Kalte Fusion und die Zukunft

Teil 8: Welche technologischen Entwicklungen die Kernfusion bei Raumtemperatur ermöglichen könnte

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Unsere bisherige Lebensweise hat Mutter Erde verpestet und die gesellschaftlichen Systeme an den Rand des Chaos geführt. Die Abhängigkeit vom Öl ist zum Problem geworden. Stellt die Kernfusion bei Raumtemperatur eine Lösung dar? Vor 20 Jahren wurde die Kalte Fusion der Weltöffentlichkeit vorgestellt. Kaum einer weiß, dass eine anomale Energieproduktion seitdem mehr als 160 Mal bestätigt worden ist. Was wäre, wenn sich daraus eine Technologie entwickeln ließe? Involvierte Forscher halten eine Revolution der Energieversorgung für möglich. Möglicherweise stehen wir vor einer schicksalhaften Weichenstellung.

Es ist der 23. März 2089. Zum 100. Jahrestag der Kalten Fusion finden weltweit Festlichkeiten statt. Nach anfänglichen Widerständen hatte die umweltfreundliche Wasserstofffusion bei Raumtemperatur ab 2017 grundlegende technologische und gesellschaftliche Veränderungen mit eingeleitet. 2020 waren die ersten Heizkörper auf den Markt gekommen. Danach war alles recht schnell gegangen. 2030 fuhren schon die ersten Autos mit Fusionsantrieben, und in Japan ging das erste KF-Großkraftwerk zur Stromversorgung eines kleinen Industriebezirks in Betrieb. Und dann kamen die Projekte, die auch das Gesicht des Planeten für immer veränderten.

Dieses Szenario orientiert sich an den Profiles of the Future des Schriftstellers Arthur C. Clarke und dem Buch Cold Fusion and the Future des Insiders Jed Rothwell. Bereits 1962 hatte Clarke den Durchbruch der Fusionsenergie auf 1990 gelegt. Die Kalte Fusion (KF) ist eine heute noch umstrittene Innovation der Chemiker Martin Fleischmann und Stanley Pons. 1989 hatten sie der Weltöffentlichkeit mitgeteilt, mit der Wasserstofffusion im Labormaßstab hätte sich eine neue, saubere und quasi unerschöpfliche Energiequelle aufgetan. Der Haupteffekt, die Produktion von Wärmeleistung, ist bis heute in mehr als 160 größtenteils unabhängigen Experimenten gemessen worden. Auf jedem anderen Forschungsgebiet würde dieses als Beweis ausreichen, doch bei der KF macht wenig Sinn, bevor man es in seinem forschungspolitischen Zusammenhang sieht. Clarke hat ihre Verhinderung als "wohl einen der größten Skandale der Wissenschaftsgeschichte" bezeichnet.

Einem Szenario der Energy Watch Group zufolge könnte Deutschland schon 2030 der Ölhahn weitgehend zugedreht werden. Kohle- und Uran-Vorkommen werden weniger drastisch eingeschätzt. Doch hier herrscht wenig Klarheit, Zahlen sind politisch gefärbt. Die Abhängigkeit vom "schwarzen Gold" betrifft dabei nicht nur die Treibstoffversorgung: Ohne Rohöl kommt auch ein Großteil der Kunststoff- und Düngemittelindustrie zum Erliegen. Technischen und wirtschaftlichen Fortschritt haben wir uns erkauft mit dem Raubbau an der Natur und der Verpestung von Meeren, Böden und Luft. Jährlich sterben über zwei Millionen Menschen an verschmutztem Trinkwasser. Kriege um Öl sind nichts Neues, und Konflikte um Wasser sind vielleicht schon häufiger, als man denkt. Klimatische Extremereignisse und Naturkatastrophen häufen sich.

Erneuerbare Energien aus Sonne oder Wind bieten Hoffnung. Mit ihnen könnte man aus Wasser Wasserstoff für Brennstoffzellen produzieren, doch dazu muss die Effizienz noch erheblich gesteigert werden. Außerdem ist es nicht immer und überall sonnig oder windig. Die Heiße Fusion schließlich, sollte der Nachbau der Sonne auf Erden einmal nützlich realisiert werden, wäre die teuerste, je entwickelte Energiequelle. Außerdem erzeugt sie nicht zu vernachlässigende Radioaktivität. "Ich glaube, dass wir mit der heutigen Wissenschaft in eine Sackgasse geraten sind", sagt der junge deutsche Chemiker Jan Marwan. "Die Kalte Fusion bietet da eine Möglichkeit."

Heat after Death

1962 kam Martin Fleischmann der Gedanke, dass in einem Metallgitter eine Fusion von Deuterium möglich sein könnte. Schon lange war bekannt, dass das Metall Palladium Deuteronen aufsaugen kann wie ein Schwamm Wasser. Deuteronen sind schwere Wasserstoffkerne, bestehend aus einem Proton und einem Neutron. Zu ihrer Fusion gilt es die starke Abstoßung der positiv geladenen Atomkerne zu überwinden. In der Sonne geschieht dieses offenbar durch zehn Millionen Grad Celsius. Aber bei Raumtemperatur?

Kosmisches Vorbild? Die Sonne versorgt die Erde mit Energie aus der Fusion von Wasserstoff (Bild: NASA)

Erst nach seiner Pensionierung als Dekan des Chemiefachbereichs der britischen Universität von Southampton konnte sich Fleischmann dem Experimentieren widmen. Gemeinsam mit Stanley Pons von der Universität von Utah hatte er sich für ein Elektrolyseexperiment entschieden, in dem schweres Wasser mit Palladium-Elektroden gespalten und durch den Strom Deuteronen in das Metallgitter gezogen werden. Anfang 1985 lief eine Elektrolyse schon für mehrere Monate, als Pons für einen halben Tag den Stromfluss erhöhte. Am nächsten Morgen war das Palladium geschmolzen und hatte ein zehn Zentimeter tiefes Loch im Zementfußboden hinterlassen. Als sie den Schaden sahen, schauten sie drein wie die sprichwörtliche Katze, die gerade den Kanarienvogel verspeist hat. Über Nacht musste etwas Außergewöhnliches passiert sein.

Am 23. März 1989 gingen Fleischmann und Pons an die Öffentlichkeit. Eine Energieproduktion sei wiederholbar, zeige sich als Überschusswärme und könne "nur durch einen nuklearen Prozess" erklärt werden. Doch der Kalten Fusion sollte es ergehen wie der Kernspaltung - als Otto Hahn diese 1938 entdeckt hatte, glaubten ihm seine Kollegen zunächst auch nicht. In der 1989 bereits bestens bekannten Heißen Fusion entstehen zu gleichen Teilen Tritium und Neutronen. Doch weil bei den weltweiten oft spontanen Bestätigungsversuchen der KF praktisch keine Neutronen gemessen wurden, glaubten die Physiker auch die Messungen von Überschusswärme nicht. Das Interesse schwand so schnell, wie es gekommen war. Dass und mit welchen Ergebnissen die Forschung dann weiterging, ist den meisten Wissenschaftlern heute weitgehend unbekannt.

Ihnen gelang der Durchbruch bei der Kalten Fusion: Stanley Pons und Martin Fleischmann (1989) (Bild: Infinite Energy)

"Die wichtigsten Experimente hatten wir 1995 gemacht, als wir die Entstehung von Überschusswärme über mehrere Monate beobachteten", erinnert sich Fleischmann heute. Damals arbeitete er mit Pons in einem Labor in der Provence, finanziert von der Toyota-Tochterfirma Technova. In einem Experiment mit fast kochendem Wasser produzierten sie 144 Watt - das entspricht der Wärmeleistung eines kleinen Durchlauferhitzers. Die Leistungsdichte der Palladium-Elektrode war dabei größer als die von Uran-Brennstäben in Kernkraftwerken. Forscher der französische Atomenergiekommission, die die Messmethode überprüft hatten, bestätigten die Leistungsproduktion.

Mittlerweile hatten einige Labore das Fusionsprodukt Helium-4 nachgewiesen. Mehr noch: Die Menge des Heliums entsprach der gemessenen Menge Überschusswärme. Wenn auch die funktionierenden KF-Experimente stotterten wie ein Verbrennungsmotor mit Fehlzündungen, schien es zumindest, als käme man dem Reaktionsmechanismus langsam auf die Schliche. Die Präsenz von Helium-4 würde erklären, warum die Physiker 1989 keine Neutronen finden konnten: Es entstehen keine. Sollte sich dieses bewahrheiten, und darauf deutet immer mehr hin, wäre die Kalte Fusion schlicht anders als die Heiße. "Ich glaube, sie werden das noch erkennen", sagt Fleischmann enttäuscht. Mit Pons hatte er noch etwas anderes entdeckt: Als sie alles Wasser verdampfen ließen und folglich kein Strom mehr fließen konnte, blieb die Palladium-Elektrode noch drei Stunden lang heiß, ein Phänomen, das als "Heat after Death" bezeichnet wird.

Dass die KF nicht notwendigerweise eine Energiezufuhr benötigt, kann auch Tadahiko Mizuno von der Hokkaido Universität bestätigen. Er ist einer von 110 japanischen Wissenschaftlern, die bis Ende 1989 die staatlich geförderte Forschung aufgenommen hatten. 1991 musste er ein Experiment beenden, das ihm wortwörtlich zu heiß geworden war. Um den getränkedosengroßen Palladium-Reaktor abzukühlen, tauchte er ihn in einen Eimer Wasser. Am nächsten Tag war das Wasser fast vollständig verdampft. Innerhalb von fünf Tagen musste er es viermal auffüllen. Insgesamt generierte der Reaktor nach Abschaltung der Stromzufuhr 85 Megajoule Energie - genug um einen Toyota Corolla 33 Kilometer weit zu fahren. Zum Vergleich: Die größte erfolgreiche Heiße Fusion produzierte 1997 elf Megajoule, zwei Drittel der damals aufgewendeten Energie.

Oberfläche der Gold-Elektrode nach Mizunos Experiment: Aus diesen "Kratern" sind transmutierte Elemente herausgespuckt worden (starke Vergrößerung) (Bild: Mizuno)

1998 war auch in Japan die üppige Förderung http://www.lenr-canr.org/PDetail5.htm#1525 für die KF größtenteils ausgelaufen, für die die Regierung aber auch Unternehmen wie Technova, Mitsubishi Heavy Industries (MHI), Hitachi, Toshiba und Honda im Rahmen des Programms "New Hydrogen Energy" (NHE) gesorgt hatten. Mizuno und sein Kollege Tadayoshi Ohmori hatten Gold-Elektroden besorgen können und nach Elektrolyse eine kleine Sensation entdeckt: "Wir haben transmutierte Elemente auf der Goldoberfläche gefunden und welche, die durch kraterartige Löcher herausgeschleudert worden sind." Im Experiment tauchten Isotope von Elementen auf, die nicht nur vorher nicht da waren, sondern die auch verglichen mit der Natur relativ selten vorkommen: Quecksilber-200, Nickel-60, Eisen-57. Nun also die Umwandlung von Elementen - Gegenstand der Alchemie seit hunderten von Jahren. Anfangs war das sogar für KF-Forscher hart zu schlucken.

Für Mizunos Vermutung, dass die Kernreaktionen "an extrem aktiven Stellen der Metalloberfläche" stattfinden, haben 1999 Chemiker des SPAWAR-Forschungslabors der US Navy Belege gefunden. Mit einer Infrarotkamera filmten sie die Palladium-Elektrode und konnten zeigen, dass die extreme Wärme nicht im Wasser entsteht, sondern an lokalen, nuklear aktiven Regionen des Metalls. Die Gruppe gehört zu den produktivsten der Festkörperkernforschung, wie das Forschungsgebiet heute heißt. Als die Gruppe von Pamela Mosier-Boss eine Elektrode einem elektrostatischen Feld aussetzte, entdeckte sie Veränderungen wie Mizunos Krater. "Manche der Veränderungen sind konsistent mit Schmelzvorgängen. Palladium schmilzt bei 1554,9°C." Solch hohe Temperaturen konnten nur Ergebnis von Kernreaktionen sein.

Beleg für die Kalte Fusion? Spuren "nuklearen Ursprungs" auf einem Plastikdetektor (Bild: SPAWAR)

Auch Plastikdetektoren, wie Physiker sie zur Identifikation von nuklearen Teilchen nutzen, haben sie eingesetzt und einen Schauer von Spuren gefunden. "Wir sind uns sehr sicher, dass die Spuren einen nuklearen Ursprung haben", sagt Mosier-Boss, entweder Tritium, Protonen oder Helium-Isotope. Sicher ist sich die Gruppe allerdings auch, Spuren von Neutronen gefunden zu haben. Diese Messung hat teils emotionale Reaktionen bei Kollegen ausgelöst, denn sie verhagelt das harmonische Bild einer verstandenen Reaktion, an deren Ende nur saubere Energie und Helium-4 steht, das auf Kindergeburtstagen aus Luftballons eingeatmet wird. Doch wenn der Motor stottert, scheint auch die Entstehung von Tritium und sogar Neutronen bei Raumtemperatur möglich.

Drei Viertel aller Festkörperkernforscher sind überzeugt, dass die KF eine brauchbare Energiequelle sein kann. Ziel der Forschung von Fleischmann und Pons in Frankreich war die Entwicklung eines 10-Kilowatt-Prototyps - entsprechend der Motorleistung einer frühen Citroën "Ente". Von Experiment zu Experiment konnten sie die Energieausbeute steigern, bis eines Tages aus unerklärlichen Gründen die Elektroden versagten. Dieses allgegenwärtige Reproduktionsproblem lässt viele Wissenschaftler noch nicht an Anwendungen denken. Doch Fleischmann sieht "keinen Grund, warum man kein sehr aktives Forschungsprogramm mit dem Ziel eines 10-Kilowatt-Geräts haben sollte. Ein, zwei Episoden haben uns gezeigt, dass das innerhalb von fünf Jahren absolut erreichbar sein sollte." Teamgröße? "Nicht sehr groß. Etwa sechs."

2017: Time Zero

"Die Meere dieses Planeten enthalten 100.000.000.000.000.000 Tonnen Wasserstoff und 20.000.000.000.000 Tonnen Deuterium. Schon bald werden wir lernen, diese simpelsten aller Atome zu benutzen, um unbegrenzte Energie zu erhalten", hatte Arthur C. Clarke 1962 vorhergesagt. Zu diesem Zweck hat Jan Marwan eine viel versprechende wissenschaftliche Karriere aufgegeben und betreibt nun ein privates Forschungs- und Entwicklungslabor für Kalte Fusion in Berlin-Adlershof. Er gehört zur zweiten Generation der KF-Forscher. "Alles was bisher erbracht worden ist, ist erstmal ein Teil einer Grundlage, die weiter ausgebaut werden muss. Das sind Projekte für Jahrzehnte." Mit einem nano-technologischen Ansatz will er die Oberflächen von Palladium-Elektroden vergrößern und damit die Energieausbeute erhöhen, um letztendlich ein Gerät zu entwickeln.

In einem idealen KF-Reaktor wäre das Metall ein reiner Katalysator, das heißt es ermöglicht die Wasserstofffusion und wird nicht verbraucht oder durch Transmutationen beschädigt, und ein Bruchteil der produzierten Energie reicht aus, um ihn dauerhaft zu betreiben. Den Tag, an dem ein solcher, auf Knopfdruck Energie produzierender Prototyp den Ingenieuren übergeben wird, hat Rothwell als Time Zero bezeichnet. Angenommen dieses wäre 2017 - mit welchen Entwicklungen wäre zu rechnen?

"KF rückt kleine, dezentrale Leistungsaggregate mit wenig oder keinem nuklearen Abfall in Reichweite, wahrscheinlich klein und vielleicht tragbar", erwartet Mosier-Boss. Den Beginn der "nuklearen Katalyse" hat Clarke für 2020 angesetzt. Fleischmann schätzt, dass es sich dabei um häusliche Geräte zur Wärmeerzeugung handeln wird, zum heizen, kochen und waschen. "Viel der Energie, die wir heute noch als Elektrizität verbrauchen, werden wir zukünftig direkt als Wärme aus der Kalten Fusion beziehen", schreibt Rothwell. Damit ließe sich der häusliche Energieverbrauch um ein Drittel senken.

Kurze Zeit später, vielleicht 2027, könnten tragbare und miniaturisierte Stromquellen auf den Markt kommen: Batterien für Laptops und Handys, die lange Zeit ohne Wartung laufen. Ungefähr zeitgleich dürften die ersten KF angetriebenen Autos auf den Markt kommen, und Wasser würde nach und nach Benzin als Treibstoff verdrängen - die Rückkehr der Dampfmaschinen, anfangs als Teil eines Hybridmotors.

Solange industriell produziert wird oder große Maschinen betrieben werden, wird es auch einen Bedarf an Kraftwerken geben, die große Mengen Elektrizität liefern. Fleischmann sieht keinen Grund, warum die KF durch Multiplikation nicht auch eine Leistungsproduktion im Megawatt-Bereich ermöglichen sollte. 2030 könnte dieses möglich sein, vielleicht in Japan, deren Industrie sich bislang am meisten für die KF interessiert hat. "Wenn KF-Aggregate in allen Größen verfügbar sind, werden Produktentwickler neue Wege finden, diese zu benutzen, und die kumulativen Veränderungen werden unser Leben und Gesellschaft tiefgreifender verändern, als die Mikrocomputerrevolution es getan hat", ist sich Rothwell sicher.

"Außer Energie gibt es einen riesigen Bedarf an sauberem Wasser, zum trinken, für Landwirtschaft und Industrie", sagt Mosier-Boss. "Öl kann man nicht trinken." Meerwasser ist reichlich verfügbar, doch seine Entsalzung ist sehr energieintensiv. Saudi-Arabien betreibt 30 Entsalzungsanlagen, die gleichzeitig Strom produzieren. Jährlich produzieren die Scheiche einen Kubikkilometer Süßwasser, etwa ein Zehntel der Weltproduktion. Rothwell hat eine Vision: "Um die Wüsten zu bewässern, würde man ungefähr 9400 der großen saudischen Anlagen brauchen." Die entsprechenden Kosten von heute 8,4 Billionen Dollar mögen astronomisch klingen, sind jedoch nur das Dreifache der wahren Kosten des Irakkriegs seit 2003. "Entsalzungswerke werden eine der ersten KF-betriebenen Maschinen mit dem Potenzial globaler, dramatischer Verbesserungen sein. Sie werden die Wüsten aufblühen lassen." Beginn: 2040.

Dezentral einsetzbar: üblicher Reaktor zur Kalten Fusion (Bild: Mizuno)

Zwar scheint die KF auch mit Nickel oder Wolfrahm zu funktionieren, aber was wäre, wenn es nur mit Palladium klappt? "Wir synthetisieren heute im großen Stil Medikamente und Kunststoffe, die Chemiker gestern noch nicht in ihren Laboren herstellen konnten", schrieb Clarke vor langem. Ab 2040 "werden wir sicherlich in der Lage sein, dasselbe mit den Elementen zu machen." Durch kontrollierte Transmutation könnten sich nicht nur erwünschte Elemente wie Palladium, Kupfer oder Gold herstellen, sondern auch unerwünschte beseitigen lassen. 2000 hatte der ehemalige Forschungsdirektor des Mineralölmultis Shell, Jacques Dufour, eine erfolgreiche KF mit Uran-Elektroden durchgeführt. Dabei entstand nicht nur Überschusswärme, sondern "offenbar zeigte sich auch eine kleine Verringerung der Uran-Aktivität." Forscher des japanischen MHI-Konzerns können bereits heute die Elemente Cäsium und Strontium, die als radioaktive Isotope bei der Kernspaltung entstehen, in harmlose Elemente umwandeln.

Dass selbst die Natur dieses zu bewerkstelligen vermag, behauptet Vladimir Vysotskii. Der ukrainische Physiker arbeitet mit einem Cocktail mikrobiologischer Kulturen, die sich in einem kollektiven Gleichgewicht befinden und optimal an veränderte Umweltbedingungen anpassen können. Vysotskii nimmt acht Reagenzgläser mit Wasser und radioaktivem Cäsium-137. In sieben Gläser kommt der mikrobiologische Cocktail, und in sechs davon ein jeweils anderes Salz, das die Bakterien benötigen. Erstaunlicherweise ist die Radioaktivität in diesen sechs Gläsern nach 100 Tagen merklich verringert. Vysotskii vermutet, dass die Bakterien Energie aus der Umwandlung von Cäsium in nichtradioaktives Barium ziehen.

Sollten sich alle diese Ergebnisse als richtig erweisen, würde die biologische Transmutation ein völlig neues Weltbild der Evolution, Medizin und Geologie und neue bio- und nano-technologische Anwendungen einleiten. Ob nun biologisch oder technologisch, Dufour und Vysotskii glauben, dass schon um 2020 herum begonnen werden könnte, radioaktiven Sondermüll zu beseitigen. Kalte Fusion und Transmutation würden nicht nur für saubere und "grüne" Energie sorgen, sondern angerichteten Schaden ebenfalls wieder beheben helfen.

Chronologie der Festkörperkernforschung

  • 1926 Entdeckung der KF
  • 1935 Entdeckung der biologischen Transmutation
  • 1985 Durchbruch der KF
  • 1989 Öffentliche Vorstellung der KF; Bestätigung von Überschusswärme und Tritium; Entdeckung der Transmutation
  • 1991 Korrelation von Helium-4 und Überschusswärme
  • 1992 KF-Durchbruch mit Nano-Partikeln
  • 1996 Bestätigung der Transmutation
  • 1999 Entdeckung der KF als lokaler Oberflächeneffekt
  • 2002 Gezielte Transmutation
  • 2012 Beginn großer KF-Forschungsprogramme
  • 2017 Time Zero: Übergabe der KF auf Knopfdruck an Ingenieure
  • 2020 Erste Heizanwendungen; Neutralisierung von radioaktivem Sondermüll
  • 2027 Batterien und Automobile
  • 2030 Großkraftwerke
  • 2040 Entsalzungsanlagen; kontrollierte Synthese von Elementen
  • 2090 Replikator
  • 2100 Geschichte beginnt

An der Weggabelung

Um zu wissen, ob dieses Szenario realistisch ist, müsste man es drauf ankommen lassen. Tatsächlich kann sich die Festkörperkernforschung jedoch nur mühsam selbst über Wasser halten. Das Gebiet zählt schätzungsweise 400 mehr oder weniger aktive Wissenschaftler. Experimentatoren sind größtenteils an professionellen Einrichtungen tätig, doch viele haben ihre Forschung auch schon aus der eigenen Tasche bezahlt. Ein existenzielles Problem ist, dass es kaum Nachwuchs gibt und die erfahrenen Leute, die junge Forscher einweisen könnten, vor der Pensionierung stehen.

Und doch sind die involvierten Forscher optimistisch, die Kalte Fusion auf Knopfdruck vielleicht schon in ein paar Jahren zu erreichen. Zunehmend wird dazu übergegangen, Know-how nicht vollständig zu publizieren, sondern als Wettbewerbsvorteil zu benutzen. Es gibt mehr Risikokapital als früher. Aber einen politischen und wirtschaftlichen Willen zu einem großen Forschungsprogramm gibt es nicht. Eigentlich hat es ihn nie gegeben, bedauert Fleischmann. Das japanische NHE-Forschungsprogramm, durch das auch er und Pons gefördert worden waren, war 1998 nicht beendet worden, weil es sich als aussichtslos erwiesen hätte. Auch Shell hatte Dufours Forschung "auf höchster Ebene" unterstützt, aber nie ausgeweitet.

Die KF ermöglicht eine dezentrale Energieproduktion. Wenn aber Häuser Wärme und Strom selbst produzieren, gibt es keinen Bedarf mehr für Großkraftwerke und Überlandleitungen. "Ein funktionierender KF-Generator, egal zu welchem Preis, egal auf welchem Markt, wird der Todeskuss für die Energieindustrie sein", schreibt Rothwell. Vysotskii sieht durch Anwendungen der Transmutation eine "Möglichkeit für den Ausbau der nuklearen Energieproduktion, für existierende und neue Kernkraftwerke weltweit". Doch Rothwell sieht langfristig nicht mal eine Chance für letztendlich sogar billigere KF-Großkraftwerke. "Bis diese gebaut sind, werden sich schon so viele Menschen kleine Aggregate gekauft haben, dass es keinen Markt mehr für zentral produzierte Energie geben wird."

Jan Marwan sieht die Kalte Fusion als Teil eines wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Paradigmenwechsels (Bild: Marwan)

Im Gegensatz zur Verbrennung oder Kernspaltung sind KF und Transmutation schöpferische Prozesse. Wasserstoffatome fügen sich kollektiv zu einer höheren Ordnung. "Kalte Fusion kann man auch gesellschaftlich sehen", findet Marwan. "Wenn alte Lehrsätze über Bord geworfen würden, wäre die Kalte Fusion ein neues Ordnungsprinzip, nach dem sich dann viele neue Dinge ausrichten." Gesellschaftlich steht die KF für die Überwindung des Feuers, einen Durchbruch, der nur noch mit der Erfindung der Sprache und Landwirtschaft vergleichbar wäre. Es scheint als stünden wir Menschen an einer Weggabelung. Der eine Weg führt wahrscheinlich zu noch mehr Chaos in Natur und Gesellschaft. Der andere ist neu, kreativ und vermutlich nachhaltig. Wenn Clarke Recht behält, führt letzterer 2090 zum Replikator, mit dem beliebige Gegenstände - wie bei Star Trek - nuklear hergestellt werden können. Bis 2100 die Geschichte beginnt...

Populärwissenschaftliche Literatur

Arthur C. Clarke, Profiles of the Future, Indigo, 1999.
Steven B. Krivit/Nadine Winocur, The Rebirth of Cold Fusion, Pacific Oak, 2004.
Tadahiko Mizuno, Nuclear Transmutations, Infinite Energy, 1998.
Jed Rothwell, Cold Fusion and the Future, LENR-CANR.org, 2007.

Wissenschaftliche Literatur

Jan Marwan/Steven B. Krivit, Low-Energy Nuclear Reactions Sourcebook, American Chemical Society, 2008.
Edmund Storms, The Science Of Low Energy Nuclear Reaction, World Scientific, 2007.
Vladimir I. Vysotskii/Alla A. Kornilova, Nuclear Fusion and Transmutation of Isotopes in Biological Systems, Mir, 2003.