Impfkritiker = Holocaust-Leugner?

Gesundheitspolitiker wollen in der Schweiz die Impfung gegen Masern zur Pflicht machen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Debatte darüber verkommt zur Schlammschlacht, und auch die Medien machen keine gute Figur

Die Debatte ums Impfen ähnelt einer endemischen Krankheit: Sie ist immer latent vorhanden und bricht periodisch in Epidemien durch. In der Schweiz, die als Hort der Impfskepsis gilt und beispielsweise bei der Masernimpfung die tiefste Durchimpfungsrate Europas aufweist, kocht die Debatte gerade wieder einmal hoch, nachdem Ende Januar in einem Genfer Krankenhaus ein zwölfjähriges Mädchen an den Folgen der Masern verstorben ist. Die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren (d.h. Minister) forderte daraufhin, ein Obligatorium der Masernimpfung müsse "ernsthaft geprüft und ins Auge gefasst werden". Fast gleichzeitig starb im Kanton Baselland ein ungeimpftes Kleinkind an Keuchhusten. Dieser Kanton ist eine Hochburg der traditionell impfskeptischen Anthroposophen. Einzelne Gesundheitspolitiker fordern nun, gleich den gesamten Impfkatalog für obligatorisch zu erklären.

Im Streit um Für uns Wider eines Obligatoriums haben nun einige Protagonisten jedes Augenmaß verloren – allen voran der Leiter des Instituts für Immunologie an der Universität Bern, Beda Stadler. Dieser verglich in einer Diskussionssendung auf Tele Züri seine Kontrahentin mit Holocaust-Leugnern. Impfkritiker wie Holocaustleugner würden Erkenntnisse der Wissenschaft leugnen, und wie das Leugnen des Holocausts strafbar sei, müsste auch Impfkritik verboten werden.

Beim Impfen ist die Schweiz das Schlusslicht in Europa

Stadler ist zweifelsohne ein Extremfall – und doch ist seine Entgleisung (für die er sich nicht entschuldigt hat) symptomatisch. Doch zunächst zu den unbestrittenen Fakten: Im November 2006 ist in der Region Luzern eine Masernepidemie ausgebrochen. Bis heute wurden seither in der Schweiz 3.400 Masernerkrankungen gemeldet; 250 davon führten zu Krankenhauseinweisungen. Der Genfer Todesfall war der bislang einzige (der für die Schweizer Statistik nicht zählt, weil das Kind in Frankreich wohnte).

Damit hat diese Epidemie ein geringeres Ausmaß als ihre Vorgängerinnen: 1997 wurden 6.400 Fälle gemeldet; 1987 waren es 11.000 Fälle. Kurz nach der Epidemie von 1987 lancierten die nationalen Gesundheitsbehörden die Impfkampagne gegen Masern (im Kombination mit Mumps und Röteln), mit der man die Krankheit bis 2010 ausrotten will. Seither haben nicht nur die Epidemien weniger Erkrankungen gezeitigt; auch in den Jahren dazwischen sanken die Fallzahlen bis auf jeweils zwei Fälle in den Jahren 2004 und 2005.

Das Ziel der Ausrottung ist freilich noch fern. Die Schweiz bildet nämlich in punkto Impfdisziplin das Schlusslicht in Europa. 95 Prozent aller Kinder müssten im zweiten Lebensjahr geimpft werden, um die Masern auszurotten. Gegenwärtig lassen aber nur rund 85 Prozent der Eltern ihre Kinder gegen Masern, Mumps und Röteln impfen. Bei den Impfungen, die im ersten Lebensjahr empfohlen sind (Diphterie, Starrkrampf, Keuchhusten, Haemophilus influenzae, Kinderlähmung), liegt die Durchimpfung bei 93 Prozent.

Den Befürwortern der Ausrottungsstrategie sind solche Zahlen ein Gräuel: Im Jahr 2010 werde sogar Afrika eine bessere Durchimpfung aufweisen als die Schweiz, wetterte Claire-Anne Siegrist, Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (Ekif), im Interview mit der Zeitung Le Temps, und vergangenes Jahr sah die Boulevardzeitung Blick gar die Austragung der Fußball-Europameisterschaften in der Schweiz gefährdet.

Kritiker zweifeln am Erfolg der Ausrottungsstrategie

Kritische Stimmen wie die Arbeitsgemeinschaft für differenzierte Impfungen dagegen zweifeln, ob das Ziel der Ausrottung überhaupt zu erreichen sei. Zwar gebe es etwa in Finnland und in Nord- und Südamerika tatsächlich fast keine Erkrankungen mehr. Das bedeute aber nicht, dass das Virus ausgerottet sei: Geimpfte könnten das Virus in sich tragen und weitergeben, ohne Krankheitssymptome zu entwickeln. Zudem habe eine Verschiebung stattgefunden: Heute treffe die Krankheit vermehrt junge Erwachsene, aber auch Säuglinge unter zwölf Monaten, die noch nicht geimpft werden können. Der Grund liege darin, dass Mütter, die die Krankheit durchgemacht hätten, ihren Babys einen besseren Nestschutz mitgäben als solche, die geimpft seien. Diese Verschiebung sei fatal, denn die Krankheit sei für Babys besonders gefährlich und verlaufe auch bei Erwachsenen schwerer als bei Kindern. Entsprechend ist die Mortalität von Masern seit den Impfkampagnen gestiegen.

Freilich haben differenzierte Stimmen wenig Chancen, sich Gehör zu verschaffen. Das hat einerseits mit der Strategie der Gesundheitsbehörden zu tun, andererseits mit einer nicht gerade rühmlichen Leistung der Medien.

Die Gesundheitsbehörden sind in der impfskeptischen Schweiz eher maximalistisch ausgerichtet. In der Ekif, die die Regierung in Impfsachen berät, sitzt kein einziges impfskeptisches Mitglied. Die Schweiz hat 2008 als eines der ersten Länder die Impfung gegen Humane Papillomaviren, die Gebärmutterhalskrebs begünstigen, für kassenpflichtig erklärt, noch bevor belastbare wissenschaftliche Studienergebnisse vorlagen. In Bezug auf die Masern verfolgen die Behörden das Ziel der Ausrottung – im Bewusstsein, dass ein Obligatorium politisch kaum opportun ist. Das zeigt sich auch am Eiertanz, den das Bundesamt für Gesundheit (BAG) um die Begriffe macht.

"Niemand spricht von einem Zwang", behauptete der BAG-Impfexperte Daniel Koch in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger und wollte lediglich von einem "Obligatorium" sprechen. So schlug er vor, dass bei Schuleintritt nachzuweisen sei, dass ein Kind geimpft wurde (einige Kantone schließen bereits heute nicht geimpfte Geschwister von masernkranken Kindern für einige Zeit vom Unterricht aus). Was die Verknüpfung des Impfens mit der Schulpflicht von einem Zwang unterscheide, vermochte die Pressestelle des BAG nicht zu sagen. "Das ist Interpretationssache", stotterte der Pressesprecher Jean-Louis Zurcher auf Anfrage.

Es bleibt also, um das 95-Prozent-Ziel zu erreichen, nur Aufklärung – respektive Propaganda. Und da wird gerade in ärztlichen Kreisen grobes Geschütz aufgefahren. Eine verbreitete Strategie ist es, dem Gegner die Wissenschaftlichkeit abzusprechen. So bezeichnete die Präsidentin der Impfkommission Ekif in der Schweizerischen Ärztezeitung Fachkollegen, die die Ausrottungsstrategie kritisieren, als "naturopathes" (Naturheiler). Kritische Impfbefürworter werden als Impfgegner bezeichnet, Studien, die von negativen Impffolgen berichten, werden kleingeredet. Und: Es wird mit der Moralkeule gefuchtelt. Wer seine Kinder nicht impfen lasse, trage dazu bei, dass das Virus andere anstecken könne.

Die Schweizer Medien spitzen die Debatte weiter zu

Die Medien übernehmen diese Sicht weit gehend. Das zeigt sich schon bei der Wortwahl: Die gegenwärtige Masernepidemie wird in fast allen Zeitungen mit dem Attribut "grassierend" versehen. Dieses Wort taucht sonst in den Medien nur entweder in ironischem Kontext auf ("das Fußballbildchen-Fieber grassiert") oder bei wirklich schlimmen Epidemien wie der Choleraepidemie, die in Zimbabwe Tausende Tote gefordert hat. Dass die gegenwärtige Masernepidemie "grassiert" ist die Sprachregelung des BAG.

Auch übernehmen fast alle Medien das Schema "Impfbefürworter versus Impfgegner", wobei alle, die die maximalistischen Impfempfehlungen der Behörden kritisieren, der Gegnerseite zugeschlagen werden. Die fundamentalen Impfgegner, die sich im Verein Aegis organisieren ("Jede Impfung ist so ein schädlicher Einfluss!"), lassen sich leicht in die Pfanne hauen und als esoterisch inspirierte Extremisten abtun. So trat auch Beda Stadler, als er seinen Holocaust-Leugner-Vergleich äußerte, gegen eine Aegis-Vertreterin auf.

Stadler ist ein in den Medien gern gesehener Gast, drückt er sich doch schön plakativ aus und kann selber gut schreiben. Noch vor besagter TV-Sendung tat er die Argumente seiner Gegner in einem Interview mit der Berner Zeitung als "Blödsinn" ab. Statt kritisch nachzufragen, setzte der Interviewer über das Gespräch den Lead: "Professor Stadler spricht Klartext". In der NZZ am Sonntag ist Stadler Kolumnist, der gerne gegen alles schießt und über alles spottet, was nicht der reinen Lehre der Schulmedizin entspricht. Die Redaktion legt Stadlers Interessebindungen nicht offen, obwohl Stadler selber das auf seiner Website tut – er sitzt beispielsweise im wissenschaftlichen Beirat des Impfstoffherstellers Berna Biotech und in Beiräten von Gentech-Lobbyorganisationen.

Der Zürcher Tages-Anzeiger – keine Boulevardzeitung, aber eine Zeitung mit starkem Hang zu boulevardesken Kampagnen – wiederum beschimpfte vor einem Jahr Eltern, die ihre Kinder nicht impfen lassen, in einem Titelseitenkommentar als "pure Egoisten". In der gleichen Ausgabe wurde behauptet, es bestünde eine Korrelation zwischen Durchimpfungsrate und Fallzahlen in den jeweiligen Kantonen, obwohl die Grafik, die die Zeitung ebenfalls abdruckte, dem widersprach – die Redaktion hätte sie einfach lesen müssen: zahlreiche Kantone mit geringer Durchimpfung weisen auch kleine Fallzahlen auf, während einige gut durchimpfte Kantone viele Erkrankungen meldeten. Hätte man den Zusammenhang zwischen vorherrschender Konfession und Fallzahlen untersucht, die Korrelation wäre wohl höher gewesen…

Die Sonntagszeitung rief zu Beginn der Epidemie, als gerade mal fünfzig Fälle gemeldet worden waren, den "Ausnahmezustand" aus. Und die Weltwoche verglich Schweizer Impfkritiker im Jahr 2004 mit dem islamistischen Arzt und Hassprediger Datti Ahmed, der in Nigeria die Kinderlähmungs-Impfung als eine Verschwörung des Westens bekämpfte: "Gut möglich, dass Ahmed bald für Vortragsreisen in die Schweiz eingeladen wird. Sein Tonfall und seine Argumente treffen genau den Geschmack der hiesigen Impfgegner." Rar sind Stimmen wie jene des NZZ-Medizinredakteurs, der in einem Kommentar mahnt, die Verhältnismäßigkeit nicht aus den Augen zu verlieren. Die mediale Debatte hat eben etwas von einer Epidemie: Sie flackert schnell auf und die Medien stecken sich gegenseitig an, sprich: die Journalisten schreiben voneinander ab und fühlen sich durcheinander bestätigt.

Die Verfechter individueller Impfentscheide fragen sich derweil, ob es in dieser Situation noch sinnvoll sei, die öffentliche Kritik an der routinemäßigen Impfung von Kleinkindern gegen Masern aufrecht zu erhalten. Inhaltlich sei die Kritik zwar nach wie vor stichhaltig, schreiben die Ärzte Peter Klein und Hans-Ueli Albonico, aber: "Ob man viel oder wenig vom Masernimpfkonzept hält, die Situation ist unerfreulich und die Impfberatung definitiv zwiespältig geworden. (…) Die Rückkehr zur endemischen Masernsituation wäre mit grossen Risiken verbunden." Dies deshalb, weil heute Babys dem Virus schutzloser ausgeliefert seien als vor der Impfkampagne. Mit anderen Worten: So problematisch das Projekt Masernausrottung aus Sicht der Autoren ist – zurück geht nicht mehr.