"Der Holocaust ist euer (deutsches) Problem, wir werden schließlich selbst diskriminiert."

Die Amadeu-Antonio-Stiftung lenkt den Blick auf muslimisch-arabisch motivierten Antisemitismus bei Jugendlichen

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Das Thema Antisemitismus erhält insbesondere nach der jüngsten Eskalation des israelisch-palästinensischen Konfliktes eine erhöhte Aufmerksamkeit. Nicht nur die Diskussion um die zurückgenommene Exkommunikation von Bischof Williamson hat für Wirbel gesorgt. Auch der Rücktritt des Linke-Politikers Hermann Dierkes zeigt, wie brisant das Thema in Deutschland ist. Dierkes Forderung, israelische Waren in Reaktion auf die Angriffe auf Gaza zu boykottieren, wurde nicht nur als antiisraelisch, sondern auch als antisemitisch gedeutet.

Die von der Amadeu-Antonio-Stiftung herausgegebene Broschüre mit dem Titel Die Juden sind schuld, die am Montag vorgestellt wurde, erscheint somit in einer für ihr Thema sehr empfindlichen Zeit. Sie fragt nach dem „Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel muslimisch sozialisierter Milieus“.

Erwartungsgemäß bleiben bei der genannten Themenstellung drastische mediale Darstellungen nicht aus. So wird in der Welt verallgemeinert: „Junge Muslime in Deutschland neigen zu Antisemitismus." Im Untertitel wird hinzugefügt: „Studie: Juden dienen immer wieder als Sündenbock.“ Im Artikel wird – ähnlich dem Artikel „Gerappter Judendiss und Auschwitzboykott“ in der FAZ vom 24. Februar 2009 (S. 4) – ein besorgniserregendes Bild von jungen Muslimen gezeichnet, die durch ihren sozialen Hintergrund, Erzählungen von Verwandten und arabische Medien antisemitische Tendenzen aufweisen.

Auch auf die Studie des Innenministeriums wird bestätigend verwiesen (Muslime in Deutschland). Die Zahlen aus der BMI-Studie, auf die in den Beiträgen zugunsten konkreter Einzelfälle weitgehend verzichtet wird, werden so durch die Zeitungsartikel mit ihnen in Verbindung gebracht. So titelt die „Junge Freiheit: Jugendliche Moslems neigen zu antisemitischen Einstellungen.

Die Fälle aus der pädagogischen Praxis, die in den Texten der Broschüre genannt werden, scheinen eine solche Lesart nahezulegen. Der Staat Israel wird in Zitaten von Jugendlichen mit der jüdischen Religion identifiziert, Schüler beschimpfen sich mit „Du Jude“, in Internetforen wird der Antisemitismus, der in den Schulen teils verhalten geäußert wird, deutlich ausgesprochen, antijüdische Vorurteile gehen mit islamistischer Ideologisierung einher und der Besuch von Holocaust-Gedenkstätten wird abgelehnt. Damit seien nur einige der angeführten Aspekte angeführt, die in Aussagen wie diese von Jugendlichen einer „süddeutschen Kleinstadt“ gipfeln, die kaum zu überbieten scheinen: „Ich hasse die Juden. Hitler hätte sie alle vergasen sollen.“

Solche Fälle scheinen, wenn sie zusammengenommen werden, ein kohärentes Bild eines islamisch unterfütterten Antisemitismus zu ergeben und werfen ein erschreckendes Licht auf muslimisch-arabische Jugendliche. Dieses darf jedoch nicht verallgemeinert werden, worauf vielfach hingewiesen wird. Es soll auch nicht übersehen werden, dass die Broschüre „Die Juden sind schuld“, die sich als Handreichung an Wissenschaft, Politik und Bildungsträger unterschiedlicher Ausrichtung wendet, keine Studie ist und nicht als solche verstanden werden will. Sie stellt Fälle aus der Praxis vor und zielt auch darauf, praktisch-pädagogisch mit – schon länger bekannten – Problemen umzugehen.

Auch die Studie des Innenministeriums von 2007, auf die in diesem Kontext häufig bestätigend verwiesen wird, ist als die erste größere Erhebung ihrer Art „nur ein Indiz, das zeigt, dass wir genauer auf die komplexen Zusammenhänge sehen müssen“, wie Claudia Dantschke, die leitende Redakteurin des Projekts, im Gespräch betont. Wenn sich auch Verallgemeinerungen in den Nachrichten finden, zeigt sie sich generell über die intensive Reaktion von Presse und Öffentlichkeit erfreut. Sie betont dennoch: „Wenn keine Zahlen da sind, suchen die Menschen natürlich nach starken Sätzen, um Drastik auszudrücken.“

Auf drastische Reaktionen zielte die Broschüre, die auf drei von Frau Dantschke geleitete Tagungen einer Arbeitsgruppe zurückgeht, nicht. Ihr Ziel ist, praktische Handlungsweisen anzubieten, um dem Problem des Antisemitismus wirksam und dauerhaft zu begegnen. Dies drückt sich auch in den Texten der unterschiedlichen Spezialisten aus, die als Autoren zu Wort kommen. Der entscheidende gemeinsame Punkt, der sich in allen Beiträgen findet, ist die Aufforderung, sich konkret mit den betreffenden Jugendlichen auseinanderzusetzen und auf ihre Probleme einzugehen, um antisemitischen Tendenzen praktisch zu begegnen. Selbstverständlich sollen die besorgniserregenden Aspekte, die sich in den unterschiedlichen Beiträgen finden, nicht übergangen werden.

Palästina-Konflikt als Projektionsfläche

Nach einer einleitenden „Kurzdarstellung der Erscheinungsformen“ des Antisemitismus und einer historischen Einbettung des Problems fragt der Islamwissenschaftler Michael Kiefer „Was wissen wir über antisemitische Einstellungen bei muslimischen Jugendlichen?“. Er stellt fest:

Zeitgleich mit der Berichterstattung über die Intifada war in einigen europäischen Staaten ab Oktober 2000 ein Anstieg antisemitisch motivierter Straftaten zu beobachten, die von den Ermittlungsbehörden in einem erheblichen Ausmaß auch muslimischen Zuwanderern angelastet wurden.

Michael Kiefer

Auch Kiefer verweist auf die Studie des Innenministeriums, die aufzeige, „dass eine substanzielle Minderheit von 500 befragten muslimischen Schülerinnen und Schülern antisemitischen Vorurteilsbekundungen in einem hohen Maße zustimmen“. Vor diesem Hintergrund gibt er eine Liste von „Leitfragen für eine künftige Forschung“, die repräsentativ für die gesamte Broschüre ist. Deren Beiträger sind darum bemüht, dem Problem des Antisemitismus auf unterschiedlichen Ebenen zu begegnen. Dabei stellen sie fest, dass der Antisemitismus ein gesamtdeutsches Phänomen ist, das nicht auf muslimische Kreise beschränkt werden darf.

Dass Schüler wenig Betroffenheit oder Empathie mit Holocaust-Opfern zeigen und über das Thema witzeln oder gar einen Gedenkstättenbesuch ablehnen, sich aber dennoch für die Geschichte des Nationalsozialismus interessieren, gilt nicht nur für Schüler arabisch-muslimischen Hintergrundes, wie Lisa Rosa, Mitarbeiterin im Hamburger Lehrinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung betont: „Dieses paradoxe Verhalten findet sich bei autochthonen deutschen Schülern ebenso wie bei Schülern mit arabischem/muslimischem Hintergrund.“ Die Autorin verweist jedoch auch darauf, dass sich bei letztgenannten Schülern verstärkt antijüdische Stereotypen ausmachen lassen.

Immer wieder kommen die Autoren auf den Palästina-Konflikt zu sprechen, der als Projektionsfläche insbesondere für „arabische Jugendliche“ gilt. Wenn nach den Motiven antisemitischer Äußerungen gefragt wird, führen diese häufig den Konflikt an, wobei der Staat Israel mit der jüdischen Religion in eins gesetzt wird.

Laut dem Islamwissenschaftler Jochen Müller ist diese Haltung auch auf Marginalisierungserfahrungen zurückzuführen. Er weist auf folgende Funktionen des Feindbildes Israel (von den Jugendlichen aber auch „die Juden“ oder „die Zionisten“ genannt):

  1. Als Sündenbock dienen Israel oder „die Juden“ der Kompensation und Aggressionsabfuhr im Sinne eines als gerecht empfundenen Zorns, der seine Ursachen aber nur bedingt im Nahen Osten hat.
  2. Das Feindbild stiftet Gemeinschaft und erleichtert somit das Gefühl von Zugehörigkeit als Palästinenser, Libanesen, Araber oder Muslime – nicht zuletzt vor dem Hintergrund, in Deutschland nicht akzeptiert zu werden.
  3. Durch die Denunzierung anderer fühlen sich Jugendliche stark, die sich in ihrem Alltag als schwach und ohnmächtig erleben.
  4. Die im Blick auf den Nahostkonflikt meist eingenommene und in der Situation in Deutschland bestätigt gesehene Opferperspektive kann die eigene Lage erklären und entschuldigen und von eigener Verantwortlichkeit befreien.
  5. Äußerungen von Hass auf Israel und die Juden dienen als gezielte Provokation der deutschen Mehrheitsgesellschaft – einschließlich ihrer Pädagogen, deren Unsicherheit an diesem Punkt wahrgenommen und mitunter ausgenutzt wird.

Die genannten Aspekte zeigen deutlich, dass die problematischen Aussagen und Verhaltensweisen junger Muslime nicht nur auf genuin antisemitische Ursachen zurückzuführen sind, sondern auch auf ihr unmittelbares Lebensumfeld. Damit werden diese Aussagen jedoch keinesfalls akzeptiert oder verharmlost, sondern es wird ein Weg zu deren Ursachen aufgezeigt, auf die pädagogisch gewirkt werden kann.

Auch mit Blick auf antiisraelische oder –zionistische Haltungen zeigt sich für Müller, dass nicht jede „anti-israelische bzw. antizionistische Haltung und nicht jede Dämonisierung israelischer Militäreinsätze gleich als Ausdruck von Antisemitismus und eines antisemitischen Weltbildes zu bewerten“ ist. Er kommt zu dem Fazit:

Aktueller Antisemitismus unter jungen Muslimen kommt eher in fragmentarischer als in Form eines festen und kompletten Weltbildes vor. Dabei erfüllt der Diskurs über den Nahostkonflikt und das Feindbild Israel bei Jugendlichen arabischer und/oder muslimischer Herkunft verschiedene Funktionen: So dient der Konflikt u.a. als Projektionsfläche für hiesige Marginalisierungserfahrungen.

Jochen Müller

Integrationsarbeit als Handlungsbedarf

Die Bemühungen der Autoren der Broschüre um ein Verständnis der Bedingungen, unter denen antisemitische Äußerungen zustande kommen, sollen nicht das Problem des real existierenden Antisemitismus überdecken. Dieser wird von den Autoren keinesfalls geleugnet.

Durch den Verweis auf die Kontexte, die antisemitische Tendenzen befördern und die Forderung, diesen weiter nachzuspüren, soll eine Grundlage geschaffen werden, Probleme an den tatsächlichen Ursachen anzugehen und dort zu bekämpfen. Dabei müssen diejenigen einbezogen werden, die durch ihre Verhaltensweisen negativ auffallen. Die unterschiedlichen pädagogischen Konzepte, die von den Autoren vorgeschlagen werden, reichen von Brett- und Rollenspielen über Ausstellungsbesuche, Gespräche bis zu Ausstellungen, wobei auch das Erlangen von Medienkompetenzen eine wichtige Rolle spielt.

Dabei können die von Patrick Siegele (Anne Frank Zentrum, Berlin) angeführten Punkte für eine historisch-politische Bildungsarbeit für die Einwanderungsgesellschaft verallgemeinert werden. Er fordert: eine Multiperspektivität, die den Jugendlichen in Blick auf die Geschichte angeboten wird; eine Lebensweltorientierung, die ihre Erzählungen und Erfahrungen mit einbezieht; Respekt und Anerkennung, die darauf bauen, die Jugendlichen in ihren Problemen ernst zu nehmen und damit verbunden: Partizipation – die Erfahrung, dass sie sich selbst einbringen können und somit Veränderungen diskriminierend erfahrener Situationen herbeiführen können.

Wie die Studie des BMI ist auch die Broschüre „Die Juden sind schuld“ nicht alarmistisch gemeint, sondern zeigt einen dringenden Handlungsbedarf insbesondere in der Integrationsarbeit auf, worauf Claudia Dantschke nachdrücklich hinweist: „Ziel unserer Handreichung ist, dass man sich mit Antisemitismus auseinandersetzt und Wege und Mittel findet, mit pädagogisch-demokratischen Mitteln den Antisemitismus zu bekämpfen, um Jugendliche vor extremen Ideologien zu schützen.“ Die Broschüre wendet sich gegen eine homogenisierende Debatte, in der das Stereotyp eines antisemitischen Islam eine Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Problemen und deren Lösung verhindert.