Journalisten vor Gericht - Datenvernichter frei

Die Konsequenzen aus dem Aktenskandal im Bundeskanzleramt

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Juristische Folgen scheint der Aktenskandal im Bundeskanzleramt zunächst nicht für die beteiligten Datenvernichter, sondern für die Aufklärer seitens der Presse zu haben. Am morgigen Freitag werden erneut drei Redakteure der "Zeit" vor dem Amtsgericht Hamburg Mitte auftreten müssen. Angeklagt sind sie des Geheimnisverrats. Sie haben aus "amtlichen Schriftstücken eines Strafverfahrens in wesentlichen Teilen im Wortlaut" vor einer "öffentlichen Verhandlung" veröffentlicht. Es drohen Geldbußen, ja sogar Freiheitsstrafen.

Das Trio hatte über die "Operation Löschtaste" im Bonner Kanzleramt, die 1998 just nach den verlorenen Bundestagswahlen über die Bühne ging, berichtet und dafür wortgetreu aus dem geheimen Abschlussbericht des Sonderermittlers Burkhard Hirsch (siehe auch Interview) zitiert. Anzeige wurde erstattet. Jedoch nicht gegen die Datenvernichter, die drei Gigabyte Daten auf dem Gewissen haben, sondern gegen die Journalisten Bruno Schirra, Thomas Kleine-Brockhoff und Martin Klingst.

"Aktenvernichtung von unvorstellbarer Qualität"

In der aktuellen Zeit bilanziert der Präsident des Bundesarchivs, Hartmut Weber, ernüchtert: "Der Fall der Aktenvernichtung im Kanzleramt von Helmut Kohl erreicht eine für Archivare bislang unvorstellbare Qualität." Die Herren im Bundeskanzleramt hätten den Regierungswechsel nicht als demokratischen Normalfall, sondern "offenbar als eine 'feindliche Uebernahme' angesehen."

Damals wurden, so geht aus dem Hirsch-Bericht hervor, Daten bewusst und koordiniert gelöscht, Vorgänge aus Akten ausgeheftet. Verschwunden sind sogar die Registraturhilfsmittel, die die Vorgänge nachweisen könnten. Transparenz und Kontrolle wurden so ganz bewusst verhindert. So darf es nicht verwundern, dass dies vor allem Akten zu Treuhand-Privatisierungen, zum Verkauf der Leuna-Raffinerie, zum Waffenexport von Fuchs-Spürpanzern sowie zum Bau einer Panzerfabrik in Kanada betrifft. Nach Auffassung von Weber hat die Vernichtungsaktion gegen geltende Rechts- und Verwaltungsvorschriften verstossen, wonach "der Stand einer Sache jederzeit aus den Akten vollständig ersichtlich sein" muss.

Präzendenzfall für kritische Berichterstattung

Schon letzte Woche wurde gegen die "Zeit"-Journalisten verhandelt. Damals las der Richter jedoch lediglich den inkriminierten Zeit-Artikel sowie Teile der Akten vor. Er versuchte die Angeklagten davon zu überzeugen, eine Geldbuße zu akzeptieren - damit sei auch kein Schuldeingeständnis verbunden.

Die Redakteure wollen allerdings auf keinen Fall eine Einstellung des Verfahrens. Bruno Schirra gegenüber telepolis: "Es ist eine grundsätzliche Angelegenheit, die auch grundsätzlich behandelt werden sollte." Ein Urteilsspruch, aber auch eine Geldbuße würde "eine bestimmte Art von Berichterstattung verhindern." Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", der nach dem "Zeit"-Bericht ebenfalls zitierte und danach beklagt wurde, hatte die Geldbuße anstandslos bezahlt.

Kanzlergate bleibt folgenlos?

Als US-Präsident Richard Nixon über den Watergate-Skandal stürzte, waren das Letzte, was er retten wollte, hunderte von Tonbändern. Jedes Gespräch im Weißen Haus hatte Nixon aufzeichnen lassen. Teilweise kompromittierendes Material über Motive und Strategien im Vietnam-Krieg, zum Verhältnis zu China. Nixon konnte die meisten Bänder behalten und musste nur - gerichtlich gezwungen - einen kleinen Teil herausgeben.

Die amerikanische Politik zog ihre Lehren aus dem Skandal: 1974 verpflichtete der Freedom of Information Act alle Einrichtungen des Bundes, mit Ausnahme des unmittelbaren Mitarbeiterstabs des Präsidenten, jedem Bürger auf schriftlichen Antrag Unterlagen zugänglich zu machen. Die Antwort muss binnen 10 Tagen erfolgen, weitere 10 Trage sind möglich. Der Fall zeigt Schirra, dass "eine abendländische Arroganz gegenüber dem amerikanischen Demokratieverständnis nicht angemessen ist."

In der Tat hat die deutsche Politik bis zum heutigen Tag keine Lehren aus dem Aktenskandal im Bundeskanzleramt gezogen. Bis heute gibt es kein ähnlich großzügiges Informationsfreiheitsgesetz. Als als EU-Kommissionspräsident Romano Prodi unterhält Schröder nicht einmal eine Liste, aus der sich ersehen ließe, wer ihm Post zukommen lässt und welche Post er beantwortet.

Dass Politiker Akten als Privatbesitz betrachten, ist nicht ungewöhnlich, weiß Hartmut Weber: "Ohne irgend ein Unrechtsbewusstsein nehmen sie "ihre" Dokumente nach dem Ende ihrer Amtszeit mit. Oft landen Schriftstücke von Politikern auch als so genannter Nachlass in den Regalen der Parteistiftungen, was für die Arbeit des Bundesarchivs nicht unproblematisch ist."

Immerhin hat die Bundesregierung eine neue Richtlinie für den Aktenumgang erlassen. Darin steht: "Dokumente dürfen aus der Akte nicht entfernt, bei Nutzung elektronischer Vorgangsbearbeitung nicht gelöscht werden." Auch wird eine persönliche Aneignung aller "bei der Erfüllung von Aufgaben des Bundes erstellten oder empfangenen Dokumente" verboten.

Die deutsche Presse übrigens hat aus dem Skandal nichts gelernt: Eine nachhaltige Debatte über mehr Transparenz und Kontrolle hat sie bis heute nicht in Gang gebracht.