George W. Bush ist rechtlich, aber wahrscheinlich nicht faktisch der von der Mehrheit gewählte US-Präsident

Bei einer Nachzählung der als ungültig erklärten Stimmen in Florida hätte Al Gore knapp gewonnen

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Wie schon vermutet wurde, ergab die von einem Medienkonsortium beauftragte Auszählung der wegen Unleserlichkeit nicht gezählten Stimmzettel bei der Präsidentschaftswahl im letzten Jahr, dass George W. Bush heute nicht Präsident wäre, hätte man damals eine Nachzählung im gesamten Bundesstaat Florida gemacht. Nach den Anschlägen vom 11.9. war die Veröffentlichung der Ergebnisse verschoben worden, vermutlich um die Position des Präsidenten nicht zu schwächen oder um selbst nicht als unpatriotisch zu gelten.

Ob George W. Bush im November des letzten Jahres tatsächlich die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte, blieb angesichts der vielen als ungültig erklärten Stimmen und mancher anderer Unregelmäßigkeiten umstritten, zumal der Vorsprung von Bush über Al Gore äußerst knapp war. Besonders im wahlentscheidenden Bundesstaat Florida, in dem ausgerechnet der Bruder von George W. Bush Gouverneur ist, traten die meisten Beschwerden und Unstimmigkeiten auf. Anfang Dezember entschied schließlich der Oberste Gerichtshof, dass die vom Supreme Court Floridas angeordnete Nachzählung der als ungültig deklarierten Wahlzettel eingestellt werden müsse. Ein Konsortium von Medien, darunter die New York Times, die Washington Post, das Wall Street Journal, Tribune Publishing, AP oder CNN, hatte angesichts des umstrittenen Wahlausgangs beschlossen, eine Nachzählung durchführen zu lassen (Hätte Al Gore doch die Präsidentschaftswahl gewonnen?).

Beauftragt wurde mit der Nachzählung der nicht maschinell erfassten 175.000 Wahlzettel, bei denen die Stimmabgabe nur unvollständig ausgestanzt wurde, das National Opinion Research Centre (NORC) an der University of Chicago. Dort hatte man spätesten ab 8. Oktober alle Daten zur Nachzählung vorbereitet, die Ergebnisse sollten aber die Auftraggeber selbst vornehmen. Dann startete der Krieg gegen Afghanistan, und man sah es offenbar nicht als opportun an, die Ergebnisse der Nachzählung zu veröffentlichen. Die Washington Post macht neben "einigen technischen Problemen" noch einmal vornehmlich die Anschläge vom 11.9. für die Verzögerung verantwortlich, "weil die Nachrichtenmedien ihre ganzen Ressourcen der Berichterstattung über die Terrorangriffe und die darauf folgenden Ereignisse widmeten". Das war schon früher die nicht recht glaubwürdige Begründung für die Verzögerung. Wie sich jetzt herausstellt, hätte eine Nachzählung aller Stimmen, die in Florida als ungültig erklärt wurden, tatsächlich zu einer Niederlage von George W. Bush geführt.

Allerdings machen etwa die Washington Post, die New York Times oder die Los Angeles Times ihre Artikel über die Auszählung anders auf. Hätte man zwei auf bestimmte Wahlkreise in Florida beschränkte manuelle Nachzählungen, die von Al Gore und vom Obersten Gerichtshof Florida gefordert wurden, tatsächlich fertiggestellt, so wäre bei diesen 43.000 Wahlzetteln weiterhin Bush der knappe Gewinner geblieben. Insofern hatte der Oberste Gerichtshof der USA mit seinem Urteil, der mit einer knappen Mehrheit von 5:4 einen Abbruch der Nachzählung verlangte, tatsächlich nicht damit zuungunsten von Al Gore entschieden, wie die New York Times hervorhebt.

Die Washington Post hingegen streicht unter dem Titel Study Shows Recounts Would Have Elected Bush heraus, auch die jetzt erfolgte Nachzählung der 175.010 Wahlzetteln aus 67 Wahlbezirken zeige, dass niemand mit Sicherheit sagen könne, wer die Wahl in Florida wirklich gewonnen hat, da bei allen Szenarien von den insgesamt 6 Millionen Stimmen der Gewinner höchstens 500 Stimmen mehr als der Verlierer gehabt hätte. CNN legt den Schwerpunkt darauf, dass auch die Nachzählung von NORC fehlerhaft sein könne, da sie von Menschen vorgenommen worden sei, die sich irren könnten, zumal die Nachzählung in den Wahlbezirken deswegen auch zu abweichenden Ergebnisse hätte führen können. Allerdings hätten die Wissenschaftler bei 97 Prozent der Wahlzettel eine übereinstimmende Meinung gehabt. Da fällt der Irrtumsspielraum dann doch recht klein aus.

Fest steht jetzt, dass Al Gore eine falsche Taktik eingeschlagen hatte, als seine Anwälte nur eine Nachzählung in wenigen Wahlbezirken zu erwirken suchten. Und Bush hatte einen Fehler gemacht, als er Widerspruch vor dem Obersten Gerichtshof der USA wegen der von Florida Gericht geforderten Nachzählung einlegte. Es stellt sich aber auch heraus, dass die Wahlzettel viele Wähler, vornehmlich Gore-Wähler, verwirrt hatten. So hatten mehr als 110.000 Wähler versehentlich mehrere Kandidaten gewählt. Da sich natürlich nicht zweifelsfrei sagen lässt, wen sie wirklich wählen wollten, wurden diese Wahlzettel bei der Nachzählung nicht berücksichtigt.

Der Pressesprecher des Weißen Hauses, Ari Fleischer, meinte nur, wahrscheinlich darauf hoffend, dass die Bürger in Kriegszeiten ihre Aufmerksamkeit nicht zu genau darauf richten: "Die Wähler haben diese Wahl im letzten Herbst entschieden, und die Nation ist seitdem schon lange weiter gegangen. Das Weiße Haus ist daran nicht sehr interessiert, auch die Wähler sind es nicht." Natürlich, eine Demontage des kriegführenden Präsidenten als nicht wirklich demokratisch legitimiert, wäre jetzt fatal, selbst wenn Bush nach dem Recht unstreitig weiterhin der "Sieger" ist. Al Gore hält sich wohlweislich zurück und sagt nur, dass die Präsidentschaftswahlen vorbei und die USA ein Rechtsstaat seien: "Und unsere Nation ist natürlich gerade mit einer großen Herausforderung konfrontiert, da wir versuchen, erfolgreich den Terrorismus zu bekämpfen. Ich unterstütze Präsident Bush voll darin, dieses Ziel zu erreichen." Und die US-Medien haben sich schon des längeren in die Pflicht nehmen lassen.