversäumnissen der Mehrheitsgesellschaft ab. Zu Recht fordert der Migrationsforscher Werner Schiffauer in seinem Buch "Parallelgesellschaften" einen "neuen Realismus" und spricht sich für eine "Kultur des genauen Hinsehens" aus.

Die meisten Migranten wollen sich aktiv einfügen

In der Studie von Sinus Sociovision wurden acht unterschiedliche Migranten-Milieus aufgrund von 100 mehrstündigen Tiefeninterviews und anschließenden 2.072 Befragungen untersucht. Zum ersten Mal wurden somit die Lebenswelten und Lebensstile von Menschen mit unterschiedlichem Migrationshintergrund, so wie sie sich durch das Leben in Deutschland entwickelt haben, mit dem gesellschaftswissenschaftlichen Ansatz der Sinus-Milieus beschrieben. Integrationsdefizite finden sich heute am ehesten in den "unterschichtigen Milieus", nicht anders als in der autochthonen deutschen Bevölkerung auch.

Die Barrieren gegenüber kultureller Anpassung sind wiederum am größten im religiös-verwurzelten Milieu. Die meisten Migranten verstehen sich jedoch als Angehörige der multi-ethnischen deutschen Gesellschaft und wollen sich aktiv einfügen – ohne ihre kulturellen Wurzeln zu vergessen. Und mehr als die Hälfte der Befragten zeigt einen "uneingeschränkten Integrationswillen". Nur in einem der acht Milieus spielt Religion eine "alltagsbestimmende Rolle" – als Rahmen eines rural-traditionellen, von autoritärem Familismus geprägten Wertesystems.

Die Ergebnisse der Sinus-Studie verdeutlichen, dass es in Deutschland mittlerweile möglich ist, ein differenziertes Bild über Migrierte und Integration in Deutschland zu zeichnen sowie positive Entwicklungen wie Problemlagen gleichermaßen zu diskutieren. In den Debatten der letzten Jahren ging es häufig nur um die Integration von muslimischen und türkischstämmigen Migranten und deren Probleme in der Aufnahmegesellschaft. Die Studie erlaubt dann auch Aussagen auf gesicherter repräsentativer Basis über den Migrationshintergrund der in Deutschland lebenden Zuwanderer (Ausländer und Eingebürgerte).

Die größte Migranten-Gruppe ist heute die aus der Ex-Sowjetunion mit 21 Prozent, danach rangieren die Türkischstämmigen mit 19 Prozent, aus Südeuropa (Italien, Spanien, Portugal, Griechenland) stammen 12 Prozent, aus Polen 11 Prozent, aus Ex-Jugoslawien 10 Prozent. Und wenngleich Studien immer wieder auf die schlechten Bildungsabschlüsse gerade von türkischen/türkischstämmigen Jugendlichen aufmerksam machen und auch die Studie von Sinus Sociovision zu dem Schluss kommt, dass im religiösverwurzelten Milieu Muslime und entsprechend Menschen mit türkischem Migrationshintergrund deutlich überrepräsentiert sind, findet sich heute ein "breites ethnisches und konfessionelles Spektrum in allen anderen Milieus" (93 Prozent der Grundgesamtheit).

In Deutschland segregieren nicht Ethnien, sondern die sozialen Milieus

Ist Integration in Deutschland gescheitert? Häufig wurde in den letzten Jahren die These vertreten, in Deutschland entstünden Parallelgesellschaften. Nach sozialräumlichen Gesichtspunkten beurteilt sind ethnische Minderheiten in den deutschen Städten im Vergleich zu amerikanischen Städten oder den Banlieues in Frankreich kaum segregiert.

Der Berliner Stadtsoziologe Hartmut Häußermann macht auf diesen Umstand immer wieder aufmerksam. In Deutschland segregieren nicht Ethnien, sondern die sozialen Milieus. Auch sind die Fortschritte in puncto Integration abhängig von Bildung, Beruf und Einkommen, kaum vom Wohnort. Studien zeigten, dass eine ethnische Durchmischung von Quartieren nicht gleich gelungene Integration bedeutet. Erst wenn Integration in Ansätzen gelungen ist oder Integration von der Aufnahmegesellschaft befürwortet wird, können Fortschritte erzielt und Barrieren abgebaut werden.

Das bedeutet Anforderungen an eine ganze Gesellschaft, an die autochthone Mehrheitsbevölkerung wie an die Migranten. So wie viele Bürger den Migranten einen mangelnden Integrationswillen bescheinigen, fühlen sich viele Migranten noch immer nicht als Teil der Mehrheitsgesellschaft, selbst wenn sie es sein wollen. Das bringt auch die Sinus Sociovision-Studie zum Ausdruck.

Einerseits verstehen sich die meisten Migranten als Angehörige der multiethnischen deutschen Gesellschaft und 87 Prozent der Menschen mit türkischem Migrationshintergrund sagen, dass es alles in allem richtig war, dass sie und ihre Familie nach Deutschland gekommen sind. Andererseits beklagen viele, quer durch die Migrantenmilieus, die mangelnde Integrationsbereitschaft der Mehrheitsgesellschaft und das geringe Interesse an den Eingewanderten: Etwa ein Viertel der befragten Menschen mit Migrationshintergrund fühlt sich der Sinus Sociovision-Studie zufolge "isoliert und ausgegrenzt" – erwartungsgemäß vor allem die Angehörigen der unterschichtigen Milieus.

Fördern und Fordern

Was müssen Migranten im Gegenzug leisten? Gerade in den letzten Jahren hat sich die Debatte um Integration dahingehend verlagert, dass Fördern mit Fordern gleichgesetzt wird. Die Voraussetzungen zum deutschen Passerwerb sind zwar einerseits erleichtert worden – neben der Option, seit der Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts 1999/2000 per Geburt als Kind ausländischer Eltern den deutschen Pass zu bekommen, genügen heute in der Regel acht statt einst 15 Jahre als Bedingung zum Einbürgerungsanspruch. Andererseits werden heute vermehrt Leistungen (Sprache und Wissen) abverlangt, damit es überhaupt zur Einbürgerung kommt.

Der Jurist Thomas Groß von der Universität Gießen behält Recht, wenn er im Migrationsreport 2006 schreibt, dass die Niederlassungserlaubnis heute "eine Art Belohnung" für bereits erfolgreiche berufliche und soziale Integration ist. Ein wesentlicher Integrationsfaktor ist die Beherrschung der deutschen Sprache – das stellt nicht nur der Soziologe Hartmut Esser in seinem Buch "Sprache und Integration" fest, so sehen es auch die allermeisten Migranten in der Sinus Sociovision-Studie. 85 Prozent sagen, dass man ohne die deutsche Sprache als Zuwanderer in Deutschland keinen Erfolg haben kann. 68 Prozent der Befragten schätzen ihre deutschen Sprachkenntnisse zudem als sehr gut oder gut ein.

Das sind gute Nachrichten. Gleichwohl untermauert die überproportional hohe Bereitschaft zur Leistung und der Wille zum gesellschaftlichen Aufstieg der Migranten in der Sinus Sociovision-Studie, dass der Diskurs um Integration als Leistungspaket bei den Migranten Wirkung zeigt. Das mag man beklatschen oder kritisch hinterfragen. Warum ist das so? Auf Ausgrenzungserfahrung und Bildungsbenachteiligung folgt nicht unmittelbarer Rückzug, der überproportionale Wille zum gesellschaftlichen Aufstieg kann auch als Anpassungsleistung an die gesetzten und erhöhten Standards für Migranten gewertet werden.