Geschockt über das Ausmaß der Schäden durch exzessive Antiterrormaßnahmen

Der Bericht der "International Commission of Jurists" nimmt den siebenjährigen Kampf gegen den Terror in vierzig Ländern genauer unter die Lupe

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Die Angst zu Zeiten der Finanzkrise sieht anders aus als 2002. Mit der neuen Angst entsteht auch Distanz zu jener, die gerade nicht im Vordergrund steht. Der Blick auf die Angst vor Terroranschlägen ist ein anderer als noch vor ein paar Jahren. Doch die Gesetze, die in der Folge der Anschläge des 11.September 2001 weltweit in Kraft gesetzt wurden, sind geblieben.

Wie nützlich die Angst vor dem Terroranschlag beim Stricken aller möglichen Gesetzesvorhaben und Präventionsmaßnahmen war und mit welch' leichter Hand sie in die Verlautbarungen und Begründungen eingeflochten wurde, läßt sich an einem aktuellen, relativ harmlosen Fall veranschaulichen: Im Sommer 2007 kündigt die französische Innenministerin Michèle Alliot-Marie an, dass sie die Videoüberwachung ausbauen will. Dies sei angesichts terroristischer Risiken, mit denen man zu rechnen habe, "unerläßlich".

Gestern erklärte Alliot-Marie in einem Gespräch mit der französischen Tageszeitung France Soir, dass die lange angekündigte Verdreifachung der Videokameras auf den französischen Straßen von 20.000 auf 60.000 unmittelbar bevorstehe. Ein Begründungszusammenhang mit „terroristischen Risiken“ war aber nicht mehr nötig. (Die Aufmerksamkeit der Ministerin lag jetzt auf der inneren Sicherheit und ihre Gefährdung durch die sozialen Brennpunkte, z.B. Banlieues, im Lande. Man könnte nun trefflich über mögliche Zusammenhänge mit der Rede der französischen Wirtschaftsministerin spekulieren, die vor wenigen Wochen von sozialen Unruhen als Folge der Wirtschaftskrise gesprochen hatte).

Die Verstärkung der Videoüberwachung ist freilich nur ein kleiner Ausschnitt jener Maßnahmen und Gesetze, die die Überwachung in den letzten Jahren insgesamt auf ein zuvor nie dagewesenes Niveau ausgebaut haben, und auch die Überwachungssysteme sind nur Teil jenes Komplexes an Gesetzen, Richtlinien und Vorgehensweisen, die als Folge von 9/11 in Ländern weltweit im Namen der Sicherheit und des Kampfes gegen den Terror zu umfassenden Veränderungen geführt haben. Diesen Komplex haben namhafte Juristen im Auftrag der Organisation International Commission of Jurists in dreijähriger Arbeit genauer unter die Lupe genommen.

In ihrem gestern veröffentlichten Bericht über Antiterrormaßnahmen und Menschenrechte in vierzig Ländern weltweit kommen sie zu bemerkenswerten Ergebnissen und dem dringlichen Rat an die Regierungen, die Menschenrechte möglichst bald wieder zu rehabilitieren, um den Terrorismus nachhaltig zu bekämpfen.

Der kumulative Effekt aller Antiterrormaßnahmen, die von den Staaten weltweit seit einigen Jahren in Gang gesetzt wurden, gefährde die in jahrzehntelangen Mühen im letzten Jahrhundert errichtete legale Ordnung, die auf dem Respekt von Menschenrechten beruht, erheblich, postuliert die Studie der Juristen. Arthur Chaskelson, der frühere Präsident des Verfassungsgerichts in Südafrika, und Chef des Panels:

Wir waren im Laufe der Untersuchung geschockt über das Ausmaß der Schäden, die in den letzten sieben Jahren durch exzessive oder missbräuchliche Antiterrormaßnahmen in großen Teilen der Welt angerichtet wurden.

Es sei dringend geboten, diese Schäden bald möglich zu reparieren und die erlassenen Antiterrorgesetzgebungen und Praktiken einer Revision zu unterziehen. Ansonsten biete man dem Terror, den man eigentlich bekämpft, neuen Nährboden. Zumal, wie die Studie betont, nach der Expertise der Juristen die Gesetze, die in den Ländern vor 2001 bestanden, vollkommen gereicht hätten, um effektive Anti-Terrormaßnahmen in Gang zu setzen. Besonders bedenklich findet die Studie die Politik der Regierungen in den USA und Großbritanniens, die den Geheimdiensten eine führende Rolle im Antiterrorkampf zugewiesen haben, ohne dass sich diese vor Gesetz und Richtern ausreichend verantworten mussten.

Daraus resultierende Folgen – etwa gewaltsame Entführungen und Folter von Gefangenen, deren Beteiligung an terroristischen Handlungen oft genug nur mutmaßlich war - sind eklatante Menschenrechtsverletzungen, die nicht hingenommen werden dürfen. Ebensowenig die Tendenz in Geheimdiensten, mit gefälschten oder fehlerhaften Informationen zu arbeiten. Angeprangert wird auch die „Kriegserklärung“ an den Terrorismus. Mit der Verlagerung der Antiterror-Aktionen auf das Feld des Krieges habe man den Staaten viele Möglichkeiten zu schon a priori entschuldigten Menschenrechtsverletzungen verschafft. Nicht wenige Staaten haben unter dem Deckmantel des Kriegs gegen den Terror Gesetze erlassen, die dazu genutzt wurden, um andere Ziele zu erreichen. Hervorgehoben wird von den Juristen in diesem Zusammenhang die Rolle des Strafrechts, das als „erstes Vehikel genutzt wird, um sich gegen Terrorismus zu wenden“.

Verblüfft hat die Juristen, dass die verantwortlichen Regierungen die langfristigen Kosten von Praktiken, die gegen Menschenrechtsbestimmungen verstoßen, nicht im Blick hatten. Dass man nur kurzfristige Perspektiven verfolgt hat und nicht darauf achten wollte, welche längerfristigen Konsequenzen dies für Gesellschaften hat, wenn Menschenrechtsverletzungen und die Aushebelung von anderen Gesetzen toleriert werden.

Als besonders erstaunlich verzeichnen die Studienverfasser die Bebachtung, dass Staaten ein kurzes Gedächtnis haben und die Lektionen sogar ihrer jüngsten Vergangenheit rasch vergessen zu haben scheinen. Als Beispiel werden hier südamerikanische Länder genannt, das Phänomen dürfte aber global verbreitet sein. Das beunruhigendste Fazit des Berichts:

Außerordentliche Maßnahmen, die gegen den Terrorismus gerichtet sind (zum Beispiel ein verstärktes Vertrauen auf geheime Informationen, denen sehr schwer entgegnet werden kann), sickern bereits in den Normalbetrieb des Staates und das alltägliche Justizsystem ein. Mit langfristigen Konsquenzen für den Rechtsstaat und die Achtung vor Menschenrechten.