ICANN: Weltgipfel der Internetnutzer

Wolfgang Kleinwächter über die Mitsprache der Internetnutzer bei der Verwaltung des Internet, Datenschutz, Internationalisierung, IP-Adressen und die neue US-Regierung

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Am 28. Februar 2009 beginnt in Mexico unter dem Dach von ICANN der erste Weltgipfel der Internetnutzer. Wolfgang Kleinwächter, Professor für Internetpolitik an der Universität Aarhus und Berater des Vorsitzenden des Internet Governance Forum (IFG) der Vereinten Nationen, ist Mitglied des Vorbereitungskomitees. Telepolis sprach mit dem Leipziger Wissenschaftler

Was soll der Weltgipfel der Internetnutzer?

Wolfgang Kleinwächter: Heute sind 1.5 Milliarden Menschen im Netz. Vor 20 Jahren waren es 500 000. Das Internet ist Teil unseres Lebens. Globale Internetpolitik greift immer mehr in unseren Alltag ein. Es ist doch nur natürlich, dass Nutzer anfangen, Mitbestimmungsrechte einzuklagen und kritisch zu hinterfragen, wer wie, was und warum entscheidet.

Wolfgang Kleinwächter: ICANN, auch schon als Weltregierung des Internet bezeichnet hat aber Mitspracherechte der Nutzer drastisch reduziert.

ICANN ist nicht die Weltregierung des Internet. ICANN ist zuständig für die kritischen Internetressourcen, die jeder braucht für e-Mails oder Webseiten: Domainnamen, IP-Adressen und Root Server.

Dennoch hat ICANN die Mitspracherechte der Nutzer drastisch reduziert.

Wolfgang Kleinwächter: Das ist leider wahr. Als ICANN 1998 unter US-Präsident Clinton gegründet wurde, sollte die Hälfte der Stimmen im Direktorium an die User gehen. 2000 folgten globale Online-Wahlen, bei denen u.a. Andy Mueller-Maguhn vom Berliner Chaos Computer Club als ICANN-Direktor gewählt wurde. Nach dem 11. September 2001 aber stoppte die US-Regierung dieses innovative Cyberdemokratie-Projekt. Für die Bush-Administration war es offensichtlich zu riskant, Nutzern Mitspracherechte beim Management sicherheitsrelevanter Internetressourcen zu geben. Sie wurden ohne Stimmrecht in einen Beratungsausschuss, das At Large Advisory Committee (ALAC), verbannt

Und durch den Gipfel soll das jetzt anders werden?

Wolfgang Kleinwächter: Im Prinzip ja. Die Nutzergemeinde ist seit 2000 nicht nur quantitativ gewachsen, sie ist auch organisatorisch gereift. Es gibt jetzt fünf regionale At-Large-Organisationen. Jede der RALOs hat institutionelle Mitglieder - von Internet Clubs über Verbraucherschutzgruppen bis zu Menschenrechtlern – die weltweit mit einer gewissen Legitimation für Millionen von Nutzern sprechen.

Sied die deutschen Netzbürger hier auch vertreten?

Wolfgang Kleinwächter: Die EURALO für Europa hat acht deutsche Mitglieder, darunter die Humanistische Union, die Deutschen Vereinigung für Datenschutz, das Netzwerk neue Medien und die InformatikerInnen für den Frieden. Anette Mühlberg, bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di für eGovernment zuständig, war drei Jahre ALAC-Vorsitzende. ALAC ist offen für alle. Wer den Kriterien entspricht, kann beitreten.

Wie könnten denn Nutzer an Stimmrechte im ICANN-Direktorium?

Wolfgang Kleinwächter: Durch eine Änderung der ICANN-Verfassung. Wenn rund 200 RALO-Mitglieder, die Millionen von Nutzern vertreten, zwei ICANN-Direktoren fordern, hat es ICANN schwer, ignorant zu sein.

Beim Nutzergipfel geht es also primär um Verfahrensfragen?

Wolfgang Kleinwächter: Nein. In erster Linie geht es um den Nutzer betreffende Sachfragen wie Stabilität und Sicherheit des Netzes, Konsumentenschutz, Datenschutz oder freie Meinungsäußerung.

Was verstehen Sie unter Konsumentenschutz im Internet?

Wolfgang Kleinwächter: Internetnutzer müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Domains und Email Adressen auch dann funktionieren, wenn der ISP pleite geht. Konsumentenrechte heißt auch Wettbewerb: bessere Qualität, niedrigere Preise, größere Auswahl. ICANN öffnet jetzt die Türe für neue Top-Level-Domains (TLDs) wie .shop, .web, .berlin oder .leipzig. Hier entstehen Möglichkeiten, eigener Identität im Internet mehr Ausdruck zu verleihen oder Namen zu registrieren, die unter .de oder .com eben schon weg sind.

Können denn so viele neue Domains nicht auch den Nutzer verwirren?

Wolfgang Kleinwächter: Schauen Sie auf den Mobilfunkmarkt. Das Hinzufügen von Kameras, SMS und Webzugang auf dem Handy hat die Konsumenten nicht verwirrt. Das iPhone ist ein Renner. Viele sind ja auch im Käseladen ob der Vielfalt verwirrt. Keiner würde aber deshalb die Zahl der Käsesorten begrenzen. Warum soll es nur die jetzigen 263 TLDs geben, wenn technisch mehr möglich ist?

ICANN will das Internet internationalisieren. Was soll man sich darunter vorstellen?

Wolfgang Kleinwächter: Da geht es um die Verwendung von kyrillischen, chinesischen, arabischen Buchstaben in Domainnamen. Das ist für Deutsche nicht so wesentlich, aber für den Rest der Welt. Die Hälfte der Menschheit spricht Sprachen, die nicht auf dem lateinischen Alphabet basieren. Stellen Sie sich vor, das Internet wäre in China erfunden worden und LVZ-Leser müssten erst chinesische Buchstaben lernen, bevor sie auf die LVZ-Website kommen. Die Beseitigung dieser Sprachbarriere wird den Weg frei machen für die nächste Milliarde von Internetnutzern.

Manche sagen das Ende des Internet voraus, weil die IP-Adressen ausgehen. Das betrifft doch auch den Nutzer?

Wolfgang Kleinwächter: Genau. Ein schwieriges Problem. Ohne IP-Adresse kann man im Internet nicht kommunizieren. Das Adressprotokoll IPv4 verfügt über rund vier Milliarden Adressen. Und die sind bis 2011 alle vergeben. Es gibt ein neues Protokoll, IPv6, mit über 340 Sextillionen Adressen, also genug für die nächsten 100 Jahre. Das Problem ist die Kompatibilität beider Protokolle. Man kann zwar von IPv4 zu IPv6 kommunizieren, aber nicht umgekehrt. Das Risiko einer Spaltung des Internet ist real. Bislang kostenfreie und jetzt knapp werdenden IPv4-Adressen könnten zur lukrativen Handelsware werden. Das käme die Nutzer teuer zu stehen.

Sie erwähnten Datenschutz. Was hat das mit ICANN zu tun?

Wolfgang Kleinwächter: Es ist für Nutzer unerträglich, dass Whois-Kontaktdaten, die jeder Domain-Registrant hinterlegen muss, allgemein zugänglich sind. Das ist eine Einladung für Spammer. Völlig unvereinbar mit europäischem Datenschutzrecht. Auf Druck der Musikindustrie und wegen des Anti-Terror Kampfes hat die US Regierung bislang aber jeden Datenschutz bei Whois blockiert. Das muss sich ändern.

Die US Regierung hat immer noch die Aufsicht über ICANN. Bleibt das so?

Wolfgang Kleinwächter: Unter Clinton war geplant, ICANN nach zwei Jahren in die Unabhängigkeit zu entlassen. Bush hat dies nie ernsthaft erwogen. Beim UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft 2005 führte das zu einer politischen Kontroverse. China wollte ICANN durch eine Internet-UNO ersetzen, die EU wollte ein Mischmodell mit ICANN und einem internationalen Regierungsrat. Der Kompromiss war, die Frage zu vertagen und auf dem neuen UN Internet Governance Forum nach Lösungen zu suchen. Der ICANN-Vertrag mit der US-Regierung endet im Oktober 2009. Da muss das Obama-Team handeln.

Obama soll ja im Gegensatz zu Bush das Internet nutzen und schätzen.

Wolfgang Kleinwächter: Und das ist gut so. Er hat im Wahlkampf für ein offenes Internet geworben. Auch das Thema Netzneutralität wird uns noch sehr beschäftigen. Netzbetreiber wollen für das Uploaden von Inhalten kassieren. Das kann schnell zu einem Zwei-Klassen-Internet führen. In Obamas Technologie-Team sind aber einige Internet-Gurus wie Vint Cerf, "Vater des Internet" und Vizepräsident bei Google, oder Susan Crawford, eine Professorin aus New York, die sich als ICANN-Direktorin für den Nutzergipfel in Mexico eingesetzt hat.

Was kommt denn auf uns noch zu?

Das „mobile Internet“ ist ja schon teilweise Realität. Zukünftig wird man praktisch überall mit seinem Notebook oder dem Mobiltelefon im Internet surfen können. Beim „Internet der Dinge“ geht es darum, Objekte mit einem RFID-Chip und einer IPv6-Adresse zu versehen und dann ans Internet anzuschließen. Was das für Konsequenzen haben wird, ist heute noch unklar.

Ist sich denn der einfache Nutzer, in dessen Namen beim Gipfel geredet wird, dieser ganzen Problematik bewusst?

Wolfgang Kleinwächter: Im Cyberspace ist es wie im richtigen Leben. Nur eine Minderheit von Betroffenen mischt sich in die Politik ein. Das Internet ist noch kein großes gesellschaftliches Thema wie Energie oder Klimawandel. Öffentliches Bewusstsein entsteht meist nur aus öffentlicher Bedrohung. Beim Internet haben wir die Chance aktiv zu werden, bevor die Gefahren real werden. Man muss nicht warten, bis ein Cyberkrimineller einem das Konto abräumt oder private Emails für Erpressungen nutzen.

Was könnte man machen, um mehr Aufmerksamkeit zu erzeugen?

Wolfgang Kleinwächter: Wir brauchen mehr öffentliches Bewußtsein. Bei der Verkehrserziehung beginnen wir im Kindergarten. Eltern sagen ihren Kindern: Gebt Fremden keine Telefonnummern. Wir meiden im Dunklen bestimmte Gegenden. Wer aber gibt unseren Kindern Verhaltensmaßstäbe mit auf den Weg in den grenzenlosen Cyberspace? Kriminelle, Hassprediger und Kinderschänder sind im Netz nur einen Klick entfernt. Das Sperren von kriminellen Webseiten, wie von der Bundesfamilienministerin geplant, ist okay, wird aber nicht viel helfen. Viel wichtiger ist eine flächendeckende Interneterziehung die im Kindergarten beginnen sollte.