"Täter dürfen sich stillschweigend ermutigt fühlen"

Ein Gespräch mit Peter Franck, dem Russland-Experten von Amnesty International, über die Nicht-Aufklärung des Mordes an Anna Politkowskaja

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Am 7. Oktober 2006 wurde die russische Journalistin und Menschenrechtlerin Anna Politkowskaja im Treppenaufgang ihres Wohnhauses erschossen. Der damalige Präsident Vladimir Putin, der an diesem Tag seinen Geburtstag feierte, versprach der empörten Weltöffentlichkeit eine schnelle Aufklärung des brutalen Verbrechens. Doch daraus wurde nichts. Die Strafverfolgungsbehörden warteten mit zahlreichen Tatverdächtigen, allerlei Indizien und immer neuen Vermutungen auf, doch selbst die vier Angeklagten, die bis zum Schluss übrig blieben, mussten Ende vergangener Woche aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden.

Nun ist die Weltöffentlichkeit wieder gefragt, und sie reagiert mit Unmut. Nicht das Urteil, doch die Art und Weise, wie in Russland ein Verbrechen jahrelang nicht oder nur schleppend verfolgt wurde, provoziert energischen Widerspruch, unter anderem von Seiten des Europarates. Telepolis sprach mit Peter Franck, dem Russland-Experten von Amnesty International, über die Hintergründe des aktuellen Geschehens.

Wie beurteilen Sie den Ausgang des jüngsten Prozesses?

Peter Franck: Der Eindruck ist zwiespältig. Natürlich wirft das Urteil ein ganz schlechtes Licht auf den Verlauf des Ermittlungsverfahrens, zumal der Generalstaatsanwalt, der ja mit dem damaligen Präsidenten Putin bei dieser Gelegenheit Ende August 2007 öffentlichkeitswirksam im Fernsehen auftrat, ernste Fortschritte bei den Ermittlungen verkündete und auch sonst immer wieder gründliche Untersuchungen und zeitnahe Ergebnisse versprochen hat.

Aber dann mussten Verdächtige freigelassen werden, weil sie zum Tatzeitpunkt in Haft gesessen hatten. Videomaterial verschwand spurlos, und mehrfach kamen Informationen an die Öffentlichkeit, weil sich Generalstaatsanwalt und Investigativ-Komitee offenbar doch nicht auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen konnten. Wenn eine Ermittlung erst zur Chefsache erklärt wird und dann so viele Pannen passieren, ist das natürlich eine Katastrophe.

Andererseits bin ich positiv überrascht, weil sich das Geschworenengericht nicht unter Druck setzen ließ. Weder bei der Urteilsfindung, noch bei dem Versuch, die Öffentlichkeit auszuschließen und anderen Details des Verfahrens. Das ist in Russland nicht alltäglich, und so hatte die Bevölkerung immerhin die Möglichkeit, sich ein klares Bild davon zu machen, wie nachlässig diese Ermittlungen geführt wurden.

Rechnen Sie damit, dass der wahre Mörder von Anna Politkowskaja jemals vor Gericht gestellt wird?

Peter Franck: Nach allen bisherigen Erfahrungen ist das höchst unwahrscheinlich. Morde, die nach den Umständen einen politischen Hintergrund haben, blieben in der Vergangenheit allzu oft unaufgeklärt. Auch im vorliegenden Verfahren ist der verdächtigte Täter, der übrigens schon lange vor der Tat mit Haftbefehl gesucht wurde und dennoch ins Ausland geflohen sein soll, nicht gefasst. Hintermänner konnten offenbar überhaupt noch nicht ermittelt werden.

Anna Politkowskaja, deren Hauptthema der Krieg in Tschetschenien war, ist kein Einzelfall. Oppositionelle werden eingeschüchtert, zusammengeschlagen oder auf offener Straße erschossen wie zuletzt der Anwalt Stanislaw Markelow und die Journalistin Anastasija Baburowa – unabhängig davon, ob sie sich mit der großen Politik oder Korruptionsvorfällen in der russischen Provinz beschäftigen. Lassen diese Gewaltexzesse ein Muster erkennen?

Peter Franck: Es ist sicher so, dass Menschen, die sich mit diesen Themen beschäftigen, das Gefühl haben müssen, nicht mehr sicher leben zu können. Wer grobe Menschenrechtsverletzungen oder lokale Machtzusammenballungen aufdeckt und beschreibt, lebt hochgradig gefährlich. Das galt übrigens schon vor der Ära Putin.

Es wäre Aufgabe der russischen Führung, einen Klimawandel in der öffentlichen Diskussion herbeizuführen und deutlich zu sagen: „Das ist nicht unser Weg, das ist eine Schande für unser Land! Auch wenn uns diese Leute kritisieren, sind sie wichtig für uns, weil wir eine moderne, demokratische, offene Gesellschaft aufbauen wollen.“ Aber das geschieht natürlich nicht, und es geht auch kein Aufschrei durch die Öffentlichkeit, wenn wieder ein Journalist ermordet wird.

Als Dmitrij Muratow, Chefredakteur der „Nowaja Gaseta“, hier bei uns in Berlin war, hat es ihn sehr erstaunt, wie empört die Deutschen auf die Ereignisse reagierten. In Russland war das kein so großes Thema, und das sagt viel über die Beschaffenheit einer Gesellschaft.

Es sind viele Menschen nötig, die keine Angst haben

Im Bereich dieser politisch motivierten Verbrechen liegt die Aufklärungsquote bei etwa 0 Prozent. Da rechtskräftige Urteile nicht zu erwarten sind, bleibt nur die Spekulation: Wer deckt wen, wer sind die Täter, wer die Auftraggeber?

Peter Franck: Das kann man natürlich nicht wissen, und Sie müssen bedenken, dass möglicherweise nicht jeder dieser Morde einen politischen Hintergrund haben muss. Wir behaupten auch nicht, dass die russische Regierung oder irgendwelche Geheimzirkel diese Taten in Auftrag geben. Aber es erweist sich zunehmend als Problem, dass die russische Gesellschaft insbesondere während der Präsidentschaft Putins erneut von oben nach unten – auf der Basis von Befehl und Gehorsam - durchorganisiert wurde. In vertikalen Strukturen findet ohne unabhängige Gerichte und freie Medien keine Machtkontrolle statt und der Korruption sind auf allen Ebenen Tür und Tor geöffnet.

Russland bräuchte aus meiner Sicht mehr eine Stärkung der Eigenverantwortlichkeit „von unten“. Entscheidungsebenen müssen transparent und kontrollierbar sein, doch um dieses Ziel zu erreichen, sind viele Menschen nötig, die keine Angst haben, sich vor Ort in den regionalen und lokalen Bereichen zu engagieren und für Rechtsstaatlichkeit einzusetzen.

Dem Außenstehenden erschließt sich das Ziel der Anschläge kaum. Was soll denn mit der Ermordung einzelner Journalisten erreicht werden – in Zeiten von Internet, Blog und Email?

Peter Franck: Ich weiß nicht, ob es „das Ziel“ gibt. Gerade weil so wenig aufgeklärt wird, kann man da nur spekulieren. Jedenfalls tun die russische Führung und die Behörden viel zu wenig, um deutlich zu machen, wie sehr sich diese Gewalt im Grunde gegen Russland selbst richtet.

Als vor Jahren im Internet Adressenlisten mit sogenannten „Feinden des russischen Volkes“ kursierten, wollte zunächst der FSB (Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation) nichts unternehmen, weil den betroffenen Personen „keine nationale Bedeutung“ eingeräumt wurde. In der Folge hat sich dann auch die Staatsanwaltschaft jedenfalls nicht aufgefordert gefühlt, die Ärmel hochzukrempeln und ein deutliches Zeichen zu setzen und die Verantwortlichen zu ermitteln. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Insofern dürfen sich die Täter immer wieder stillschweigend ermutigt fühlen.

Die Situation der Pressefreiheit ist hier deutlich problematischer als in den meisten anderen Ländern der Erde

Haben Sie den Eindruck, dass die Anschläge auf Leib und Leben „erfolgreich“ sind, d.h.: werden Journalisten in Russland erkennbar vorsichtiger, in dem, was sie sagen und schreiben? Ingo Mannteufel, Chef der russischen Online-Redaktion der Deutschen Welle, sprach immerhin schon vor zwei Jahren von „Angst und Selbstzensur“.

Peter Franck: Es gibt wie überall Ausnahmen, aber eigentlich bilden unabhängige Journalisten in Russland eine sehr kleine Gruppe. Sie haben keinen Einfluss und keine Machtpositionen, profitieren nicht vom neuen Wohlstand der herrschenden Schicht und besitzen kaum gesellschaftliche Anbindungen. Natürlich werden die Vorfälle intensiv diskutiert, aber ich sehe noch nicht, dass sich die Einstellung und die Arbeitsmethoden grundlegend ändern.

Die Putin-kritische Nowaja Gazeta hat jüngst gefordert Journalisten zu bewaffnen. Das klingt tatsächlich nicht so, als ob die Einschüchterung gelungen wäre.

Peter Franck: Der Vorschlag zeigt sehr plastisch, wie weit es in Russland gekommen ist – auch wenn er sicher ironisch gemeint war, denn mit einer allgemeinen Bewaffnung sind die Probleme selbstverständlich nicht zu lösen.

In der Rangliste der Pressefreiheit 2008 liegt Russland auf Platz 141 – knapp vor Ländern wie Äthiopien, Ruanda oder Swasiland. Was bedeuten die Fälle Politkowskaja, Beketow, Markelow etc. für den russischen Demokratisierungsprozess und die internationalen Beziehungen des Landes?

Peter Franck: Ich weiß nicht genau, wie solche Rankings zu Stande kommen. Trotzdem stimmt die Grundaussage: Die Situation der Pressefreiheit ist hier deutlich problematischer als in den meisten anderen Ländern der Erde, und das schadet Russland auch politisch und wirtschaftlich.

Immerhin hat man viele Millionen für Werbekampagnen ausgegeben, um ein neues, positives Bild zu entwerfen und außerdem großes Interesse an ausländischen Investoren. Die westlichen Länder waren dann ja auch bereit, Russland nach dem Ende der Sowjetunion eine gewisse Entwicklungszeit einzuräumen, die in vielen Bereichen durchaus genutzt wurde. Wir freuen uns doch darüber, dass sich in Fragen der Menschenrechte in den vergangenen 20 Jahren auch vieles wesentlich verbessert hat.

Doch schon seit vielen Jahren geht es kaum mehr nach vorn, jetzt ist eine Kurskorrektur nötig. Die russische Führung muss deutlich machen, dass sie das Land tatsächlich in Richtung Demokratie, Pluralismus und Meinungsfreiheit führen will, politische Verbrechen ohne Ansehen der Person aufklärt und überall die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Transparenz gelten. Was im Zusammenhang mit den hier diskutierten Ereignissen geschehen ist, führt in die ganz falsche Richtung und auf Dauer wieder in die Isolation.

„Leider kommen Journalisten häufig ums Leben, sie kommen auch in anderen Ländern um — aber aus irgendeinem Grunde versucht in diesen Fällen niemand, die Regierung zu beschuldigen. Hier in Russland ist, was auch immer geschieht, allein Putin schuld.“ So sieht es unser Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Glauben Sie nicht, dass viele westliche Politiker diese bequeme Einschätzung teilen?

Peter Franck: Ich glaube auf jeden Fall, dass diese und ähnliche andere Schröder-Äußerungen dazu beitragen, die Missverständnisse zwischen Russland und den westlichen Ländern zu vertiefen. Sie verzerren ganz einfach den Diskurs, denn – abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen – hat niemand Vladimir Putin vorgeworfen, den Mord an Anna Politkowskaja in Auftrag gegeben oder stillschweigend gebilligt zu haben.

Schröder schützt die russische Regierung vor Angriffen, die so gar nicht stattgefunden haben, und bemüht wieder die alten Klischees: Auf der einen Seite stehen die ausländischen Besserwisser, die sich in russische Angelegenheiten einmischen, auf der anderen Seite steht die ehemalige, aber noch immer ambitionierte Weltmacht, die sich so etwas unter keinen Umständen bieten lässt. Wir brauchen aber keine neue Konfrontation, sondern einen Dialog, welcher der russischen Seite vermittelt, wie sinnvoll es ist, den Demokratisierungsprozess konsequent voranzubringen.

Kann eine europäische Regierung, beispielsweise die deutsche, in dieser Frage überhaupt Einfluss auf Russland ausüben?

Peter Franck: Wenn etwa das neue Partnerschaftsabkommen zwischen Russland und der EU abgeschlossen wird, ist zunächst darauf zu achten, dass Menschenrechtsfragen nicht wieder in Präambeln und allgemeinen Absichtserklärungen verkümmern. Sie müssen die Essentials künftiger Kooperationen bilden.

Gleichzeitig wird es darum gehen, einen substantiellen Dialog anzustoßen, in dem die Probleme auf beiden Seiten offen thematisiert werden, so dass gemeinsam nachhaltige Lösungen und nicht nur kurzfristige Vorteile gesucht werden können. Dazu ist es unabdingbar, dass sich die westlichen Länder auch mit ihrer eigenen Menschenrechtssituation kritisch auseinandersetzen. Wenn man sich anschaut, wie hierzulande teilweise mit Asylbewerbern aus Tschetschenien umgegangen wird, ist doch nachvollziehbar, dass die russische Regierung nicht das Bedürfnis verspürt, sich moralische Vorhaltungen machen zu lassen. Die Frage der Glaubwürdigkeit spielt ganz sicher eine entscheidende Rolle.