Der Kampf gegen den stillen Tod

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit kämpfen mehrere hundert politische Gefangene in der Türkei mit einem Hungerstreik gegen die Einführung von Isolationszellen in den Gefängnissen

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Es war schon ein ungewöhnliches Bild. Durch die kaufwütigen Menschenmassen bahnten sich am 22.Dezember ca. 300 Menschen mit einem politischen Anliegen einen Weg durch die Innenstadt von Frankfurt/Main. Sie wollten damit an das Gefängnismassaker erinnert, bei dem vor einem Jahr in 20 türkischen Gefängnissen 28 politische Gefangene ums Leben kamen. Das Militär wollte mit dieser zynisch "Rückkehr zum Leben" genannten Aktion am 19. und 20. Dezember 2000 den Hungerstreik von mehreren hundert politischen Gefangenen gewaltsam beenden, mit dem sie sich gegen die Einführung von Isolationszellen wehrten. Vergeblich, der Gefangenenwiderstand geht nun über 420 Tage weiter und hat mittlerweile 81 Opfer gefordert.

Unter den Toten sind auch Mitglieder der Angehörigenorganisation Tayad. Mit ihren weissen Tüchern, die sie mit roten Bändern um den Kopf geschlungen haben, sind die Tayad-Mütter seit Jahren in den Innenstädten der türkischen Großstädte präsent. Schon vor mehr als 10 Jahren wurden sie als Samstagsmütter weltbekannt, als sie am zentralen Taksimplatz im Istanbuler Geschäftsviertel zwischen Banken und Hochhäusern nach ihren verschwundenen Verwandten fragten.

Die Praxis des Verschwindenlassen von Oppositionellen gehört zwar in der Türkei auch heute nicht der Vergangenheit an, hat aber durch Druck aus dem Ausland abgenommen. Doch die Einführung der Isolationshaft stößt bei den EU-Ländern nicht auf Kritik. Schließlich ist sie in EU-Ländern und speziell in der Bundesrepublik Deutschland schon in den 70er Jahren zur Anwendung gebracht worden, wie in einem kürzlich erschienen Buch unter dem Titel Bei lebendigem Leib. Von Stammheim zu den F-Typ-Zellen nachgezeichnet wird. Begriffe wie Toter Trakt, sensorische Deprivatisation oder Camera Silence zeigen an, dass Isolationshaft eine wissenschaftlich erforschte Methode sind, um die Psyche der Inhaftierten zu treffen.

"Die Isolationshaft hinterläßt Wunden, die man nicht sieht. Deswegen wird hier auch von Weißer Folter gesprochen", schreibt Ilse Schwipper in dem Buch. Sie mußte mehr als 6 Jahre in bundesdeutschen Gefängnissen in Isolationshaft verbringen. Die türkischen Häftlinge und Gefangenen sprechen vom "Stillen Tod", der ihnen in den Isolationszellen drohe. Bisher haben sie in Großzellen gelebt. Auch hier waren die Bedingungen alles andere als ideal. Den entscheidenden Unterschied zu den neuen Gefängnissystem schildert eine ehemalige Gefängnisinsassin so:

"Wenn Du gefoltert wurdest und Du kommst zurück in die Zelle, wirst Du von Deinen Freunden getröstet und aufgerichtet. Wenn Du aber isoliert bist, gibt es niemand, der Dir beisteht. Du bist mit dem Gefängnispersonal allein."

Nur die hier artikulierten Ängste vor dem vollständigen Ausgeliefertsein erklären die Vehemenz und Hartnäckigkeit mit der mehrere hundert Gefangene seit dem 20.Oktober 2000 an ihrem Hungerstreik festhalten und dabei ihr eigenes Leben und ihre eigene Gesundheit aufs Spiel setzen. Mehr als 100 Gefangene sollen durch das Todesfasten und die von der Regierung angeordnete Zwangsernährung irreparable gesundheitliche Schäden erlitten haben.

Natürlich ist es kein Todeskult, der sie treibt, sondern der Wunsch nach einem würdigen Leben. Das geht aus den Erklärungen der todesfastenden Gefangenen eindeutig hervor. "Stellt mein Essen bereit", sagte die bekannte politische Gefangene Sevgi Erdogan, die Mitte Juli 2001 nach 267 Tagen ohne Nahrung gestorben ist. Die Häftlinge kommen aus den unterschiedlichen Organisationen der einst starken türkischen Linken. Es waren Gewerkschaftler, Studentenvertreter, Stadtteilaktivisten, Angehörige von linken Jugendorganisationen. Es reicht schon, ein Flugblatt verteilt oder auf einer Demonstration Parolen gerufen zu haben, um in der Türkei für längere Zeit im Gefängnis zu verschwinden.

Die Erfolgsaussichten für die Hungerstreikende sind momentan alles andere als rosig. Durch die staatliche Repression wird jede Kritik an der harten Haltung des Staates streng verfolgt. Ärzte, Rechtsanwälte und Intellektuelle, die sich mit den Forderungen der Gefangenen solidarisieren, geraten schnell unter Terrorismusverdacht und müssen selber mit Anklagen rechnen. Auch den jüngsten Kompromißvorschlag der türkischen Ärztekammer wurde von der Regierung bisher ignoriert. Der Vorschlag sieht vor, dass tagsüber drei nebeneinanderliegende Zellen mit jeweils 3 Insassen geöffnet werden.

Die Regierung sieht sich in ihrer harten Haltung von dem Verhalten der USA und der EU-Staaten bestätigt. Inzwischen betreibt das Bundesinnenministerium persönlich die Abschiebung des im Gefängnis Butzbach inhaftierten Inan Altun. Der wegen Mitgliedschaft in der in Deutschland und der Türkei verbotenen DHKP-C zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilte Mann ist anerkannter Flüchtling in Großbritannien. In der Türkei würden ihm nach Angaben seines Rechtsanwaltes Berthold Fresenius erneut Gefängnis und womöglich Folter drohen. Sein Bruder ist von den türkischen Sicherheitskräften ermordet worden. Seine Schwester befindet sich im Hungerstreik und wird zur Zeit zwangsernährt.