Tröpfchenweise Vergeltung

Eine Iranerin, der mit einem Säureanschlag das Augenlicht genommen wurde, darf sich legal an ihrem Peiniger rächen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Im September 2004 bekam die heute 30-jährige Iranerin Ameneh Bahrami einen telefonischen Heiratsantrag. Gemacht wurde er nicht vom Bewerber selbst, sondern von dessen Mutter. Erst als Bahrami ablehnte, wurde Majid Emovahedi, ein Kommilitone der Ingenieursstudentin, selbst aktiv: Er lauerte ihr auf und verätzte ihr das Gesicht mit Säure. Dabei wurde sie nicht nur bleibend entstellt, sondern verlor auch ihr Augenlicht. Darüber hinaus musste sie in Folge der Tat bis jetzt 17 Mal im Gesicht, am Rücken, an den Armen und an ihren Händen operiert werden.

Im Iran, dessen Rechtssystem auf dem Koran beruht, wird für solche "Qisas-Fälle" die Sure 5,45 herangezogen, welche auf die biblische Talionsformel verweist: "Leben um Leben, Auge um Auge, Nase um Nase, Ohr um Ohr, Zahn um Zahn; und auch für die Verwundungen gilt die Wiedervergeltung."

Nachdem ein Gericht die Schuld eines Täters festgestellt hat, dürfen das Opfer oder dessen Familienangehörige dem Täter theoretisch das gleiche antun, was er dem Opfer angetan hat. Allerdings nur theoretisch: Denn nach Sure 2,178 müssen Täter und Opfer "gleich" sein, was Mann und Frau im Iran nicht sind. In solchen Fällen entscheidet der Richter über die Strafe. Häufig gibt es mehr oder weniger gütliche Einigungen, bei denen das Opfer oder dessen Familie nach Zahlung einer untereinander ausgehandelten oder vom Gericht festgelegten Summe auf die Durchführung einer Körperstrafe verzichten.1

Auch im Fall Majid Emovahedi verweigerte das Gericht zuerst einen Anspruch auf eine vollständige Blendung des Täters, weil eine Frau nur die Hälfte eines Mannes sei, weshalb sie auch nur ein Auge ihres Peinigers verätzen dürfe. Bahrami erklärte sich damit allerdings nicht einverstanden, sondern verlangte eine ihrer Ansicht nach angemessenere Vergeltung. Darauf hin wurde das zweite Auge mit weiteren geldlichen Schadensersatzansprüchen verrechnet, was schließlich dazu führte, dass sie seit November ein Urteil in Händen hält, das sie oder eine andere Person ihrer Wahl dazu berechtigt, Emovahedi Säure in beide Augen zu träufeln. Ein vollständiger Ausgleich findet jedoch auch auf diese Weise nicht statt, weil der heute 25-jährige Emovahedi, anders als Bahrami, vorher eine Narkose erhalten soll.

Bahrami erklärte vor der Presse, dass sie diesen Anspruch auch deshalb praktisch umsetzen werde, damit sich die Strafe herumspricht und so möglicherweise andere Frauen vor einem ähnlichen Schicksal bewahrt werden. Derzeit wartet sie darauf, dass ihr das Gericht Ort und Datum des Vollzugs ihrer Vergeltung benennt.

Das Vergeltungsprinzip ist eines der ältesten Rechtsprinzipien überhaupt. Die Erwiderung von Taten ist Teil der Reziprozität, mit der sich Menschen berechenbare soziale Umgebungen schaffen – auch das gesamte Wirtschaftsleben beruht auf dieser Grundlage. Dabei regeln die Auge-um-Auge-Vorschriften, die bereits im Codex Hammurabi enthalten sind, nicht nur die Rechtmäßigkeit der Rachehandlungen, sondern vor allem auch deren Verhältnismäßigkeit, wodurch potentiell ausufernde Fehden zwischen Sippen, und Exzesse, wie sie etwa Lamech in Genesis 4:23 beschreibt, vermieden werden konnten: Also nicht ein Mann für eine Wunde und ein Jüngling für eine Beule, sondern ein Auge für ein Auge und ein Zahn für einen Zahn.

Lobte noch Immanuel Kant dieses Ausgleichsprinzip in seiner Metaphysik der Sitten als grundlegend für jede Ordnung, ist der Vergeltungsgedanke im heute gültigen Recht nicht nur häufig kaum mehr sichtbar, sondern teilweise sogar in sein Gegenteil verkehrt - etwa wenn ein Gewalttäter, der anderen bleibende körperliche Schäden zufügte, auf eine erlebnispädagogische Urlaubsreise geschickt wird, oder wenn im von Peter Glotz eingeführten Scheidungsrecht der Schuldige nicht nur nicht ermittelt, sondern über Unterhalts- und Sorgerechtsregelungen möglicherweise sogar noch belohnt wird.

Dadurch wurden nicht nur Anreize für ein entsprechendes Verhalten geschaffen. Der Staat nahm mit solchen Regelungen auch in Kauf, dass sich durch die immer deutlicher sichtbare Diskrepanz zwischen Rechtsordnung und -empfinden zum einen archaische Gewaltakte Bahn brachen und zum anderen Parallelstrukturen entstehen konnten, in denen Ansprüche nicht mit dem Rechtsapparat, sondern via Selbst- und Sippenjustiz angedroht und durchgesetzt werden.