Experimentelle Software II

Games - Browser - Sets of instructions - Some more beginnings...

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Das Computergame "Wolfenstein" steht in Deutschland auf dem Index, weil die deutschen Soldaten, die in dem Spiel die Gegner sind, mit detailgenau gezeigten Nazi-Ornat, also mit "verfassungsfeindlichen Symbolen", gezeigt werden. Auch die Tatsache, dass es in dem Spiel darum geht, Nazis umzubringen, hat es ihm nicht erspart, hierzulande als Verharmlosung des Faschismus betrachtet zu werden (Hakenkreuz-Game im Anmarsch). Die Version des Spiels des Künstlerduos Jodi dürfte derartige Kritik wohl kaum treffen: sie haben aus dem Game alles entfernt, was gegenständlich ist.

Wolfenstein von Jodi

Das Spiel, das bei Computerspiel-Fans gerade wegen seiner ausführlichen und detailfreudigen Darstellung von Mord und Totschlag beliebt war, ist nun zur einer mysteriösen Schwarzweiß-Landschaft geworden, bei dem man nur selten erkennen kann, was einen da gerade jagt oder den Weg versperrt. Das Schloss mit den verschlungenen Gängen, durch die man den Weg zum Ausgang finden muss, sieht aus wie eine Galerie in der nur Kopien von Malewitschs "Schwarzem Quadrat" an den Wänden hängen; die Nazis sind zu schwarze Dreiecke geworden, die man nur noch daran erkennt, dass sie gelegentlich "Achtung!" schreien.

Auch einer Version des First-Person-Shooters-Spiels "Quake" haben Jodi jedes Leben ausgetrieben: bei "CTRL-SPACE" manövriert sich der Nutzer durch ein flackerndes Schwarzweiß-Interieur ohne erkennbare Ausstattung: "Es sieht aus wie ein Op-Art-Gemälde, in das man hineinsteigen kann", findet Dirk Paesmans von Jodi. Tatsächlich haben Jodi hier alles entfernt, was den speziellen Reiz des Spiels ausmacht: aus den genau gerenderten Spielorten und lebensechten Gegnern, bei denen das Blut in hoher Auflösung spritzt, wenn man sie trifft, ist ein trübes Niemandsland geworden, in dem es auch kaum je Mitspieler gibt, obwohl "CTRL-SPACE" wie das Original-Spiel von mehreren Spielern in einem Netzwerk oder über das Internet gespielt werden kann - allerdings mit dem Unterschied, dass es bei dieser Version von "Doom" eigentlich nichts mehr zu spielen gibt, und aus einem Game, das seine Spieler normalerweise die Haare zu Berge stehen lässt, eine bedrückend leere Angelegenheit geworden ist.

Computerspiele sind im letzten Jahr zunehmend von den Massenmedien und Museen zum Thema gemacht und weniger als Gefahr für die Jugend, sondern als kulturelles Phänomen diskutiert worden. Das amerikanische Internet-Magazin Switch widmeten dem Thema eine Sonderausgabe, und auch eine Reihe von Ausstellungen beschäftigten sich mit dem Computerspielen, die in den letzten zwanzig Jahren zu einem Massenphänomen geworden sind, das eine riesige Fan-Subkultur hervorgebracht hat.

Während bei der Ausstellung Game Over in Zürich Computerspiele als kulturelle Erscheinung im Mittelpunkt standen, zeigten Synworld bei der t0 Public Netbase in Wien und Re-Load beim Berliner Kunstverein "Shift e.V." Computergames von Künstlern, die zum Teil eigens für die Ausstellungen entstanden sind. So wie sich die Künstler-Games von den Originalen unterscheiden, so unterschied sich auch ihre "museale" Präsentation von den meisten Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst: bei "Shift" blieb die Ausstellung einmal in der Woche bis spät in die Nacht offen, um die Besucher zu stundenlangen "Deathmatches" über das interne Netzwerk einzuladen.

Dass inzwischen eine ganze Reihe von Künstler eigene Versionen von bekannten Spielen entwickeln konnten, liegt nicht zuletzt daran, dass viele der bekanntesten Spiel eigene "Editoren" besitzen. Mit diesen Programmen können Fans eigene "Levels", also selbstgestaltete Ebenen für Games wie "Unreal", "Doom" oder "Quake", schaffen können. Während sich die meisten der sogenannten "custom levels" bemühen, den Realismus der Vorbilder zu imitieren, versuchen die Künstlerversionen freilich, sich von ihren Vorlagen so weit wie möglich zu entfernen und ihnen ihren "Naturalismus" auszutreiben.

Das Wiener Künstlerpaar Max Moswitzer und Margarete Jahrmann haben ein "custom level" des Spiels "Unreal" entwickelt, das vor einem komplett abstrakten Hintergrund stattfindet: Linx3d setzt sich aus dreidimensionalen Logfiles und anderem Zahlensalat zusammen, durch das sich der User manövrieren muss. Die Arbeiten, die beim "Shift e.V." in Berlin zu sehen war, dekonstruierten und verfremdeten sämtlich das Ballerspiel "Quake": in der Version von Christine Meierhofer sieht das Spiel aus, als bestünde es aus zarten Kohlezeichnungen; das Künstlerduo "noroomgallery" (Florian Muser und Imre Osswald) verlegten den Ort das Gemetzels in die Hamburger Galerie für Gegenwart, wo die "Quake"-Monster zwischen Ölgemälden und Installationen aufeinander einschlagen und -schießen: "Dort, wo sonst schlimmstenfalls die Wortsalven des Museumspädagogischen Dienstes den Besucher am kontemplativen Kunstgenuss hindern, machen es ihm die Geschosse von heranstürmenden Playern herzlich schwer bis in die 3. Etage zu den deutschen Malern vorzudringen", heißt es sardonisch in der Ankündigung des Spiels auf der Website.

Linx3d

Bei alle diese Versionen von Games geht es letztlich um die kulturelle Aneignung von einem Computerphänomen, das immer weitere gesellschaftliche Kreise zieht. Die Kuratorin Annemarie Schleiner schreibt in einem Essay in "Switch":

"The parasitic game patch is a means to infiltrate gaming culture and to contribute to the formation of new configurations of game characters, game space and gameplay. Like the sampling rap MC, game hacker artists operate as culture hackers who manipulate existing techno-semiotic structures towards different ends."

Die Computerspiele von Künstlern sind daher vor allem eine Methode, um ins Innerste eines kulturellen Systems vorzudringen, und dieses gegen seine Intention und gegen die ihm eingeschriebene Nutzungslogik zu wenden.

Browser

Eine andere Art vom zielgerichteten Missbrauch existierender Computer-Technologie sind die zahlreichen Browser von Künstlern, die in den letzten beiden Jahren in so großer Zahl entstanden sind, dass man - wie bei den "Gamespatches" - fast schon von einem eigenen Subgenre der gegenwärtigen Netz- und Computerkunst sprechen kann.

Das bekannteste derartige Projekt ist zweifelsohne der "Web Stalker", der Londoner Künstlergruppe I/O/D , der im Mai 2000 den "WebbyAward", eine Art Internet-Oscar, in der Kategorie "Internetkunst" gewonnen hat (Lang lebe der Web-Stalker!). Andere Arbeiten, die die Software, mit der man sich durch das Internet bewegt, problematisieren, stammen von Tom Corby and Gavin Baily sowie Maciej Wisniewski. Auch Jodi haben in diesem Jahr eine Reihe von "Wrongbrowsern" veröffentlicht, die in Telepolis schon an anderer Stelle vorgestellt worden sind (Unheil auf dem Desktop).

Doch das Werk, das in diesem Bereich die Maßstäbe gesetzt hat, ist und bleibt der Web Stalker von I/O/D. Mit dem Programm kann man durch das Internet "surfen", wie mit dem "Netscape Navigator" oder dem "Microsoft Explorer", doch im Gegensatz zu diesen kommerziellen Programmen zeigt der "Web Stalker" genau das, was "normale" Browser zu verbergen versuchen. Statt schön gestalteter Websites sieht man mit dem "Web Stalker", was unter dieser Oberfläche liegt: den Code, in dem die Seiten geschrieben wurden und die Struktur der Websites, die in komplexen Diagrammen auf dem Bildschirm erscheinen.

Matthew Fuller von I/O/D hat das Programm mit Gordon Matta-Clarks Dekonstruktion von leerstehenden Häusern in den 70er Jahren verglichen. Mich erinnert der "Web Stalker" eher an die gelochte Postkarte von Yoko Ono, die bis vor einigen Jahren unter dem Titel "A hole to see the sky through" in der Edition Staeck erhältlich war. So wie Onos Karte zu einem neuen, unvoreingenommenen Blick auf dem Himmel, den man täglich sieht, ohne ihn wahrzunehmen, einlädt, so erlaubt auch der "Web Stalker" eine Perspektive auf das WorldWideWeb, der sich von den Oberflächenphänomen frei macht und ihn als das erscheinen lässt, was es ist: eine Ansammlung von digitalen Daten auf Servercomputern, deren Organisation durchaus ihre eigene, wenn auch nur selten gesehene Schönheit haben.

Doch für I/O/D ist der "Web Stalker" nicht nur ein Werkzeug, das einen "formalistischeren" Umgang mit dem Computer möglich macht, sondern auch ein sozio-politisches Statement:

"If we are locked in with the military and with Disney, they are locked in not just with us, but with every other stray will to power... We believe that the computer, like everything else, is composed in conflict. Somewhere between the construction of the data-mines and the desire for the abolition of work which is embedded in the machines is where we are now - but these are not the only possibilities. Geometry is not just the discipline of quantification, but also the art of tricking new spaces into being."

Browser von Jodi

Die Auseinandersetzung mit und die Kritik an der Metaphorik, die sich um das WorldWideWeb gebildet hat, steht auch bei den anderen Browser-Projekten im Mittelpunkt. Nach herrschender Terminologie "surfen" wir im "Web", das - durch die gängigen Programme betrachtet - als aus einer Ansammlung von "Seiten" ("Homepages") besteht, die auf "Sites", also an scheinbar physischen Orten gespeichert, liegen sollen. Durch die muss man "navigieren" oder "manövrieren", und zwar mit Software, die so bezeichnende Namen wie "Explorer" (Entdecker) und "Navigator" (Steuermann) hat. Diese fast kolonialistisch anmutenden Metaphern sind freilich nur eine Art Blümchentapete, die überdecken, was wir tatsächlich tun, wenn wir das Web benutzten: wir laden Daten von einem Computer in den Arbeitsspeicher unseres eigenen Computers.

Kunstbrowser wie der "Web Stalker" oder reconnoitre von Tom Corby and Gavin Baily wollen der gängigen Netzmetaphorik widersprechen: das Programm will keine Webseiten zeigen, sondern das "Surfen" als Aktivität sichtbar machen. Der "Browser", den die beiden Künstler selbst ironisch als "disfunktionale Software" beschreiben, zeigt nur einzelne, zufällig auf Websites zusammengesuchte Stichworte, die - weiß auf schwarzem Hintergrund - durch einen scheinbar dreidimensionalen Raum schweben, sich drehen und wenden, und gemeinsam eine automatisch generierte Textcollage ergeben. Einmal gestartet bewegt sich das Programm selbständig durchs Internet, dem "User" bleibt nichts weiter übrig, als passiv zuzusehen, was sich auf dem Bildschirm entwickelt - für die Künstler ein technologisch erfahrener "Derive", "ein beiläufiges Schweifen durch den Text, das fragmentarisch, unvollständig und von fröhlicher Zwecklosigkeit ist."

Auch beim netomat des New Yorker Künstlerprogrammierer Maciej Wisniewski ist kein Klicken notwendig: das Programm benötigt lediglich ein Stichwort, um aus dem Internet Textzeilen und Bilder zusammenzusuchen, die auf dem Bildschirm zu einer arbiträren Collage zusammengefügt werden. Der Künstler sagt über sein Werk:

"Software ist nicht neutral. Software schafft eine Weltanschauung. Software strukturiert und beeinflusst die Politik und die Soziologie von Kommunikation. Es organisiert unsere kognitiven Prozesse. In einer vernetzten Welt ist das sehr wichtig, weil es einen großen Einfluss auf die Distribution und (Re-)Präsentation von Information hat. Wenn man eine bestimmte Software wie den "Internet Explorer" benutzt, um sich das World Wide Web anzusehen, dann unterstützt man einen bestimmten Blick auf das Netz."

Wisniewski bietet das Programm als "Open Source Software" an, und hofft, dass bald andere Programmierer "netomat" modifizieren und weiterentwickeln; demnächst soll das Programm auch Sounds aus dem Netz wiedergeben können.

Sets of instructions II

"The idea becomes the machine that makes the art", hat Sol LeWitt 1967 in einem berühmt gewordenen Manifest der Konzeptkunst dekretiert. In den Computerprogrammen von Künstlern der Gegenwart ist diese Vorstellung zu einem radikaleren Ende getrieben worden, als die Generation der frühen Konzeptkünstler mit ihren Handlungsanweisungen und ihren Konzepten (die im Fall von LeWitt längst wieder zu dekorativen Wandmalereien geworden sind) es je zu träumen gewagt hätten. Die Software-Projekte der letzten Jahre führen - im Wortsinn - Dinge aus, die Künstler vor mehr als zwanzig Jahren mit der Schreibmaschine niedergeschrieben hätten - hätten sie denn gewusst, was ein Pentium-III-PC im Jahr 2000 ausrechnen kann.

Doch diesem Essay geht es nicht darum, die Konzeptkunst der Sixties zu diskreditieren oder gegen die experimentelle Software der Gegenwart auszuspielen. Es soll auch nicht die Software von Künstlern der Gegenwart - die von traditionellen Kunstbetrieb der Gegenwart hartnäckig ignoriert werden - als High Art nobilitiert werden. Die Programmen, die in diesem Essay vorgestellt werden, könnten zwar durchaus als quasi naturwüchsige "letzte Konsequenz" bestimmter Tendenzen in der Kunst der Moderne betrachtet werden. Aber sie erschöpfen sich darin nicht. Interessanter ist es, sich diese Software nicht nur als Kunst (und auch nicht als "Anti-Kunst") anzusehen, sondern als "Nicht-nur-Kunst", wie es Matthew Fuller von I/O/D nahegelegt hat.

Der Vergleich zwischen der historischen Konzeptkunst aus den späten 60er und frühen 70er Jahren und der computerbasierten Kunst der Gegenwart offenbart vielmehr ein interessantes Konfliktfeld zwischen der avanciertesten Kunstpraktik der 60er Jahre, der Zeit, in der sich die sogenannte "Informationsgesellschaft" formierte, und den avanciertesten Kunstpraktiken der Gegenwart, in der diese Informationsgesellschaft zur täglichen - und keineswegs überwiegend erfreulichen - Realität einer Mehrheit der Menschen in der "Ersten" Welt geworden ist.

Die Software von Künstlern, die in diesem Essay beschrieben wird, sind potenziell für jeden Computerbenutzer erhältlich und benutzbar: sie können umsonst aus dem Internet auf den privaten Rechner heruntergeladen werden. Wenn man Kunstterminologie benutzt, sind diese Software-Kunstwerke Multiples in unbegrenzter Auflage; wenn man Computerterminologie benutzt, sind sie Freeware, Gratis-Software von fanatischen Programmierern; wenn man realistisch ist, sind sie schneller vergessen, als sie programmiert wurden, weil sie für Betriebssysteme geschrieben wurden, die schon bald wieder obsolet sein werden. Sie sind zum größten Teil im Umfeld der Netzkunst-Szene entstanden, aber fast alle laufen auf dem eigenen PC; sie brauchen das Internet meist nicht als Bedingung, sondern nur als Möglichkeit (obwohl die meisten der Künstler, die sie geschrieben haben, auch im Internet aktiv sind).

Herbert W. Franke mit Horst Helbig: Fourier-Transformation

Viele dieser Software-Projekte sind in gewisser Hinsicht Fortsetzungen der Arbeiten, die in den 60er und 70er Jahren unter dem Label "Computerkunst" entstanden sind. Die Computerkunst, wie auch die mit Computern generierten Texte und Kompositionen aus dieser Zeit, sind ungeliebte Kinder der künstlerischen Gattungen geblieben, denen sie sich zugehörig fühlten. Sie wurden von den Geisteswissenschaften kaum berücksichtigt, geschweige denn in den Kanon der Literatur, der Kunstgeschichte oder der Musikwissenschaft übernommen. Anhand Arbeiten, die als damals als Computerkunst firmierten, ist aus heutiger Perspektive auch leicht zu klären, warum sich die Kunstwelt von diesen Arbeiten kaum angezogen fühlte. Die abstrakten Figuren und Formen, die Künstlern wie Herbert W. Franke, Frieder Nake, Kenneth Knowlton, Georg Nees oder Michael Noll mit Hilfe der damaligen Mainframe-Computern schufen, waren mit ihren geometrischen Formen, ihren Linien, Rechtecken und Kreisen, leicht als ein aufgewärmter, ästhetisch antiquierter Konstruktivismus abzutun.

Aus heutiger Sicht erscheinen freilich viele der Werke der Computerkunst in ihrer Methode als Konzeptkunst. Der Künstler Herbert W. Franke, der mit einer ganzen Reihe von Büchern als Propagandist der Computerkunst aufgetreten ist, betonte in seinem Buch "Leonardo 2000", dass die Computerkünstler die "Idee über die Realisation" stellten und wies auch selbst auf die Parallele zur Konzeptkunst hin. Tatsächlich waren die meisten Arbeiten aus dem Genre der Computerkunst jedoch Drucke, die mit Plottern und Nadeldruckern auf Papier ausgegeben wurden. Diese Bilder waren zwar das Produkt von - oft von den Künstlern selbst oder in ihrem Auftrag geschriebenen - Programmen. Doch obwohl sie das Resultat des Ablaufs von Computerroutinen waren, war das Kunstwerk, das gezeigt wurde, ein relativ traditionell wirkendes Bild, nicht das Programm, das diese Werke hervorgebracht hatte.

Doch auch wenn die "klassische" Computerkunst einem traditionellem Kunstverständnis durch ihre Praxis entgegenarbeitete, lehnte sie dieses in ihrer Theorie ab und verstand sich eigentlich als Kritik am "Originalkünstlertums" und am existierenden Kunstsystems. 1973 schrieb Franke:

"In der apparativen Kunst verschwindet die Kunst des Originals; zum Teil gibt es dieses überhaupt nicht mehr; an seine Stelle tritt das Programm. Es entspricht den Noten in der Musik, der Partitur, die das betreffende Musikstück in einer codierten Form enthält - und damit den gesamten immateriellen Wert. Nur in der bildenden Kunst mit ihrem Mangel an Reproduktionsmöglichkeiten konnte es zur Überbewertung des Realisats kommen, was zu einigen kuriosen Entwicklungen geführt hat. Eine davon ist die Kommerzialisierung des Kunsthandels, die Spekulation mit Werken der bildenden Kunst, die Herausbildung von Stars, die hohe Preise auf dem Kunstmarkt erzielen und deren Arbeiten wie Aktien gehandelt werden. Das sind entscheidende Hemmnisse vor einer Demokratisierung - sie schließen auch die Beteiligung breiter Kreise von vornherein aus. Somit weist die apparative Kunst auch ein soziales Potential auf, das die Möglichkeit in sich trägt, die Situation der Kunst im visuellen Sektor in wünschenswerter Weise zu verändern."

Der hier formulierte Anspruch war freilich durch die Praxis der meisten Computerkünstler nicht gedeckt: sie produzierten traditionell wirkende Kunstwerke, Drucke auf Papier. Die Programme, deren Resultat diese Arbeiten waren, wurde nicht in den Vordergrund gestellt. Darin unterscheidet sich die "klassische" Computerkunst von den Arbeiten, die in den letzten Jahren als "Stand-alone-Application", also als autonomes Programm für den PC, entstanden sind. Während die Arbeiten der Computerkünstler, die Franke in seinen Büchern zu kanonisieren versuchte, dem "endgültigen" Produkt den Vorrang geben, geht es bei der Künstler-Software der letzten Jahre ausschließlich um den Prozess, der durch den Einsatz dieser Programme ausgelöst wird. Während die Computerkunst der 60er und 70er Jahre die Vorgänge im Computer nur als Methode, nicht als eigenes Werk betrachtete, den Rechner als eine Art "Black Box" behandelten, und die Vorgänge in seinem Inneren verschleierte, wollen die Software-Projekte der Gegenwart genau diese Vorgänge thematisieren, sie transparent machen und zur Diskussion stellen.

Doch das ist freilich die Kritik eines Nachgeborenen. Zu der Hochzeit der "klassischen" Computerkunst waren Computer rare Maschinen, die fast ausschließlich an Universitäten und in Firmen und so gut wie gar nicht im Besitz von Privatpersonen zu finden waren. Computerprogramme selbst als Kunstwerke zu produzieren und zu vertreiben war schon deshalb ein Unding, weil sie fast niemand hätte benutzten können. Erste in den letzten zehn, zwanzig Jahren ist durch die massive Verbreitung von Personal Computern ist die Idee, ein Computerprogramm als Kunstwerk aufzufassen und an andere User weiterzugeben, sinnvoll geworden.

Die Programme von Künstlern, die in diesem Text vorgestellt wurden, sind aber auch der Versuch, sich den Computer wieder als ein Kulturgut anzueignen, und seine Oberfläche und seine Festplatte nicht ausschließlich der Software von einigen wenigen US-Konzernen überlassen, deren Vormachtstellung weniger auf der Qualität ihrer Programme, sondern vor allem auf ihrer Marktmacht beruht. Diese Arbeiten erobern den Desktop des Computers zurück für kulturelle und künstlerische Aktivitäten, die nicht von den Produkten eines bestimmten Großunternehmens abhängig sind. Sie hinterfragen die Dominanz der "benutzerfreundlichen" Programme von Konzernen wie Microsoft und Apple, denn sie zeigen den Computer als die vertrackte Maschine, die er tatsächlich ist, und nicht als heitere Point-and-Klick-Apparatur, als den ihn uns Programme mit Graphical User Interface (GUI) präsentieren.

Das Graphical User Interface hat seit Anfang der 80er Jahre den Computer von Geräte für eine kleine Kaste von Freaks zu einer Maschine für den Hausgebrauch werden lassen, das grafisch navigierbare WorldWideWeb hat das Internet vom Privileg einer kleinen Gruppe von Akademikern und Programmierern zum Massenmedium gemacht. Das sind ohne Zweifel emanzipatorische Errungenschaften. Doch die leichtere Bedienbarkeit von Rechner und Netz, die diese grafischen Oberflächen bedeuten, sind durch eine Reduktion von Komplexität erkauft worden. Die Software-Projekte, die dieser Artikel beschreibt, machen den Computer als hochkomplexe Maschine wieder sichtbar.

Some more beginnings...

Vor fast genau 30 Jahren fanden in New York zwei der wichtigsten Ausstellungen der Konzeptkunst und der sich entwickelnden Medienkunst statt: "Information" (Museum of Modern Art, New York, 1970) und "Software" (Jewish Museum, New York, 1971). Die Kunst-Software handelt genau davon, was die Ausstellungstitel versprachen und die dazugehörigen Shows nur zum Teil hielten. Sie sind Software, und sie verarbeiten Information. In diesem Sinne haben sie uneingelöste Versprechen der Konzeptkunst realisiert.

Die Konzeptkunst der 60er Jahre, die bei diesen Ausstellungen gezeigt wurde, kann heute auch als kulturelle Begleitmusik der Umwandlung der westlichen Welt vom klassischen Kapitalismus, bei dem die Erwirtschaftung eines Mehrwerts durch den Verkauf von materiellen Gütern entstand, zu einer informationsbasierten Ökonomie, in der Mehrwert aus der Weitergabe von Informationen entsteht, verstanden werden. Die frühen Werke der Konzeptkunst bestanden nicht zu letzt deswegen ausschließlich aus Information, weil sie sich der Produktion von warenförmigen Kunstprodukte, die verkäuflich waren, entziehen wollten.

Dass das ein vergebliches - und irgendwie auch anachronistisches - Unterfangen war, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass die Werke der Konzeptkunst sehr wohl wieder zu Produkten geworden sind, mit denen gehandelt und spekuliert werden kann. Dazu haben nicht nur die Künstler selbst beigetragen, die in ihrer Produktion bald dem Kunstmarkt entgegengekommen sind. Dass Kunst, die aus Informationen besteht, doch wieder eine verkäuflichen Waren sein kann, hat auch die Entwicklung des westlichen Kapitalismus der Moderne zu einer postmodernen "Informationsgesellschaft" beigetragen, in der auch nicht-materielle Güter wie Daten oder Software zu Produkten geworden sind.

Wie sich die Software-Kunst in diesem Kontext positionieren wird, bleibt abzuwarten. Bisher gibt es keinen Hinweis darauf, dass aus den Computerprogrammen von Künstlern ein kunstmarktkompatibles Geschäftsmodell erwachsen könnte, auch wenn einige der Software-Künstler versucht haben, ihre Arbeiten zu verkaufen. Die meisten der Programme sind jedoch "Freeware", also Gratis-Software, und werden es wohl auch bleiben. Im Gegensatz zur Konzeptkunst, die schon früh von einflussreichen Galeristen getragen und promotet wurde, ist die Software-Kunst der Gegenwart zum größten Teil eine private Aktivität, die jenseits des Kunstmarkts stattfindet und höchstens von staatlichen Institutionen durch Stipendien oder durch die Einladung zu Medienkunst-Festivals unterstützt wird. Das hat zweifellos zu der Qualität der Arbeiten beigetragen, die so einen großen Freiraum für Experimenten boten, weil sie sich nicht nach den Interessen von Galeristen und Sammlern richten mussten.

Doch auch wenn die Programmierarbeiten der Gegenwart in gewisser Weise wie Fortsetzungen der Konzeptkunst mit neuen Mitteln wirken, müssen sie keineswegs ausschließlich als Kunst betrachtet werden. Sie sind "experimentelle Software", die für jeden interessant ist, der einen anderen Blick auf seinen Computer werfen will. Dass es einen Bedarf danach gibt, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass ein Programm wie der "Web Stalker" zusammen mit anderen Freeware-Programmen auf verschiedenen CD-Rom-Beilagen von Computerzeitschriften in Großbritannien und Deutschland verbreitet wurde. Software-Arbeiten von Künstlern können als Kunst betrachtet werden, aber man kann sie auch benutzen (und goutieren), ohne auch nur zu wissen, dass sie Kunst sind. Man muss nicht gleich davon träumen, "das Macintosh-Interface abzureißen und niederzubrennen", wie es I/O/D in einem Interview vorschlagen. Aber Programme wie ihr "Web Stalker" erinnern daran, dass das Bedienen von Microsoft Windows nicht die einzige Methode ist, mit einem Computer zu interagieren; sie machen den Computer wieder ein bisschen unzugänglicher und ein bisschen seltsamer als er uns heute nach dem Willen der Software-Produzenten erscheinen soll.