"Gegen das teure Leben"

Der Generalstreik im französischen Guadeloupe eskaliert

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Die administrativ zu Frankreich gehörende Antilleninsel Guadeloupe, auf der seit dem 20. Januar 2009 ein massiv befolgter Generalstreik stattfindet, hat ihren ersten Toten zu beklagen. Am späten Mittwoch Vormittag nach mitteleuropäischer Zeit (gegen 8 Uhr Ortszeit) wurde der Tod des Gewerkschafters Jacques Bino vermeldet. Der circa 50jährige war gewerkschaftlicher Vertrauensmann und ein Aktivist des Netzwerks "Liyannaj Kont pwofitasyon" (LKP).

Dieses Netzwerk, dessen Name auf Kreolisch so viel wie „Kollektiv gegen Ausbeutung“ bedeutet - im Hochfranzösischen ergäbe er in etwa „Ensemble contre l’exploitation“ - setzt sich aus einem Geflecht von Gewerkschaften, kulturellen Vereinigungen wie etwa karibikfranzösischen Karnevalsgruppen, Stadtteilgruppen und ähnlichen Initiativen zusammen. Es animiert seit nunmehr bald vier Wochen den massenhaft befolgten Generalstreik auf der Insel, der sich hauptsächlich „contre la vie chère“, also „gegen das teure Leben“ richtet. Der Protest wird so mit einem Ausdruck bezeichnet, der im vergangenen Jahr 2008 in drei Dutzend französischsprachiger - vor allem afrikanischer - Länder zur Benennung von Brotrevolten und sozialen Protesten benutzt wurde.

Neben den Schwierigkeiten, unter den völlig überteuerten Lebensverhältnissen in den französischen „Überseebezirken“ (DOM, départements d’outre-mer) wie Guadeloupe seine Grundbedürfnisse zu befriedigen, gehört aber auch der Protest gegen die rassistischen, postkolonialen Gesellschaftsstrukturen auf den Antillen zum Kerninhalt der Bewegung. Getragen wird sie u.a. auch durch Gewerkschaftsstrukturen, insbesondere durch die UGTG (Union générale des travailleurs guadeloupéens), die gleichzeitig die Mehrheitsgewerkschaft auf der Insel darstellt - 52 % der Stimmen bei den Arbeitsgerichtswahlen vom 3. Dezember 2008 - und zu den Kräften zählt, die für eine politische Unabhängigkeit von Guadeloupe gegenüber Frankreich eintreten. Auch die CGT-Guadeloupe und die Ableger anderer französischer Gewerkschaftsverbände unterstützen den Massenprotest.

Jacques Bino: Opfer von Hitzköpfen - oder der Eskalation durch die Staatsmacht?

Zur Stunde ist noch unklar, wer Jacques Bino getötet hat. Bislang sieht es nicht so aus, als ob er der polizeilichen Repression, die seit Montag und seit der Räumung der zu Wochenanfang überall errichteten Straßensperren stark zunimmt, unmittelbar zum Opfer gefallen sei. Die Präfektur (juristische Vertretung des Zentralstaats) in der Inselhauptstadt Pointe-à-Pitre, die am Mittwoch früh auf allen Kanälen kommunizierte, weist jegliche Verantwortung der staatlichen „Sicherheitskräfte“ von sich. Jacques Bino sei durch Schüsse, die „von einer durch Jugendliche gehaltenen Barrikade ausgingen“, getötet worden, hieß es von ihrer Seite dazu.

Näheres präzisierte der Generalsekretär der Präfektur, Hubert Vernet: „Er wollte vor einer Barrikade umdrehen, und dabei wurde er geschlagen und es wurde seitens von Jugendlichen, die die Barrikade hielten, auf ihn geschossen“. Ob diese Version mit den Prügeln und den Schüssen so zutreffen kann, muss zur Stunde dahingestellt bleiben - denn aus quasi allen anderen Berichten geht hervor, er habe sich in einem Auto befunden, auf das von weiter weg geschossen worden sei. Der Präfekt selbst, Nicolas Desforges, behauptete seinerseits, drei Polizisten hätten den Feuerwehrleuten, die sich um den Verletzten kümmerten, helfen wollen und seien dabei ihrerseits beschossen worden.

Aus anderen Quellen geht hervor, dass Bino sich an Bord eines Autos befunden hatte und von einer Gewerkschaftsveranstaltung zurückkam. Sein Tod ereignete sich demnach in der Cité Henri IV, einem „sozialen Brennpunktviertel“ im Stadtbezirk Chanzy in der Inselhauptstadt Pointe-à-Pitre. Indirekt lässt sich den Berichten entnehmen, dass Bino am Steuer saß, da präzisiert wird, dass „sein Beifahrer bis zur Stunde unter Schock steht“.

Die französische Innenministerin Michèle Allio-Marie formuliert in ihrer Bewertung bislang vorsichtiger als die Präfektur vor Ort. Am späten Mittwoch Vormittag sprach sie in der Möglichkeitsform, als es um die Todesumstände von Jacques Bino ging:

Polizeibeamte sind verletzt worden, nachdem die Leute einen Schuss vernommen hatten. Sie konnten (deswegen) nicht näher an den Ort herankommen (…). Zwei Stunden später wurde ein Mann erschossen in seinem Auto aufgefunden, mit einem Verletzten an seiner Seite, und der anscheinend präzisiert hat, dass es Schüsse von der Straßensperre/Barrikade gegeben habe. Und die Person in dem Auto ist wahrscheinlich auf diese Weise getötet worden.

Bis zum Vorliegen von Ergebnissen einer näheren Untersuchung existieren bis zur Stunde nur diese Angaben von behördlicher Seite zum Ablauf des Vorfalls. Gleichzeitig lässt sich zumindest festhalten, dass zwar nicht die Verantwortung für die Schüsse, wohl die politische Verantwortung für die Eskalation - welche die Wut der frustrierten Jugend in den Ghettovierteln der Insel auf scheinbar ziemlich unkontrollierte Weise hat explodieren lassen - durch das LKP bei den Behörden ausgemacht wird.

Überseeminister entsetzt

Die Räumung der seit Montag zur Unterstützung des Generalstreiks vielerorts errichteten Straßensperren, die Ersetzung von (teilweise schwarzen und gegenüber den Streikenden eher gutmütigen) Inselpolizisten durch aus der „Metropole“ zusammengezogene - rein weiße, und ortsfremde - Gendarmeriekräfte und die am Montag bekannt gewordenen rassistischen Beschimpfungen haben zu einer beträchtlichen Eskalation geführt. Der LKP-Sprecher Elie Domota erklärte deshalb noch am Mittwoch Vormittag, die politische Verantwortung für die stattgefundene Eskalation liege beim Inselpräfekten und beim Pariser Überseeminister Yves Jégo.

Letzterer hatte in den letzten Wochen zuerst mit Vertretern der Protestbewegung verhandelt, war aber dann am vorletzten Montag - vor zehn Tagen - überstürzt und ohne Vorwarnung nach Paris abgereist. Dort hatte sein Chef, Premierminister François Fillon, ihm einen Rüffel dafür erteilt, dass er bei den Zugeständnissen schon zu weit gegangen sei. Jégo war anscheinend vom Verhalten führender Repräsentanten der Béké - einer weißen Gutsbesitzerkaste, die aus Nachfahren der früheren Sklavenhalter (bis 1848) besteht und bspw. auf der Insel Martinique unter ein Prozent der Bevölkerung stellt, aber 52 Prozent des Bodens besitzt - wirklich entsetzt. Er hatte jedenfalls öffentlich ein „archaisches (altertümliches) Arbeitgeberlager“ auf den Inseln kritisiert.

Hauptforderung der Streikenden: Erhöhung aller Niedriglöhne auf den Inseln um 200 Euro

Bei der Hauptforderung der Streikenden, einer Erhöhung aller Niedriglöhne auf den Inseln um 200 Euro, durfte Jégo aber auf keinen Fall nachgeben, wie ihm aus Paris beschieden wurde. Sogar viele Vertreter des örtlichen Arbeitgeberlagers auf den Inseln hatten sich zuletzt - unter dem massiven Druck der Protestbewegung - bereit gezeigt, die 200 Euro Erhöhung zu akzeptieren, falls ihnen stattdessen ihrerseits Erleichterungen durch Steuer- oder Abgabenerlässe zugestanden würden. Aber von der Pariser Regierung kam ein kategorisches Nein: Man möge sich „nicht in die Angelegenheiten der Sozialpartner einmischen“, verlautbarte vom Amtssitz des Premierministers.

Präsident Nicolas Sarkozy spielt unterdessen auf Zeit: Er schlug Anfang der Woche zwar nicht Lohnerhöhungen oder bessere Lebensbedingungen vor, aber eine institutionelle Antwort in Gestalt eines „ständigen interministeriellen - also die ministerialen Ressorts übergreifenden - Rats für die Überseegebiete“. In diesem Gremium solle künftig ständig über die Situation in den Überseedépartements diskutiert werden. Laut Einschätzung des sozialliberalen Wochenmagazins ‚Nouvel Observateur’ wollte Sarkozy damit jedoch nur „auf Zeit spielen“.

Sarkozy wird ferner auf den Inseln vorgeworfen, dass er die Situation auf Guadeloupe und in La Martinique mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt hat, als er am 5. Februar über neunzig Minuten lang vor rund 15 Millionen Fernsehzuschauern zur Wirtschafts- und Sozialpolitik der Nation sprach. Als ob die Inseln nicht zur französischen Nation gehört, welche die Souveränität über sie beansprucht. Die Akteure des Protests fühlen sich „verschaukelt“. Auch dadurch, dass die öffentlich-rechtlichen Medien vor Ort - also konkret vor allem der „Überseh“fernsehkanal France-O („O“ für outre-mer)- in den letzten Tagen mit keinem Sterbenswörtchen über das Anschwellen der Proteste berichtet haben.

Die Einwohner geben an, dass sie einen Umweg über die Medien vom französischen Festland nehmen müssen, um sich über die Lage bei ihnen direkt vor Ort zu informieren und zu wissen, was um die Ecke passiert ist. Die örtlichen politischen Verantwortlichen verhehlen kaum, dass das Schweigen der öffentlich-rechtlichen Lokalsender durchaus einem Kalkül gehorcht. Diesem Kalkül zufolge müsse es darum gehen, ein spontanes Hochkochen der Proteste bei jeder neuen Nachricht über den Fortgang der Ereignisse zu verhindern. Aber auch durch diese öffentlich-rechtliche Berichterstattungspolitik fühlen viele Einwohner der Inseln sich „verschaukelt“.

Barrikadenbau, Räumung, Eskalation

Seit Montag früh kam es dann zur flächendeckenden Errichtung von Straßenblockaden auf der Insel Guadeloupe, um den Gang der Ereignisse zu beschleunigen und den Druck zu erhöhen - insbesondere auch im Vorfeld des und mit Blick auf den „Sozialgipfel“ mit Arbeitgebervertretern und Gewerkschaftern, den Sarkozy an diesem Mittwoch im Elysée-Palast organisierte.

Die Barrikaden wurden durch starke Gendarmeriekräfte geräumt, es kam zu über 50 Verhaftungen - auch wenn die Blockaden kürzeste Zeit später an anderer Stelle wieder neu entstanden. Die Bewegung wird so schnell durch die Repression nicht kleinzubekommen sei, sondern verfügt über einen äußerst massiven Rückhalt bei der örtlichen Bevölkerung. In der Inselhauptstadt Pointe-à-Pitre auf Gouadeloupe - die Insel hat insgesamt rund 450.000 Einwohner - fanden Demonstrationen mit bis zu 65.000 Teilnehmern statt. Dies entspräche, gemessen an der Bevölkerungszahl, Demonstrationen mit weit über zehn Millionen Menschen in Paris.

Bei den Räumungen der Blockadepunkte am Montag kam es zu rassistischen Beschimpfungen. Ein Gewerkschaftsfunktionär auf einer Straßensperre in Gosier, Alex Lollia, wurde von Gendarmen verletzt und zusätzlich als „dreckiger Neger“ beschimpft. Die linksliberale Tageszeitung ‚Libération’ berichtete über pikante Details. Sie schreibt etwa über einen weißhäutigen Inselbewohner, der den - aus dem europäischen Kontinentalfrankreich herbeigezogenen - Gendarmen zuruft: „Heute schäme ich mich, Franzose zu sein. Ich gehe auf die Flagge pissen.“ Worauf die Gendarmen ihm erwidern: „Dann such’ Dir doch ein anderes Land aus, geh’ nach Afrika oder auf den Larzac-Plateau“ (das Larzac-Plateau ist eine Region mit starker antimilitaristischer Tradition im Süden des französischen Zentralmassivs).

Seit Montag ist nun eine starke Eskalation der Lage eingetreten. In der Nacht vom Dienstag auf Mittwoch wurden 15 Geschäfte geplündert, rund dreißig Autos angezündet und schätzungsweise sieben Industrieniederlassungen angegriffen. Diese Attacken geschehen allerdings nicht nach dem Zufallsprinzip, sondern erfolgen sehr gezielt auf Angehörige der weißen Grundbesitzer- und früheren Sklavenhalter-Kaste der „Béké“, die nahezu die gesamte Inselökonomie kontrollieren. Zu ihnen zählt namentlich der Konzern GBH (Groupe Bernard Hayot) des Karibik-Tycoons Hayot, dem zahlreiche Autohändler, zwei riesige Supermärkte und andere Geschäfte auf der Insel gehören - mehrere von ihnen wurden in Brand gesteckt.

Zahnbürste – im europäischen Frankreich für einen Euro und in Guadeloupe für 4,50 Euro

Auf den Antillen existiert eine Form kolonialer Ökonomie, die weitgehend am Tropf der „Metropole“ (also des europäischen Frankreich) hängt. Neben den Tourismuseinnahmen - die in den letzten Wochen aufgrund des Generalstreiks und der dadurch zum Erliegenden gekommenen Treibstoffversorgung weitgehend ausbleiben - basiert die Inselwirtschaft weitgehend auf landwirtschaftlichem Großgrundbesitz und auf Einfuhrmonopolen. Letztere, die berühmte „Containerwirtschaft“, befindet sich nach wie vor fest in der Hand von Angehörigen der „Béké“. Daraus resultieren die immensen Preisunterschiede zur Metropole, zum europäischen Festlandfrankreich - wie beispielsweise im Falle der inzwischen sprichwörtlich gewordenen Zahnbürste, die im europäischen Frankreich einen Euro und in Guadeloupe 4,50 Euro kostet.

Dass die Mehrheitsbevölkerung - die bunt durchmischt ist (noch weniger als irgendwo anders auf der Welt gibt es auf den Antilleninseln keinerlei „abstammungsreine“ Bevölkerung), aber viele frühere schwarze Sklaven zu ihren Vorfahren zählt - nicht mehr kann und nicht mehr will, ist nachzuvollziehen. Infolge der Eskalation, die seit Wochenanfang eingetreten ist, explodiert nunmehr der Zorn. Sechs Angehörige der uniformierten „Ordnungskräfte“ wurden laut offiziellen Angaben in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch durch Schüsse - die aus Pump-guns abgegeben wurden - „leicht verletzt“. Feuer lodern an zahlreichen Orten auf Guadeloupe.

Die französische Staatsmacht dürfte nun versuchen, die zuletzt eingetretene Eskalationsstufe zu nutzen, um die vorhandene Radikalisierung gegen die Bewegung zu wenden und sie in eine Minderheitenposition zu drücken. Die französische Innenministerin Michèle Alliot-Marie, die sich bislang in der Öffentlichkeit weitestgehend zurückhielt, was die Ereignisse auf den Antilleninseln betrifft, trat am Mittwoch Vormittag vor die Presse. Sie kündigte an, nunmehr täglich „Sicherheitskomitees“ zur Lage auf den Inseln abzuhalten - in Paris, nicht vor Ort auf den Inseln.

„Gefährdet nicht Euer Leben, und nicht das von Anderen“

Der Generalstreik auf Guadeloupe dauert nunmehr seit bald vier Wochen an, seit Anfang Februar ist die andere französische Karibikinsel La Martinique hinzugetreten. Ab dem 5. März ist die Inselbevölkerung im französischen Überseebezirk La Réunion (Indischen Ozean, zwischen Madagaskar und der Insel Mauritius) dazu aufgefordert, ihrerseits in den Generalstreik zu treten. Unterdessen wird es aber für die Bevölkerung auf Guadeloupe, die seit Wochen beispielsweise ohne Benzinversorgung bleibt, immer schwieriger durchzuhalten.

Dennoch kann die Bewegung auf eine massive Unterstützung rechnen. Zu hoffen bleibt, dass eine „hitzköpfige“ Radikalisierung insbesondere von Teilen der Jugend nicht dazu führt, dass es zum großen Showdown, zum tragischen Fanale kommt. Am Mittwoch Mittag forderte das LKP dazu auf, einen kühlen Kopf zu bewahren: „Gefährdet nicht Euer Leben, und nicht das von Anderen.“