Corpus absconditus

Zu Ehren des jüngst verstorbenen Philosophen veröffentlicht Telepolis einen bislang unpublizierten Essay des Philosophen und hat Rudolf Maresch eine kurze Hommage an den liebenswürdigen Querdenker verfasst

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In der Nacht vom 28. auf den 29. Oktober 2001 ist Dietmar Kamper, der Philosoph und Verfasser unzähliger Bücher und Schriften, Professor für Soziologie und Historische Anthropologie an der Freien-Universität Berlin, nach schwerer Krankheit im Alter von 65 Jahren in seinem Haus im Odenwald gestorben. Auch für Telepolis hatte Kamper mehrere Texte verfasst.

Dietmar Kamper wurde vor allem als Medium und Promoter des sog. neufranzösischen Denkens bekannt, und zwar lange bevor es hierzulande zum Mainstream in den Kulturwissenschaften avancierte. Von akademischen Gegnern gern als "Dunkelmann" verschrien, zeigte der Querkopf und Häretiker glatter Diskurse stets eine ausgesprochene Vorliebe für das Schräge und Unstete, Ungerade und Komplexe, Störende und Verstörende. Sprichwörtlich war seine Aufmerksamkeit für kommende Themen und Theorien. An vorderster Front des Diskurses hielt er sich auf, was ihm nicht immer die nötige Anerkennung seiner Kollegen einbrachte. Die war ihm aber meist ebenso egal wie die Bezeichnung "Soziologe", die ihm die Universität Berlin verlieh. Auch in diesem Fach erwies sich Dietmar Kamper als unordentlich.

War er dem Mainstream immer auch ein paar Jahre voraus, ein Trend- oder gar Modephilosoph war Kamper mit Sicherheit nicht. Hatte er einmal einen Gegenstand als wichtig oder als den seinen erkannt, dann knetete er ihn solange durch, bis der sich ihm in allen seinen Facetten und Paradoxien zeigte. Eine abschließende Be- oder Verurteilung vermied er aber leidenschaftlich. Bunkermentalität oder Denken in Befestigungsanlagen war ihm ein Gräuel. Diese Art des Herangehens an Themen, Dinge und Phänomene hat sein Freund Heinrich Treziak einmal als "fromm" bezeichnet. Und diese Achtung und Verehrung den Objekten und Erscheinungen gegenüber merkt man seinen Texten und Schriften an.

Zu Ehren Dietmar Kampers veröffentlicht "Telepolis" einen bislang noch nicht publizierten Text, der sowohl im Hinblick auf die Sterblichkeit und Endlichkeit des eigenen Körpers als auch im Hinblick auf die Ereignisse vom 11. September, die eine Eskalation des Hasses und der Selbsteliminierung sowie eine Niederlage einer bestimmten Spielart monströsen abendländischen Denkens gebracht haben, als sein Vermächtnis angesehen werden. Wieder klingen darin die uns vertrauten Themen an, die ihn in den letzten Jahren umtrieben, ihn zum Umtriebigen gemacht haben und im Ausspruch Emile Ciorans kongenial beschrieben sind: "Pour ne pas crier j'ècris", die Hybris des Machens und Herstellens; die Abstraktion und Immanenz der Bilder und des Bildhaften; die Permanenz des Phantasmatischen in den Diskursen der Aufklärung; das Freilegen der Kehr- und Schattenseite einer entfesselten Moderne; die Sterblichkeit und der Tod des Körpers, die Heillosigkeit der Welt und, als letzte Ausfahrt sozusagen: das Plädoyer für eine andere Form des Sehens und der Wahrnehmung, das Körperdenken.

Und wieder und zum letzten Mal zeigt Kamper darin auch seine sprichwörtliches "Gespür" für das, was an der Zeit ist, nämlich Gegenwarts-Diagnose, und seine "Spürnase" für Themen der Zukunft, für Raum und Körper, für das Virale und die Blowbacks des Objekts. Ursprünglich war der Text für den Band Kommunikation, Medien, Macht. Aus technischen Gründen konnte dort leider nur eine Kurzfassung abgedruckt werden.

In Telepolis veröffentlichte Texte von Dietmar Kamper:

Der anthropologische Schlaf und die Träume vom Aufwachen
Re-Signation in Sao Paulo
Telepathie in Telepolis

Rudolf Maresch

Dietmar Kamper: Corpus absconditus. Das Virtuelle als Spielart des Absenz

Drei Vorsätze

Was gegenwärtig geschieht, ist immer noch weitgehend unbekannt. Wir sind nicht gut informiert über die Umstände und Folgen der Information. Ist es überhaupt eine Explosion? Ist es eine Implosion? Ist es eine Rückkopplung?

In der Durchführung des großen Projekts der Moderne, die Welt von religiöser Sinndeutung zu befreien und sie "auf den menschlichen Kopf zu bauen" (wie Hegel schrieb), gibt es eine Menge Rückstände, die wir immer noch nicht als selbstgemacht durchschauen. Nie war soviel Abfall wie heute. Wir schließen davor die Augen. Die Devise lautet: Weitermachen, auf Teufel komm raus! Und der ist inzwischen erschienen. Man muss ihn nur wahrnehmen. Das Vermögen dazu nenne ich die "Wahrnehmung der selbstgemachten Ungeheuer" - eine Selbstbegegnung der besonderen Art, der dritten Art wahrscheinlich.

Um aus dem Traum der Vernunft, der Ungeheuer gebiert, nicht aufwachen zu müssen, wird die bittere aber nötige Wahrnehmung negiert, abgelehnt, verdrängt. Der Traum der Vernunft ist der von der Unsterblichkeit, vom Über-Leben, vom Gewinn der Ewigkeit. Soviel dürfte aber inzwischen klar sein: dass dieser Traum die Erde verwüstet.

Verblüffend ist, dass er dem alten religiösen Wahn sehr ähnlich ist. Ich spreche deshalb von einem theo-technologischen Kontinuum (Ohne Körper geht es nicht). Was die Religionen nicht geschafft haben, soll nun die Technik schaffen. Deshalb haben noch immer die alten Fragen der Allmacht Vorrang, sei es der Allmacht Gottes, sei es der des Menschen. Sie betreffen die Omnipotenzphantasien einer infantilen Menschheit. Denn Macht, ganz besonders Allmacht, ist infantil, genauer: knabenhaft.

Wer die Augen aufmacht und aus diesem Traum erwacht, sieht Schwer-Erträgliches. Eine Ent-Täuschung ist aber unumgänglich. Ich glaube, dass die Kunst der Moderne diese Enttäuschung ist, während Wissenschaft und Technologie weiterträumen, jedenfalls in ihrem hauptsächlichen Antrieben. Die Kunst dient dem Leben, nicht dem Überleben. Sie ist ein Agent der Erde, nicht des Himmels. Davon will ich im Folgenden sprechen, nicht pessimistisch, nicht optimistisch, sondern auf eine nüchterne, wenn auch leidenschaftliche Weise. Es ist schwierig einzusehen, dass es in Wirklichkeit keine Gewinner gibt und dass es keine Technik der Unzulänglichkeit und des Scheiterns gibt, wohl aber Virtuosität. Das ist mein Gegenwort zur Virtualität. Und damit bin ich beim Thema.

Fünf Haupt- oder vielmehr Körpersätze

Das Virtuelle ist das Mögliche, das jederzeit und überall auch anders Mögliche. Es besteht in einem Abschied vom Körperlichen, in dem es die Bedingungen der Zeit und des Raums negiert und damit seine eigene Genese verleugnet. Es markiert zugleich die Grenzen der menschlichen Eigenmacht, indem es eine imaginäre Immanenz ausbildet, ein transparentes Gefängnis des absoluten selbstbezüglichen Geistes, der nichts anderes mehr hat als sich selbst. Dieses Monströse ist als Inbegriff der Aufklärung selbst unaufklärbar. Vielleicht verkappt sich darin das Luziferische, jener dunkle Einschlag in die Menschennatur, von dem schon die ältesten Schriften berichten.

Wer in die Skala der Dringlichkeit die Verschiebung der Modalitäten ermittelt, bemerkt eine merkwürdig hartnäckige Tendenz: Es gibt ein Gleiten von der Notwendigkeit über die Wirklichkeit zur Möglichkeit. Die historische Fracht wandert. Schließlich gibt es nichts Notwendiges mehr, nichts Wirkliches mehr, sondern nur noch Mögliches. "Alles wird möglich" - ein rezenter Slogan der deutschen Telekom meint nicht nur einen Zuwachs an Macht, sondern auch einen Zuwachs an Ohnmacht, die spezifisch menschlich ist.

Nietzsche hat es zuerst bemerkt, und zwar mit Entsetzen. In einer genuin menschlichen Welt, die anfänglich die alte Schöpfung des alten Gottes ablösen sollte, überwiegt bald das bloß Ausgedachte, das Konzeptionelle, das Projektartige. "Alles Gedachte bleibt irreal" (Nietzsche), aber es bleibt. Es verschwindet nicht. Es wuchert und wuchert sich aus, ohne dass es bisher eine Möglichkeit gäbe, die Wucherungen des Möglichen hinlänglich zu erfassen. Insofern ist sein Name "das Monströse" nicht übertrieben.

Es kann jedoch nicht einfach erklärt, verstanden oder gar gezeigt werden. Vielmehr bedarf es eines Rucks, einer kleinen Verrücktheit der Wahrnehmung, um es überhaupt zu bemerken. In der Hauptrichtung der Erkenntnis sind die Ursachen und die Folgen der Erkenntnis nicht erkennbar. Man muss daneben geraten, para-noia. Dann erst schärft sich der Verdacht, dass die verrutschte Fracht mit dem ältesten Frevel, mit dem Sündenfall, mit dem Aufstand der Engel zu tun haben könnte. Der reine Geist in seiner Absolutheit und Selbstbezüglichkeit ist luziferischer Natur, ein böser Gott, der die Folgen seiner Allmacht zu erleiden hat und insofern völlig unfähig ist zu leben und zu sterben. Das hat die Schlange im Paradies gemeint: "Ihr werdet sein wie Gott!" ... "Ihr wisst, aber ihr wisst nicht, was ihr wisst. Ihr seid ins Wissen eingesperrt auf immer und ewig, unfähig zu jeder Veränderung, Veranderung. Eure Erkenntnis ist längst schon ein Gefängnis."

In der historischen Kette der Abstraktionsmuster (nach Jochen Hörisch: Abendmahl, Geld, Medien) ist ein Gipfel der Macht erreicht: die Bildabstraktion, in der anstelle der Dinge und Menschen Bilder von Dingen und Menschen grassieren. Sie ist die wirksamste, da sie nicht unterdrückt, sondern entfesselt. Das heißt: übervolle Bildflächen und Bildschirme, zugleich leere, tote Räume. Aber die Hochwertung der Bilder und Zeichen ist unabdingbar eine Verachtung der Dinge. Der triumphale Sieg über das, was ist, erweist sich als schlimmste Niederlage. Bildermachen ist zuletzt Körpertöten - ein perfektes Verbrechen. Die wichtigste Frage der Zeit lautet: Was wird mit den Leichen (Vilém Flusser)? Das verabschiedete Körperliche hat die quälende Qualität des Abfalls und des Mülls angenommen und wirkt sich als Störung in Permanenz aus.

Um in die Differenz von Körper und Bild eintreten zu können, bedarf es der Zuspitzung: Der Unterschied, der zieht, spannt sich auf zwischen bildlosen Körpern und körperlosen Bildern. Die intermediären Zustände verdecken eher das Problem, insbesondere wenn man von Körpern immer nur wie von Körperbildern spricht, ohne die Abstraktion zu ahnen, die historisch über Etappen bereits investiert ist. Die Körper, die aus der sprachlichen Unterdrückung freikamen, scheinen als Bilder von Körpern ein nie gekanntes Maß an Freiheit zu demonstrieren. Das ist faszinierend.

Wenn man auf Bildflächen verbleibt, hat diese Wahrnehmung einen hohen Grad an Plausibilität. Wenn man jedoch in die Räume wechselt, sei es durch Verweigerung der schönen Oberflächen, sei es - im Souterrain der Bilder - durch die Wahrnehmung der Interfaces zwischen Fläche und Raum, ändert sich das Bild bis zur Kenntlichkeit: das Model, z. B. das perfekte "Bild von einer Frau", ist eine Leiche. Die Hochkonjunktur der Bilder ist - auf der Kehrseite - eine permanente Vernichtung der Körper, der Körperlichkeit der Dinge, der Dinglichkeit der Körper.

Das hat Jean Baudrillard gemeint, als er vom "perfekten Verbrechen" schrieb, das seiner Aufklärung hartnäckigen Widerstand entgegensetzt, weil die Leiche fehlt, und auch der Täter, und fast alle Zeugen. Vielleicht aber sind mit erweiterter, verrückter Wahrnehmung dennoch Spuren zu finden. Vielleicht ist es ein imperfektes Verbrechen, das zwar nicht mehr "gutzumachen" ist (welches Verbrechen wäre je wieder gut zu machen gewesen), das aber in seiner Funktionsweise genauer begriffen werden kann. Flussers Frage eröffnet einen anderen Blick auf das Verworfene, auf die neue Qualität der Störfaktoren, die niemals mehr ausgeräumt werden können, auf die längst unbestreitbare Tatsache, dass der Abfall den Fall längst überwiegt und dass die Lähmung den Fortschritt fest im Griff hat. Die Behauptung, hunderttausendfach wiederholt, "dass alles klar sei", ist eine absolut lächerliche These, eine These zum Todlachen, in des Wortes buchstäblicher Bedeutung.

Es hat inzwischen ein Platzwechsel zwischen Realität und Fiktion stattgefunden. Der "eherne Gang der Dinge" und der "freie Lauf der Phantasie" sind überkreuz geraten: nun rutschen, stürzen, fallen die Eck-Daten unentwegt und alle Phantasmata nehmen im panischen Gegenlauf Zwangscharakter an. Das führt zu einer schmerzlosen Dummheit der beteiligten Menschen. Die Verachtung der Welt wird zwangsläufig zur Selbstverachtung. Dadurch schlägt an der Macht des Virtuellen eine machtvolle Ohnmacht durch, der die Selbsteliminierung auf dem Fuße folgt. Das wäre die von Günther Anders prognostizierte Menschenleere der Zivilisation. Der globale Koloss ist - weil er sich befreit hat von Ort und Zeit, von Lokalität und Temporalität - marode bis ins Mark.

Der Sinn des großen Menschenwerks einer genuin menschlichen Welt kann nicht in die Präsenz gezwungen werden. Der Sieg ist umstandslos die Niederlage, trotz aller Beschönigungen und trotz des unendlich leeren Geschwätzes zu ihrer Kaschierung. Die erreichte Macht ist marode, das heißt, sie ist eine Modalität der Ohnmacht, die man sich nicht eingesteht, noch nicht eingesteht, noch nicht eingestehen muss. Die erreichte Menschenmacht ist mit der schmerzlosen Dummheit der Menschen befestigt.

Wer auf diesen Panzer verzichten kann, hört auf mit dem stillschweigenden Einverständnis. Da liegt eine neue Quelle der Kritik; in der Verweigerung der regulierten Wahrnehmung und im Bestehen auf die Absenz des Sinns, des Sieges, des Heils und damit der Heilsbedürftigkeit. Denn die Homogenität der wahrgenommenen Welt ist alles andere als harmlos. Im Kern des Einverständnisses liegt verkapseltes Gift, ein Geschenk mit der Aufforderung, freiwillig auf sich selbst zu verzichten. Kein Körper allein, in einer entkörperten Welt, hält die Spannung aus ohne Verzicht. Selbstachtung, Selbsthass, Selbsteliminierung in welcher Form auch immer, ob als abrupter oder schleichender Selbstmord, ob als Anpassung an die Leichenexistenz oder als kurzes Protestfeuer dagegen mit dem passenden Stoff genährt - die Eskalation ist unaufhaltsam, wenn es nicht gelingt, das Unbewusste und den Unwillen zu organisieren.

Es ist wirklich nur eine Nuance, eine winzige Verschiebung im Spektrum des Verschobenen, ein um ein Winziges verschobenes Spiel. Der als Niederlage durchschaute Sieg, die als Ohnmacht erlittene Macht öffnet die Passage zum Erwachsenwerden. Das infantile Machtspiel hört auf interessant zu sein. Dann implodiert die schmerzlose Dummheit. Das tut weh und macht Lust. Das präpariert eine schöne Virtuosität, nämlich die Allianz von Sterblichkeit und Freiheit, von Lebendigkeit und Endlichkeit, die in einer Entscheidung für das Hier und Jetzt unwiderstehlich ist. Not lehrt beten, sagt man, aber die Lust, die keine Ewigkeit will, beendet die Dummheit, die nur die Kehrseite der Angst ist. Keine Angst mehr vor der Angst. Von nun an kann man nicht mehr mit dem Tod, aber auch nicht mehr mit dem Leben bedroht werden.

Die Kunst ist in die Sinne verpflichtet (Rainer Maria Rilke). Sie hat es mit dem zu tun, was nur einmal wirklich ist - und erst dann ewig möglich sein kann. Sie ist von ihrem Anfang an Agent des Irdischen, Zeuge und Zeugnis jenes sterblichen, weil lebendigen, Gottes, der "Körper" heißt, und der nicht verwechselt werden darf mit den vielen Leichenbildern vom Körper, sei es mit der Maschine. Die Kunst ist nicht Vollstreckung des Virtuellen, sondern Unterbrechung der Abstraktionen auf dem Wege zu ihrem Gipfel, insbesondere also der Bildabstraktion. Sie kehrt dagegen ihre Blöße heraus und unterläuft mit hautloser Wahrnehmung die schmerzlose Dummheit der Menschen, wie sie gesellschaftlich und geschichtlich produziert worden ist. Statt einer Bilderproduktion in Medienkonkurrenz betreibt sie eine sorgsame Installation von Körpern auf Zeit, die bis zu den Sternen reicht (Maurice Merleau-Ponty). Diese sind definitiv unvorstellbar und passen in kein Bild.

Es ist zweifellos risikoreich, gegen das Denken zu denken, im Denken etwas zu errichten, an dem das Denken scheitert. Aber es gibt keine andere Möglichkeit. Wer die dem Denken inhärente Ewigkeitssucht unterbrechen will, um so in der Zeit zu sein, in der irreversiblen Zeit der vergehenden Augenblicke, trifft auf die rasante Schönheit des Einmal und Niewieder. Die Körper auf Zeit sind nur irdisch und irdisch nur um den Preis, dass sie nicht dauern. Insofern entspricht dem Denken gegen das Denken die skandalöseste Absenz, die unmögliche Gegenwart dessen, was aufgrund seiner wirklichen Einmaligkeit, die vorüber ist, ewig möglich bleibt. Die aufgeschobene Epiphanie des Erhabenen, das schöne Ereignis, das ausbleibt. Um davon überhaupt Zeugnis geben zu können, bedarf es der Vorsorge. Man müsste das Geheimnis hüten nach Art der negativen Theologie, der negativen Anthropologie, die im Äußersten auf die Umfassung verzichtet und sich umfassen lässt - ein maximales Behälterdenken, das den großen Behälter verweigert. Günstiger jedoch wäre das Denken der Schnittstelle, der Wunde des Körpers, die nicht heilt.

Wo immer man sich denkend nähert und die nächste Nähe erreicht, öffnet sich eine neue Dimension, ein Punkt, der sich selbst vergisst, eine Linie, die ihre Punkte vergisst, eine Fläche, die ihre Linien vergisst, ein Raum, der seine Fläche vergisst, eine vierdimensionale Wirklichkeit, die ihre Räume vergisst usf. Schnittstellen sind irreversibel und dem Denken asymmetrisch. Das Singuläre erweist sich als Mannigfaltigkeit, als "Manchfaltigkeit" (Oken). Es gibt Manches und es gibt Falten. Mehr lässt sich zunächst nicht sagen, sonst wird alles, was einmal Geist war, zum Gespenst, zum Ungeheuer, zum Monstrum.

An der Schnittstelle des irdischen, sterblichen Körpers wird die ausgedehnte Menschenmacht zunichte. Hier und jetzt ist da und nun die Grenze, die behutsam "demarkiert" werden kann. Es sei denn, man wählt den Weg des Vergessens, den Weg ins Monströse. Dann kommt die Kehrseite eines "Corpus absconditus" zum Austrag: Alles wird möglich, bleibt ewig, höret nimmer auf - und produziert eine gnadenlose Gleichgültigkeit gegen jeden, der leben will, infiltriert sein Bewusstsein und seinen Willen, errichtet Bastionen und Verteidigungsanlagen um des Über-Lebens willen und kann doch nur die maßlose Indifferenz des toten Gottes realisieren. Armes Menschengeschlecht.

Kunst spielt also auf der Grenze des menschlichen Machtwahns. Sie ist in der Weise der Wahrnehmung des Monströsen eine spezifische Kritik der unsichtbar gewordenen Macht, die aber das Kritisierte nicht hochjubelt. Nur so kann sie unter jedem Topos eine Trope entdecken, in jedem Fundament die harten Effekte einer Umstülpung. Deshalb ist sie notwendig ein Scheitern, wahrscheinlich ein virtuoses: Wie immer in ausweglosen Lagen geht sie mitten hindurch, sich selbst durchstreichend. Damit zeigt sie, wie marode die Macht ist und wie wirklich die ursprüngliche Fiktion eines verschwenderischen Lebens sein kann, das den Tod nicht scheut.

Das Schwierigste seit jeher war es, in einer Kritik der Verhältnisse diese nicht zu befestigen, die Macht durch Kritik nicht maßloser zu machen als sie ohnehin schon ist, die Verachtung nicht in die Form einer Verehrung zu gießen und das Denunzierte nicht heimlich zu heiligen. Das bekommt weder dem Kritisierten noch der Kritik, der letzteren am wenigsten. Eine befestigte Kritik hat sich selbst neutralisiert und ist nicht mehr in der Lage, dem Gestaltwandel zu folgen, den die mächtigsten Götter der Gegenwart: Lug und Trug, angeordnet haben. Eine Topologie lediglich der Macht würde nichts nützen. Erörterung und Platzanweisung sind historisch obsolete Fähigkeiten der Vernunft, die am entscheidenden Punkt (Linie, Fläche, Raum) versagen und das für gegeben nehmen, was bloß gemacht ist.

In jedem Topos eine Trope entdecken, heißt dagegen, der faktischen Wendung die Priorität vor dem Datum zu geben, weder das Abendmahl, noch das Geld, noch die Medien für bare Münze zu nehmen und in diesem Geben - Nehmen den Pulsschlag von Leben und Tod zu hören, der auch noch die völlig versteinerten Verhältnisse der alten Welt erzittern lässt. Das heißt, der Spielart der Absenz mimetisch zu folgen und mit keiner Selbstverständlichkeit mehr zufrieden zu sein.

Erkenntnisse nach dem Muster der Umstülpung sind mit den Mitteln des Mittelmeeres, der Méditerranée, des "mare nostrum" nicht zu leisten. Alles, was Griechenland, Israel, Rom und Mekka erarbeitet haben, um das Denken in Form zu bringen und den Glauben klar zu machen und klar zu halten, reicht nicht aus. Man muss wirklich in die Tropen fahren, um zu begreifen, dass die Menschheitsprojekte Projektile sind, die sich gegen alle guten Absichten gewendet haben. Die neue Zuschnitt des Lokalen und des Globalen besteht eben nicht in der Universalisierung Europas, sondern im Begreifen des Vergessens der Genese des Universums. Da wird das doppelte Verbrechen sichtbar, dem das Abendland seine Existenz verdankt.

An der Front des Imaginären, im Scheitern des Denkens passiert ein Selbstopfer des Geistes, das das reale Opfer und das symbolische Opfer wiederholt, welche bis heute die menschliche Geschichte grundieren. Und erst in solcher Wiederholung kann das Opfer enden. Da ist ein Silberstrich im Goldgrund des Sonnenuntergangs.