Ist die Neutralität des Netzes in Gefahr?

Rainer Fischbach tritt für eine "differenzierte Netzneutralität" ein und wendet sich gegen das Idealbild vom egalitären Internet

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Die EU-Kommission glaubt, die Neutralität des Netzes sei bedroht, und will mit dem sogenannten „Telekom-Paket“ die Internet Service Provider (ISP) rechtlich auf Gleichbehandlung aller Daten und Protokolle verpflichten. Das kommt den Interessen von Portalen wie Youtube und Suchmaschinen wie Google entgegen – nicht aber denen der Netzbetreiber, die nach neuen Verwertungsmöglichkeiten suchen und sich gerne für eine bestimmte Qualität bezahlen lassen würden. Kann die Gesetzesinitiative auf europäischer Ebene das verhindern? Der Autor und Informatiker Rainer Fischbach argumentiert, eine „undifferenzierte Neutralität“ sei weder sinnvoll noch überhaupt durchsetzbar. Stattdessen will er staatliche Regulierung und klar definierte Nutzerrechte.

Wenn es um das sogenannte Telekom-Paket geht, denken die meisten daran, wie künftig auf Urheberrechtsverstöße reagiert werden wird. Viele befürchten, dass künftig manche Inhalte gleicher sein werden als andere. Ist die Neutralität des Internets in Gefahr?

Rainer Fischbach: Neutral war das Internet auch früher nur in einem technischen Sinn und mit Einschränkungen. Die klassischen Internetprotokolle unterschieden bekanntlich nicht nach Datenpaketen. Man schaut nur auf die Zieladresse des Pakets und schickt das Paket weiter an den nächsten Knoten, entsprechend einer Tabelle, die aufgrund der aktuellen Lageinformation immer neu berechnet wird. Alle Bits werden gleich behandelt, egal, woher sie kommen oder gehen. Noch wichtiger ist, dass es nirgendwo im Netz Information über den Datenweg gibt. Jeder Knoten entscheidet lokal aufgrund seiner Algorithmen. Diese klassische „Netzneutralität“ galt auch damals nur für die inneren Routing-Protokolle, die Interior Gateway Protocols. Wo die Netze von verschiedenen Verwaltern aneinander stießen, wurden die Pakete unterschieden.

Für den amerikanischen Autor und Jurist Lawrence Lessig ist die Gleichbehandlung der Datenpakete die technische Grundlage für den egalitären Charakter des Internets.

Rainer Fischbach: Aber diese Architektur hat viele Nachteile. Sie ist ineffizient, und sie ist sehr verwundbar. Es ist einfach sinnvoll, die unterschiedlichen Anwendungen nach ihren Anforderungen an die Übertragungsqualität zu unterscheiden! Und schon seit Mitte der 90er Jahre, als das Internet zum Massenmedium wurde, wird über verschiedene Wege nachgedacht, wie man die nötige Qualität bereitstellen kann. In Wirklichkeit entspricht das Internet dem Idealbild, wie Lessig und andere es zeichnen, schon lange nicht mehr.

Sie sagen, dass die Netzbetreiber schon jetzt unterscheiden und die Qualität an die jeweiligen Anforderungen anpassen?

Rainer Fischbach: Netzverwaltungstechniken wie Multiprotocol Label Switching (MPLS) sind in den Netzen der großen Betreiber heute Standard. Nur reizen sie die Möglichkeiten dieser Technik nicht aus. Sie setzten MPLS auf jeden Fall schon ein, um für große Industriebetriebe die Virtuellen Privaten Netzen (VPN) bereitzustellen, eben weil deren Anwendungen bestimmte Qualitätsanforderungen einfach erfüllen müssen. Für die VPN werden Kanäle im Internet priorisiert und natürlich auch nach außen abgeschirmt. Weiter verbreitet ist die Erfahrung mit Voice Over IP: Wenn ich Skype benutze, behandelt der Netzbetreiber die Datenpakete wie alle anderen auch, und das führt oft zu einer schlechten Tonqualität. Wenn ich dagegen die Internettelefonie meines Anbieters – Telekom, 1&1, wer auch immer – nutze, gibt es dieses Qualitätsproblem nicht, weil die Router die Telefonie-Pakete als solche erkennen und bevorzugt behandeln.

Vor dem Bundestags-Unterausschusses „Neue Medien“ haben Sie sich im Dezember für eine "differenzierte Netzneutralität" stark gemacht. Bereitet das nicht den Boden für Zensur?

Rainer Fischbach: Es ist aussichtslos, den alten Zustand wieder herstellen zu wollen. Wir können den Netzbetreibern nicht etwas verbieten, für das es starke und zum Teil sehr gute technische Gründe gibt. Es macht Sinn zu unterscheiden, ob ich beispielsweise eine Email schicken oder telefonieren oder eine Videokonferenz nutzen will. Dumm ist nur, dass die Netzbetreiber dadurch auch in die Lage kommen könnten, für eine gute Übertragungsqualität Geld zu verlangen, entweder vom Kunden oder dem Anbieter der Anwendung.

Das wollen sie um so mehr, als sie ökonomisch überhaupt nicht gut dastehen. In den 90er Jahren haben sie, von übersteigerten Gewinnerwartungen getrieben, sehr viel in die Infrastruktur in den Metropolen investiert. Sie haben sich teure Übernahmeschlachten mit den Konkurrenten geliefert und bei der Versteigerung der UMTS-Lizenzen sich wahrhaft irrsinnig verhalten. Daher haben sie immer noch riesige Schuldenberge abzutragen, und ihre Renditen sind am Boden.

Der Vorstand von British Telecom, François Barrault, hat das letztes Jahr in einem Interview mit der Financial Times Deutschland auf den Punkt gebracht. „Bislang arbeiten wir sehr hart daran, damit funky Unternehmen wie Google, Youtube und Cisco eine Menge Geld verdienen können. Dieses Modell ist obsolet, die Verdienstmöglichkeiten nicht gerecht verteilt.“

Dabei gibt es bereits jetzt Engpässe bei den Bandbreiten.

Rainer Fischbach: In den USA beginnen die Netzanbieter, von ihren Flatrate-Angeboten abzurücken und sich wieder nach Datenmengen bezahlen zu lassen. In Deutschland ist die Situation auf dem Land und in den Städten sehr ungleich, Der starke Ausbau in den 90er Jahren hat dem dem Backbone und den Metropolen genutzt, ist aber an den ländlichen Gebieten weitgehend vorbeigegangen. Aber auch in den großstädtischen Gebieten fehlt es jetzt an Bandbreite. Die Infrastruktur muss ausgebaut werden, und dazu muss investiert werden. In Deutschland wären etwa 100 Milliarden Euro nötig, um die Netzinfrastruktur zukunftssicher zu machen! Das Problem ist, dass die Telekomgesellschaften nicht ausreichend kreditwürdig sind – sie versprechen keinen entsprechenden Profit. Kurz: Die Liberalisierung der Telekommunikation stößt jetzt an Grenzen, dieses Modell funktioniert nicht mehr.

Es gibt also technische und ökonomische Gründe, den Datentransport im Netz zu differenzieren – werden dann als nächstes politisch missliebige Inhalte unterdrückt werden?

Rainer Fischbach: Die Technik kann auch zur politischen Kontrolle eingesetzt werden, das ist wahr. Meiner Meinung nach droht die Gefahr aber weniger von einem Großen Bruder, wie ihn ein Wolfgang Schäuble oder ein Günther Beckstein gerne verkörpern möchten, sondern dadurch, dass die staatliche Kontrollstruktur sich immer mehr mit privaten Interessen verbindet.

Ist es denn nicht möglich, ein leistungsfähiges Internet zu gewährleisten und dennoch Nutzerrechte zu schützen?

Rainer Fischbach: Das geht nur durch entsprechende Institutionen. Wir brauchen Gesetze, die bestimmte Qualitätsstandards festlegen, und Organisationen, die die Rechte der Internetnutzer durchsetzen. Das ist im Netz nicht anders als im Straßenverkehr.

Das wäre dann das Ende aller Vorstellungen von der „Selbstorganisation des Netzes“?

Rainer Fischbach: Dieser Begriff ist völlig überstrapaziert worden. Das Netz hat niemals naturwüchsig funktioniert oder „sich selbst organisiert“. Die Kulturlinke, die solche Begriffe im Mund führt, weiß nicht, wovon sie redet. Es gibt bei vielen einen falschen Affekt gegen Regulierung. Eine komplexe und von Technik durchdrungene Gesellschaft wie unsere braucht Regulierung und Standards! Die Rechte von Internetnutzern sollten wenigstens auf der Ebene der Europäischen Union gesetzlich geschützt werden. Wenn dieser wirtschaftlich und politisch starke Raum das realisiert, wird das nach außen ausstrahlen und Rechte von Internetnutzern überall fördern.