Nach Afghanistan sind Angriffe auf weitere Länder absehbar

Ein Gespräch mit dem US-Friedensforscher Michael T. Klare

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Michael T. Klare ist seit 1985 Professor für Studien des Friedens und der Weltsicherheit am Hampshire College in Amherst im Bundesstaat Massachusetts. Er ist Vorstandsmitglied in der "Arms Control Association" und im Nationalrat der amerikanischen Wissenschaftlervereinigung. Klare ist Autor und Co-Autor zu Militärfragen in zahlreichen Büchern und Zeitschriften, unter anderem in Foreign Affairs und The Nation. Er war der erste Sozialwissenschaftler, der nach den Terroranschlägen am 11. September öffentlich die Frage nach dem Warum stellte.

In mehreren im Internet und in Printmedien veröffentlichten Artikeln sagte Klare noch vor Beginn des Krieges gegen Afghanistan ein Drei-Stufen-Szenario voraus: Angriffe auf Afghanistan, Raketen- und Luftangriffe auf mutmaßliche Lager Usama bin Ladins, auf Ziele im Libanon, Sudan, Tadschikistan und Usbekistan sowie einen Angriff auf den Irak und andere Länder, die als "Herbergen des Terrorismus" eingestuft werden.

Kurz nach Kriegsbeginn haben Sie ein Dreistufenszenario vorausgesagt: Angriffe auf Afghanistan, Raketen- und Flugzeugangriffe auf mutmaßliche Lager von Usama Bin Ladin, im Libanon, Sudan, Tadschikistan und Usbekistan sowie Angriffe auf den Irak und andere Länder, die "Terroristen" beherbergen sollen. Sehen Sie sich jetzt bestätigt ?

Michael T. Klare: Das Szenario entfaltet sich bisher so, wie es geplant war. Wir hören vom Pentagon und vom Weißen Haus, dass dies erst Phase eins sei, und dass weitere Schritte folgen werden. Und in der Tat verstärken die USA ihre Militärhilfe an die philippinische Militärregierung, um den Krieg gegen die Abu-Sayyef-Guerillas in Mindanao zu intensivieren. Trotzdem ist richtig, dass der Feldzug in Afghanistan nicht so schnell fortschreitet wie viele Strategen in Washington sich das vorgestellt hatten. Was das Tempo dämpft. Aber im Allgemeinen verläuft der Krieg nach Plan.

Erwarten Sie mehr Sondereinheiten und Bodentruppen in der Region ?

Michael T. Klare: Ja. Ich nehme an, dass US-Sondereinheiten für lange Zeit in der Region in und um Afghanistan bleiben werden. Ihr Ziel besteht darin, die Jagd auf Usama Bin Ladin fortzusetzen und sicherzustellen, dass seine Anhänger ihre Operationen nicht an andere Orte in der Region verlagern.

Während der Milzbrand-Debatte entstand der Eindruck, dass der Irak das nächste wahrscheinliche Angriffsziel werden könnte. Gibt es für eine irakische Verwicklung wissenschaftliche Beweise?

Michael T. Klare: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt weist nichts darauf hin, dass der Irak hinter den Anthraxfällen in den USA steckt. Aber viele Politiker in Washington gehen offenbar davon aus, dass der Milzbrand aus dem Irak gekommen ist. Deshalb ist eine Entscheidung, den Irak zu bombardieren, nicht auszuschließen - selbst wenn keine wissenschaftlichen Beweise existieren.

Tony Blair meinte, der Krieg könne zehn Jahre dauern, George Bush sprach von mindestens zwei Jahren. Welchen Zeitrahmen halten Sie für realistisch?

Michael T. Klare: Das kann zur Zeit niemand mit Sicherheit sagen. Es könnte durchaus sein, dass Bin Ladin innerhalb der nächsten paar Wochen geschnappt wird - was ein schnelles Kriegsende bedeuten könnte. Aber ebenso ist es möglich, dass er nicht gefunden wird, und dass der Krieg deshalb weitergeht. Denkbar sind auch unerwartete Ereignisse, die den Krieg verlängern könnten. Denken Sie nur an einen Bürgerkrieg in Pakistan. Einen realistischen Zeitrahmen vorherzusagen, ist wirklich nicht machbar.

In Artikeln kurz nach Kriegsbeginn wiesen Sie darauf hin, dass die Ziele, die sich die Antiterror-Koalition gesetzt hat, unklar seien. Hat sich dies geändert?

Michael T. Klare: Ich meine, dass wir es mit zwei Kriegen zu tun haben: einen gegen Usama Bin Ladin und die Attentäter vom 11. September in New York und Washington sowie einen davon getrennten Krieg gegen die Taliban und potentielle weitere Feinde der USA im Mittleren Osten. Der erste Krieg hat die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, er zielt auf die Zerschlagung der Terrororganisation Ben Ladins ab, und er soll die Hintermänner der Anschläge vom 11. September zur Verantwortung ziehen. Dem zweiten Krieg fehlt es an internationaler Unterstützung. Er bezweckt die Verstärkung und den Ausbau der amerikanischen Militärpräsenz am Persischen Golf und in der Region am Kaspischen Meer.

Wie stabil ist das internationale Bündnis? Können sich die USA auf Pakistan, Saudi-Arabien, China und Russland verlassen ?

Michael T. Klare: Die Antiterror-Koalition ist höchst instabil. Die pakistanische Regierung könnte schnell zu Fall kommen, wenn sich der Krieg gegen die Taliban hinauszögert und viele Zivilisten in Afghanistan getötet werden. Saudi-Arabien ist nicht wirklich Teil des Bündnisses. Es hat den USA einen Großteil der angeforderten Hilfe verweigert. Moskau und Peking werden solange mit im Boot bleiben, wie Washington keine Aktivitäten unternimmt, die von ihnen als Gefährdung eingeschätzt werden, zum Beispiel die Raketenverteidigung, die "National Missile Defense".

Q. Wie beurteilen Sie die Rolle Deutschlands und dessen Angebote, die Koalition zu unterstützen?

Michael T. Klare: Ich nehme an, dass Deutschland wie andere europäische Länder - England als einziges ausgenommen - den ersten Krieg unterstützt, nämlich die Bin-Ladin-Organisation zu zerschlagen. Aber ich glaube nicht, dass Deutschland den Krieg Nummer zwei, den Krieg um die amerikanische Dominanz in der Region Persischer Golf/Kaspisches Meer, unterstützen kann. Deshalb ist Deutschland wie andere europäische Länder in einem Dilemma gefangen: Wie Unterstützung für den ersten zeigen, aber nicht für den zweiten?