Patricia the Ripper schlitzt Jack the Ripper auf

Was passiert, wenn eine talentierte Kriminalschriftstellerin viel Fantasie, Zeit und Geld hat?

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Die Menschheitsgeschichte ist so ungerecht, eine Truhe ungesühnter Morde, Schandtaten und anderer Abscheulichkeiten. Was liegt also näher, als sie mit moderner Kriminalistik aufzuklären und der Gerechtigkeit zu übergeben? Walter Sickert gilt als einer der größten impressionistischen Maler zwischen Turner and Bacon. Von den 1880er bis zu den 1930er Jahren war er einer der einflussreichsten Künstler Londons, ein kultivierter Mann mit vielen musischen Talenten. Seine Werke hängen in der Tate und zahlreichen großen Kunstsammlungen. Alles Tarnung?

Krimiautorin Patricia Cornwell ist überzeugt, dass es besser gewesen wäre, man hätte ihn selbst seinerzeit in der "Cut-Purse Lane" am Galgen aufgehängt. Denn die wohl erfolgreichste Thrillerautorin der Welt ist sich jetzt nach einer intensiven Recherche endgültig sicher: Sickert war niemand anderes als Jack the Ripper, das Monster von Whitechapel, der fünffache Prostitutiertenmörder. Als Anreger der "Fitzroy Street Group" ermutigte Sickert junge Künstler, die Magie und Poesie in alltäglichen Stadtszenen zu suchen, London sei das entscheidende motivische Stimulans seines Schaffens. Cornwell weiß dagegen, dass Sickerts Stimulans die Prostituierten von Whitechapel gewesen seien, weniger, um sie zu malen, als sie zu ermorden.

Der Ripper-Mythos lebt von seiner Unaufgeklärtheit, zahlreiche Verdächtige gibt es, sogar ein Geständnis liegt vor. Thomas Cream, ein amerikanischer Arzt, der 1892 für Prostitiertenmorde in Lambeth gehängt wurde, erklärte in seinen angeblich letzten Worten, dass er der Ripper gewesen sei. Die Zweifel sind aber dadurch längst nicht ausgeräumt, weil es noch diverse andere Anwärter auf den Horrortitel des Whitechapel-Killers gibt, über den die diffuse Geschichte ihren blutigen Mantel ausgebreitet hat.

Patricia Cornwell ist besonders prädestiniert, auch diesen Spuren im Dunkel der Geschichte nachzugehen. Cornwell arbeitete als Polizeireporterin, fuhr als Hilfspolizistin Streife und sammelte als Computerspezialistin am gerichtsmedizinischen Institut von Virginia Erfahrungen, um ihrer Schriftstellerkarriere den letzten empirischen Schliff zu geben. Mit ihren Thrillern um die Heldin Kay Scarpetta wurde sie danach zur wohl erfolgreichsten Beststellerautorin der Welt. Kay Scarpetta, das alter ego der Autorin, setzt bei ihrer Arbeit gezielt die forensische Medizin ein und warum sollte so viel Spürsinn für wilde Kriminalgeschichten nur der Fiktion vorbehalten bleiben.

Cornwell hat Walter Sickert posthum gnadenlos verfolgt, zahlte Unsummen, um 32 Bilder des Meisters, einige Autografen und sogar seinen Schreibtisch zu erwerben. Alles diente der lange überfälligen Spurensicherung, aber nicht wie es Carlo Ginzburg nach Giovanni Morellis Methode anriet, um die richtigen Zuschreibungen von Meisterwerken auf Grund unscheinbarer Details zu ermöglichen: "Der Kunstsachverständige ist dem Detektiv vergleichbar: Er entdeckt den Täter (der am Bild schuldig ist) mittels Indizien, die dem Außenstehenden unsichtbar bleiben." (Carlo Ginzburg) Cornwell sammelte die Indizien, um einen höchst prominenten Maler der Kunstgeschichte als nicht minder prominenten Mörder der Kriminalgeschichte zu entlarven.

Leider ließ sich der bluttriefende Ripper-Mythos nicht mit Hilfe der DNA-Methode gegen alle Zweifler entlarven (Vgl. dazu Anastasia screamed in vain). Zwar standen Cornwell auf Briefen, die von Scotland Yard archiviert wurden, DNA-Spuren eines Mannes zur Verfügung, der behauptete, der wahre Ripper zu sein. Aber obwohl Cornwell ungerührt eine wertvolle Leinwand des Meisters auf der Suche nach seiner Identität aufschlitzte, förderte sie keine Künstler-DNA zu Tage. Das Resultat dieser Schlitzereien im bewährten Stil Lucio Fontanas war bisher lediglich, dass die empörte Kunstwelt inzwischen die musische Vandalin als "Patricia the Ripper" denunziert.

Kunstvandalismus, der der Wahrheitsfindung dient, dürfte ein Novum sein, aber "Patricia, die Schlitzerin" ließ sich durch diesen Fehlschnitt nicht entmutigen. Denn trotz des Versagens der DNA-Methode hat Cornwell genügend "Beweise". Sie hat sich auf den Spuren von Sir Ernst Gombrich, Morelli und Carlo Ginzburg auf sensible Bildvergleiche verlegt: Der Künstler habe sich in seinen Werken selbst als Whitechapel-Mörder geoutet, so die Künstlerin. 1909 produzierte Sickert eine Bildserie mit dem (an)sprechenden Titel "Camden Town Murders" die sich auf die Whitechapel Morde von 1888 zurückführte. Eines der düsteren Gemälde zeigt eine nackte Frau, die versucht, einen vor Erregung glühenden, angekleideten Mann abzuschütteln. Cornwells Verdächtigungen stützen sich zudem auf Autopsieaufnahmen von Jacks Opfern, die viele Bildparallelen mit Sickerts Werken aufwiesen. Sickert habe eine morbide Faszination an sexueller Gewalt und insbesondere den Verbrechen des Rippers empfunden. Ein von Sickert gemaltes Bett wäre einem Klappbett unglaublich ähnlich, in dem nachweislich eines der Opfer starb. Auch die Pose einer Frau mit Perlenkette sei identisch mit den vorliegenden Polizeibildern.

Ja, wenn das so einfach ist, dann müsste H.R.Giger längst in lebenslänglicher Sicherungsverwahrung inhaftiert sein, vom richtigen historischen Umgang mit dem Höllen-Breughel oder dem stechfreudigen Hitzkopf Caravaggio ganz zu schweigen. "Dieser Maler malte niemals etwas, das er nicht gesehen hatte", weiß dagegen Cornwell und das hat Sickert nun davon, dass er sich nicht von der Fantasie, sondern vom Leben inspirieren ließ. Cornwell hat just eine Pointe so fest im Griff, der sich schon H.P.Lovecraft in einer seiner Geschichten bediente, die den stupenden Realismus eines Monstermalers damit erklärte, dass sich im Atelier just die Fotos der nächtlichen Ungeheuer fanden.

Virginia Woolf meinte dagegen über Sickert, dass er uns der Schönheit teilhaftig werden lasse. Aber Cornwell weiß mehr als die Zeitgenossen. Cornwells psychologische Expertisen von Sickerts Gemälden und Briefen entlarven "the hallmarks of a psychopath", die untrüglichen Kennzeichen eines Psychopathen. Immerhin ist doch auch der Name "Sick-ert" alles andere als normal! Kunstexperten erkannten in seinen Werken bisher eher einen Pessimisten, der keinerlei psychotische Züge zeige. Auch Sickerts berühmte Badebilder von Dieppe passen so gar nicht in das Bild, das sich Cornwell von der verblendeten Kunstwelt nicht mehr entreißen lassen will. Frau Cornwells auf Mord geeichtes Hirn lässt sich von glänzenden Oberflächen nicht täuschen. Für ihren Roman "Vergebliche Entwarnung" erhielt sie übrigens 1993 den britischen "Golden Dagger Award" - und vielleicht war der goldene Dolch die Inspiration, den toten Meister als Meister des Todes zu entlarven. Der "breakthrough" erschien der fantasiebegabten Autorin jedenfalls, als sie feststellte, dass einer der Bekennerbriefe, die Scotland Yard vorliegen, ein äußerst seltenes Wasserzeichen trug - just das Wasserzeichen, das auch Sickerts Briefpapier aufweist. Und wer es jetzt immer noch nicht glaubt, für den hat Cornwell noch ein weiteres intrikates Überführungsstück parat: Sickert habe einen Penisdefekt gehabt, der es ihm trotz seiner drei Ehen und zahlreichen Affären unmöglich gemacht habe, sich fortzupflanzen. Sollte Impotenz einen Serienkiller gezeugt haben?

Der feine Unterschied zwischen der schriftstellerischen und einer kriminalistischen Spurensuche liegt darin, dass jeder Thriller eine Pointe benötigt, während staubige Polizeiakten auch ohne solche auskommen müssen. Dass das Leben so unpointiert sein kann, ist der Stachel dieser Autorin, die zurzeit ihre ganze Autorität in der Öffentlichkeit mit dieser Recherche verspielt. Sollte Patricia Cornwell ab jetzt selbst gefährdet sein, wenn sie demnächst für die realistisch beschriebenen Untaten in ihren Büchern von der Justiz zur Rechenschaft gezogen wird? Vielleicht hätte Cornwell die Formel Adornos "Jedes Kunstwerk ist eine abgedungene Untat" ja geholfen, ihre Rippermanie noch einmal gründlich zu überschlafen. "Ich habe Träume, die eine anatomisch sehr präzise Vorstellung von Gewalt haben - das ist der Preis, den ich zu zahlen habe," meint dagegen die Verbrechensspezialistin. Die Fans ihrer Thriller müssen demnächst wieder für ihr "Jack the Ripper"-Buch sowie die geplante TV-Dokumentation zahlen, die letzte Klarheiten bringen.

Und wie geht es dann mit Patricias Erzählungen der unaufgeklärten Morde weiter? Da wäre noch Jackson Pollock zu erwähnen, der in der Kunstszene als "Jack the Dripper" wegen seiner spritzig-aggressiven Malweise bekannt ist. Wenn nun dessen rote Spritzer doch für ungesühntes Blut stünden, müsste Patricia Cornwell nur die Akten des FBI aus dieser Zeit wälzen. Irgend ein schäbiger, unaufgeklärter Mord, den man Pollock posthum in die farbverschmierten Schuhe schieben könnte, wartet bestimmt noch auf seinen Autor. Vor allem aber auf dankbare Leser, die bereit sind, Öl mit Blut zu verwechseln, wenn es der Spannung dient...